Als junger Mann hab ich von berühmten Leuten gelesen.
Hätte nie gedacht, dass ich selbst
mich abrackere fast das ganze Leben
nur für diese
paar Dutzend Quadratmeter Schneckenhaus.
It was in 1999,
last year of the 20th century.
The poet Ma Lan
with her American husband,
a Yale professor,
came to visit old Chang’an.
At the Small Wild Goose pagoda
in the teahouse Scented Snow Sea
we had a good meeting.
The Yale professor
of Chinese literature
had a point of view
that opened my eyes
and resonated in my heart,
I had been thinking about this for years.
He said, “In the May Fourth era,
those writers who studied in Japan,
why were they so dominant?”
Today, I am finally in Japan
and I carry this question,
roaming the coast and mountains of Honshu.
Let me think,
let me think it over,
I have enough time to think of an answer.
What was it,
what was it here,
that made them
bury themselves in their work,
lay their life on the line,
fight for truth,
plead for the people
and become the backbone of modern China?
es gibt einen berg der seele
in der mitte einer insel
meer und himmel, oben und unten
dasselbe blau
viel zuviel blau
wir sind auf dem gipfel gestanden
rund um die insel gewandert
und in die feenwelt eingetreten
ganz wie im sprichwort
damals war ich jung und feurig
hab den mund vollgenommen wie nur ein student
ich hab zu dir gesagt: wenn ich
in dem was mir vorschwebt
am ende verliere
dann komm ich hierher
für den rest meines lebens
du hast gelächelt
und geschwiegen
ah! damals im sommer
war ich zweiundzwanzig
zehn jahre danach
war ich ein verlierer auch schon zehn jahre
und hab ganz ruhig als verlierer gelebt
und wollt gar nirgends hingehen
in diesem jahr zehn jahre später
hat dieser verlierer beschlossen
durch und durch als verlierer zu leben
wenn er jetzt zurückdenkt
an diese reise
an den wunderschönen berg auf der insel
bereut er nur eines
warum haben wirs nicht getan
du und ich
in der feenwelt
soviel wir nur konnten
Glaubst du, du bist eine Intellektuelle?
Glaubst du, du bist eine Existenzialistin?
Glaubst du, du magst Zhajiang-Nudeln?
Glaubst du, du sammelst Antiquitäten?
Glaubst du, du gehst mit der Zeit?
Glaubst du, du bist vorwärts gekommen?
Glaubst du, du hast deine Ideale verwirklicht?
Glaubst du, du liebst dein Land?
Glaubst, du liebst die Wahrheit?
Glaubst du, du wagst es, die Wahrheit zu sagen?
Glaubst du, du fürchtest keine Vergeltung?
Glaubst du, du bist eine gute Schriftstellerin?
Glaubst, du bist eine Dichterin?
Glaubst du, du bist eine gute Mutter?
Glaubst du, du bist ein guter Vater?
Glaubst du, du hast schon mal geliebt?
Glaubst du, du hast Anstand?
Glaubst du, Microblogging bringt China voran?
Frage, Frage, Fragezeichen
Glaubst du, man sollte sie anbeten?
Glaubst du, du bist ein Fangirl?
Glaubst du, es gibt Sachen, die darf man nicht sagen?
Glaubst du, manche Leute darf man nicht provozieren?
Glaubst du, deine Romane sind deine Memoiren?
Glaubst du, du bist begabt?
Glaubst du, deine Dinge werden bleiben?
Glaubst du, du hast ein Geheimnis?
Glaubst du, du hast ein großes Herz?
Glaubst du, du bist jedem gerecht geworden?
Glaubst du, du hast Verantwortung übernommen?
Glaubst du, du hast nach den Regeln gehandelt?
Glaubst du, du findest keine Scham in deinem Herzen?
Glaubst du, du hältst dich für unfehlbar?
Glaubst du, du möchtest dich rächen?
Glaubst du, du fürchtest den Tod?
Glaubst du, du kannst sie um den Finger wickeln?
Glaubst du, du wirst ihnen lästig?
Glaubst du, du hast noch ein Morgen?
Glaubst du, du bist schon zurückgeblieben?
Glaubst du, du bist allein?
Glaubst du, was du da schreibst, ist ein Gedicht?
Der Mensch macht einen verrückt
Lass sie sich doch
selber fragen
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek und Martin Winter im Jänner 2015
untertags bilder schießen
und nachts schlaflos sein
im traum mit einem feind
von liebe sprechen
mit einem spion
mit jemandem gleichen geschlechts
zusammen mit dem, der mich streichelt
zusammen mit dem, der mich grapscht
in einem traum da kann kein großes feuer sein
kein schwerer schnee
gefühle besprechen, menschen morden
manchmal stolpert das herz, manchmal bricht‘s
kleider in schreienden farben tragen
schäumender überschwang
und heißes blut
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek & Martin Winter im Jänner 2015
Chun Sue
DREAMING OF LIVING INSIDE A DREAM
taking pictures by day
then sleepless at night
in a dream with a foe
talking love
with a spy
talking love
in a dream, same-sex love
in a dream with the one who caressed me
in a dream with the one who harassed me
talking love, can’t be no big fire
can’t be no great snow
in a dream, making love, shoot to kill
panicking, heart-broken
showing colourful clothes
going round gushing feelings
or gushing blood
2012
Tr. MW, 2014-2015
Chun Sue MORGENS ÜBER DIE CHANG‘AN-STRASSE
Mein kleiner Bruder sagt: Vater, wir sind auf der Chang’an
schau sie dir gut an
Das ist genau die Chang‘an, die du über zwanzig Jahre lang gegangen bist
Ich sitze beim Vater, beim kleinen Bruder
Fast beginn ich zu weinen
Jetzt erst weiß ich
warum ich diese Straße des ewigen Friedens mag
Langsam, langsam fährt das Auto am Militärmuseum vorbei
an den roten Mauern von Zhongnanhai
am Xinhuamen
Papa ist klein jetzt, er ist eine Urne
die steht zwischen uns
die braucht nicht viel Platz
Das Auto fährt am Tian’anmen vorbei
und ich sehe
wie er auf dem Platz steht
und uns zusieht, wie wir vorbei fahren
Wie soll ich nur über dich schreiben
Du Sohn eines Bauern
Auch ich bin in einem Dorf geboren
Auch ich bin das Kind eines Bauern
Ich lege für dich eine Nacht lang Armeelieder auf
schluchzend und schreiend –
das mag ich auch.
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek & Martin Winter im Jänner 2015