Im WeChat
tauschen positive Nachbarn Erfahrungen aus.
Einer sagt,
“Ich hab so hohes Fieber gehabt,
ich war ganz dumm im Schädel.
Ich hab immer an Dr. Li gedacht,
dem ist es sicher noch schlechter gegangen,
so schade.”
“Welcher Dr. Li, Li Wenliang?”
“Ja! Genau der.”
Ich liebe das Meer
hab aber nicht genug Mut
mich bedenkenlos hineinzuwerfen.
Die Wellen branden
und brüllen,
wollen mich zerreißen.
Ich verbeug mich vorm Meer,
dreh mich um und renn zu dir,
und wenn es mich umbringt.
I am stuck in time,
people are stuck in time,
because of the virus,
because someone
cannot lose control.
They lost control
over two years ago,
also 19 years ago
in 2003.
Let’s pretend it’s not that bad
worked so well back then,
worked so well everywhere
again and again.
Now people are
also stuck in a war.
What a wonderful year!
The pandemic has brought original problems out for all to see very clearly War has brought original problems out for all to see very clearly and even faster economy problems society problems relationship problems ordinary people what can they do? we need to help each other that’s clear for all to see what else can we do? we thought society as it was economy as it was relations as they were would go on like that nothing could stop it well, we were wrong
MW April 2022
PROBLEME, DIE DA WAREN
Die Pandemie bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus. Der Krieg bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus, und zwar noch schneller. Die Wirtschaft, die da war. Die Gesellschaft, die da war. Die Beziehungen, die da waren. Was können die Leute da tun? Wir müssen einander helfen, das ist auch ganz klar. Was kann man noch tun? Früher haben wir geglaubt, die Gesellschaft, die da war, die Wirtschaft, die da war, die Beziehungen, die da waren, das geht immer so weiter, das hält niemand auf. Das ist gar nicht so, da kommt man halt drauf.
I have begun to write with a brush,
and to save paper,
found a big heap of old news.
They call it old news,
actually it doesn’t look like anyone read it.
I think I haven’t read papers in over ten years.
While I’m writing,
I am reading some headlines.
These great thick characters,
they’re influencing me.
Translated by MW in September 2021
Mo Gao ALTE ZEITUNGEN
In letzter Zeit schreib ich gern mit dem Pinsel.
Um Papier zu sparen,
hab ich einen Haufen alter Zeitungen gefunden.
Alte Zeitungen,
sie schauen aber gar nicht gebraucht aus.
Hab auch über zehn Jahre keine Zeitung mehr in der Hand gehabt.
Beim Üben mit dem Pinsel
schau ich ein bisschen die Schlagzeilen an.
Diese dicken, groben Zeichen,
die haben Einfluss auf mich.
Ich komm zurück vom Meer,
der behinderte Sänger
singt auf dem Damm,
Brennende Liebe, ich mag das Lied.
Er hat lauter Tränen im Gesicht.
Wieviele Geschichten hat er hinter sich?
Ich bleib stehen und warte, bis er fertig ist.
Ich hab auch lauter Tränen in meinem Gesicht.
Wie viele Geschichten hab ich hinter mir?
Ich schau auf den Boden, scan seinen Barcode,
und geb ihm fünfzig Yuan.
Ich zahl die Rechnung für die Traurigkeit.
in seinem Bergwerk
gibt es die Frau von einem Bergarbeiter,
die ist arroganter als er selber.
Am Mahjong-Tisch
stellt sie die Steine auf,
“Was? Ich Alte kann mir nicht leisten,
50 Yuan zu setzen?
Mein Mann fährt hinunter, an einem Tag
bringt er 300 Yuan heim.
Wenn er zum Hundsfott nicht zurück kommt
krieg ich in spätestens drei Tagen
600.000 Yuan Entschädigung
auf die Hand!”
Beim Wenchuan-Erdbeben 2008
wurde die Frauen- und Geburtsklinik von Shifang gefährlich beschädigt.
Die vielen Frauen hat man nebenan in den Tempel der Arhats gebracht,
108 Kinder kamen sicher zur Welt.
Meister Suquan ließ zwei Altäre aneinanderstellen,
als Operationstisch und Krankenbett.
Im Tempel wurden sogar Hühner geschlachtet,
für schwangere Frauen.
Nach den Regeln
waren Frauen verboten,
Blut war verboten,
Fleisch war verboten.
Heute vor elf Jahren
haben wir uns den Trauschein geholt
für neun Yuan.
Zusammen mit dem Grundbuch der Wohnung
sind die beiden Scheine
nun um ein Vielfaches aufgewertet.
2021-05-27
Übersetzt von MW im Juli 2021
Wang Yilan, geb. 1985, wohnt in Qinhuangdao. Seit Ende 2020 Mitglied der Aofu Poetry Society. Liest immer schon gern, schreibt alles Mögliche. 《新诗典》小档案:王乙蓝,1985年生人,现生活在河北秦皇岛,对文字一直有深刻的热爱,喜欢阅读各种书籍,平时也写一些说不上什么类型的文字,2020年底加入傲夫诗社开始接触口语诗,进而开始这方面的创作,有诗作发表在一些诗歌公众号。
Riyue Niannian ICH WOHN NICHT GERN IN DER HÄMATOLOGIE
Es wird erst hell, ein Wagen wird hinausgeschoben.
Noch ein Wagen wird hinausgeschoben.
Ich versteck meinen Kopf im Bett,
hör immer noch auf dem Gang die Räder,
das furchtbare Quietschen am Boden, die Schritte des Personals
wirr hin und her, den Lärm und das herzzerreißende Schluchzen.
Nachher …
totenstill.
Mein Kind ist krank, das rennt in mir herum,
lässt mich nicht atmen.
Sie schieben wieder einen Wagen hinaus,
weiß zugedeckt.
Die Erwachsenen in der Hämatologie
halten die Kinder ganz fest.
Ich bin zurückgefahren zum Begräbnis,
da hab ich noch nicht gewusst, dass es im Dorf
möglich ist, Verstorbene im Eiswasser-Kristallsarg
zu sehen. Aber niemand ist hinter den Opferaltar
gegangen und hat die Tante im Kühlsarg besucht,
nicht einmal ihre Kinder.
Ich bin hingegangen,
bin lange bei der Tante gestanden,
mir sind die Tränen heruntergeronnen.
Ihre Kinder haben sich gewundert,
haben fast gefragt:
wieso trauerst du mehr als wir?
Sie kommen nie darauf, als ich klein war,
und Mama war nicht da,
ich hab die Milch von der Tante getrunken.
Ich war das erste Mal bei der Arbeitsstelle von meinem Mann bei einem Symposion. Wollt einen guten Eindruck machen, hab geschwankt zwischen vielen Sachen zum Anziehen, dann etwas gewählt, ich glaub, attraktiv und seriös. Dann wieder daheim beim Ausziehen seh ich, unter der leicht durchsichtigen Bluse trag ich zwei BH, schwarz und weiß. In der Hitze in dieser Sitzung den ganzen Nachmittag hab ich gar nichts gemerkt.
Bevor sie gewählt wurde
hab ich sie gefragt, erinnerst du dich
wie vielen Patienten hast du von deinem eigenen Geld Essen gekauft
wie viele Feiertage hast du im Krankenhaus verbracht
wie oft haben sie dich in der Nacht zurück gerufen
wie oft hast du auf dem Weg in den Urlaub
auf dem Weg zum Familientreffen
den Anruf gekriegt, dass du sofort zurück musst
Sie hat nicht überlegt,
nur scharf gesagt
wenn ich satt bin
was soll ich mich erinnern
ich hab gelacht,
du weißt sicher nur dass dein ex-freund
angst gehabt hat dich zu küssen
du hast ihn beatmet wie einen notfall
Sie sagt
das geht noch
ich war selber schuld, war zu jung
in meinem kopf waren lauter patienten
wenn ich von einem mann sein ding gesehen hab
hab ich gedacht er kann nicht pissen
ich muss einen katheder legen
Ich war klein.
Eines Tags hat es groß geschneit.
Ich hab draußen vor der Tür
einen Schneemann gebaut,
mit schwarzen Knöpfen
als Augen.
Am nächsten Tag in der Früh
bemerk ich ein Knopf ist weg,
als wär er ganz von selbst fortgeflogen.
Ich will grad rufen „Einäugiger Schneemann!“,
hab noch nicht „ein“ gesagt,
da halt ich mir schon
den Mund zu.
Denn neben mir
steht
groß und ernst
mein einäugiger Vater.
Eine Freundin
hat mir
eine Gesamtausgabe
von Lu Xuns Werken geschenkt.
Schön gebunden,
ich war sehr froh.
Es war das erste Mal,
dass mir ein weibliches Wesen
Schriftwerke verehrt hat.
Später hab ich erfahren,
dass sie die gleiche Ausgabe
auch einem anderen Freund geschenkt hat.
Da wars mir dann
nicht mehr so kostbar.
Und ich hab mir gedacht,
wahrscheinlich war das Geschenk
zum Ausgleich,
weil ich damals
mit ihr Essen einkaufen war
und für uns beide bezahlt hab.
Nachher hat sie mir gesagt,
sie hat fünf Gesamtausgaben
an fünf Freunde verschenkt.
Dann hat sie mir ernsthaft erklärt,
„Mir fehlt es nicht an Männern.“
Die alte Tante vom Westen im Dorf
ist groß und stark wie ein Pferd.
Ihr Spitzname ist „Fette Heuschrecke“.
Erwachsene Leute sagen,
zum Gräbertag im Hungerjahr
war sie beim Grab von der grad verstorbenen Oma.
Der ganze Friedhof war totenstill,
sogar der Wind war kraftlos vor Hunger.
Nur sie
hat geheult, dass es Himmel und Erde schreckt,
„Aii ah, meine Mama —
iih, eine fette Heuschrecke da!“
Den zweiten Satz hat sie gesagt,
nachdem sie dreimal gekreist ist ums Grab
bis sie eine Heuschrecke erwischt hat.
Andere Leute zwischen den Gräbern
wollten lachen
und haben doch nicht gelacht.
In einer Stadt in Europa
auf dem Stadtplatz,
vor den Springbrunnen
kommen NPC – Dichter.
Ich sag zu Ma Fei:
“Ich bin grad im Traum,
Springbrunnen hab ich
imTraum am häufigsten
gesehen.
Also träume ich!”
Mai 2021
Übersetzt von MW im Juni 2021
《梦(1776)》
伊沙
欧洲某国某城
城市广场
喷泉前
《新诗典》诗人
来也
我对马非说:
"我在做梦
喷泉是我
梦见过的
最多的东西
说明我在做梦"
2021.5
Yi Sha TRAUM 1780
Preisverleihung 10 Jahre NPC
findet in Beijing statt.
Meine Beijing Normal University,
meine Studentenzeit, 1500 Plätze,
Halle der Wissenschaft und Kultur
Ich bringe Preise mit,
aber drei zuwenig.
Vielleicht daheim vergessen?
Muss sie holen, zurückfliegen,
aber zuerst ruf ich Mama an.
Ah! Damals lebt Mama noch!
Wenn was nicht klappt, wird jemand sagen:
“Nicht gleich aufregen,
wird nicht so schlimm sein.”
Ein Baum
dreht seine Blätter
wie ein Mensch
seine Augen verdreht
weil zugleich
Sternschnuppen und Fische
am Horizont sind
Übersetzt von MW am 31. Mai 2021
Li Zeyu, geb. im Juli 2010, geht in die 5. Klasse in Shenzhen. Liebt Poesie, hat schon bald 3000 Gedichte geschrieben. Manche sind publiziert und haben Preise gewonnen. 《新诗典》小档案:李泽宇,2010年7月出生,现就读于深圳市光明区楼村学五年级。热爱诗歌,迄今已创作诗歌近三千首,有作品发表及获奖。
Im Traum hab ich gekündigt,
hab mich wegen einer Kleinigkeit aufgeregt
und wirklich meine Stelle verlassen.
Hab mein Lohnverhältnis aufgekündigt
und mich verwandelt von einer Angestellten in eine haltlose Landstreicherin.
Ich war recht aufgewühlt,
wie sollt ich Geld verdienen,
mit Schreiben oder mit Schweine hüten,
das war die Frage.
Oder erst einmal weniger Kleider, weniger Essen.
Hab mir das restliche Leben ungefähr ausgerechnet,
herumstreifen mit der Wohnungsablöse,
satt und warm werden vom Bücherschreiben?
Lieber zuerst gründlich überlegen,
wie groß das Risiko jeweils sein mag.
Ich überwinde die Hemmung, geh mein Bettzeug abholen,
aber auf meiner Lagerstatt schläft eine Neue.
Ich will nachfragen, aber mir wird bewusst,
ich gehöre nicht mehr zu ihnen.
Nehm meine Tasche, zieh mich zurück
und hör die anderen hinter mir reden,
“sie sieht schon aus wie zehn Jahre älter”
Geh möglichst wenig aus untertags,
lange stehen unter der Sonne
macht dich am Hinterkopf schwarz.
Auch möglichst nicht dort wohnen, wo es warm ist,
die Lust, auszutreiben
musst du unterdrücken.
Außerdem darfst du nicht schlaflos werden von den Maschinen Tag und Nacht,
ja nicht in Panik
diskutieren.
In unseren Körpern gibt es Stärke,
das ist unvermeidlich.
Also mach dir nicht dauernd alle mögliche Sorgen,
Kartoffel werden sonst sauer.
Übersetzt von MW im Mai 2021
Xiao Jiao, eigentl. Li Hua, geb. im August 2003 Im Dorf Feng bei Ulan Cha, Innere Mongolei. Konnte aus Familiengründen nicht in die Schule gehen, lernte u.a. bei ihrem Opa schreiben und lesen. Veröffentlichte Gedichte und Prosa in mehreren namhaften Zeitschriften und im “Jahrbuch der Poesie 2020”. Mag Xiao Hong, Lu Xun und Wang Xiaobo. Sie ist eine dekadente Person.
Die Sonne strahlt,
die Vögel singen.
Mutter sagt,
ich war den ganzen Winter im Bett!
Er ist auch schon 70,
weiß genau, wovon sie redet.
Mit der Hand durch den Raps fahren im Wind,
Weizensprossen sehen im Feld,
die Erde riechen.
Also nimmt er sie auf den Rücken,
genau wie sie ihn, als er klein war,
so gehen sie hinaus.
Übersetzt von MW im Mai 2021
Yuancun Zhizi, Künstlername von Liu Changqian. Geb. in den 1970er Jahren im Kreis Feidong, Provinz Anhui. Mittelschullehrer auf dem Land, liest gerne, schreibt ein bisschen. Seit 2021 Mitglied der Aofu Poetry Society. 《新诗典》小档案:远村之子,本名刘昌前,男,70年出生,安徽省肥东县人,乡村中学教师,课余喜欢阅读,偶尔写一点。2021年元月加入傲夫诗社。
Meine Mutter hat nie das Gebirge verlassen, also natürlich auch nie das Meer gesehen. Dieses Mal ist sie wegen ihres schweren Augenleidens nach Xiamen gekommen.
In der Nacht vor der Operation, obwohl ich genau weiß, dass sie gar nichts sieht, besteh ich darauf, bring Mutter zum Strand. Wellen hören, Wind blasen lassen.
Übersetzt von MW im Mai 2021
Ou Desi, geb. in den 1970er Jahren, kommt aus Sanming, Provinz Fujian. Mitglied der Aofu Poetry Society. Einfacher Volkspolizist, dauernd beschäftigt, schreibt, wenn er kann. 《新诗典》小档案:藕的丝,男,福建三明人,傲夫诗社成员,70后基层公安民警,平常工作琐碎、繁忙,闲暇之余写写诗。
Im Konflikt Israel – Palästina
schein ich die ganze Zeit
auf der Seite von Israel zu stehen
aber dann find ich endlich
einen palästinensischen Film
und ich bin irrsinnig froh
Mai 2021
Übersetzt von MW im Mai 2021
《我的态度》
伊沙
巴以冲突
我似乎一直站在
以色列一边
可是好不容易
搜到一部
巴勒斯坦电影时
我又是多么欣喜
2021.5
Yi Sha FILM AUS PALÄSTINA
In Gaza
graben die Leute
Tunnel
bis nach Ägypten
aber
was haben sie
der Welt
zu verkaufen?
Not und Elend
gefiltert
durch singende Kinder
im Chor
Not und Elend
Die Welt hört es gern
Cool! Rennende junge Burschen in unendlich weiten Ruinen!
Mai 2021
Übersetzt von MW im Mai 2021
《加沙》
伊沙
酷!在轰炸造成的辽阔的废墟上跑酷的少年
2021.5
Yi Sha GAZA LIED
unser land
war noch nie
in den bergen und flüssen
immer wieder zerschlagen
zerschlagen bis es nicht schlimmer geht
die kinder
spielen wieder fröhlich
sie wissen nicht
wie auf der welt
andere kinder
leben mögen
hinter der mauer
Er nimmt einen Stein,
schleudert ihn über das Wasser des Beckens,
acht Mal springt er weiter.
Seine Freundin nimmt einen Stein,
sie schafft es zwei Mal.
Ich schleudere auch einen Stein,
„klunk“
macht es, einfach nur „klunk“.
Die Fische im Becken, die im Meerwasser aufwachsen,
warten Tag für Tag, Nacht für Nacht auf die Wellen,
zweifeln an ihrem Meer Nacht für Nacht, Tag für Tag.
2021-01-31
Übersetzt von MW im Mai 2021
Zhou Fangru
I AM DOUBTING AND WAITING
He picks up a small rock,
flings it over the pond,
it splashes eight times.
His girlfriend picks up a rock,
two splashes.
I also pick up a stone and fling it,
“plonk!”
and that’s all, just one “plonk”.
The fish in the seawater pond
wait for waves day by day, night by night.
Night by night, day by day they are doubting the sea.
Wohin soll ich noch fliehen?
Dörfer sind keine Dörfer mehr, auch in den Bergen
kann man sich nicht verstecken. Kann nur hier warten,
Schafott oder sonst ein Schicksal. Der Zug
steht am Bahnsteig, die Leute schauen aus den Ritzen,
beneiden mich wahrscheinlich. Ich dagegen
beneide die flatternden Spatzen,
die Wolken, die reinen Asketen, die sich bald auflösen.
Weiß keinen Ausweg, dreh mich im Kreis,
denk mir das Ende ist mir ganz klar, aber dann
wein ich doch. Bin noch verwirrt,
über den Augen sitzen nur Weißkopfraben,
Köpfe am Stadttor, krah krah.
In der ersten Lebenshälfte
steigt das Wasser an,
die Flut steht jeden Tag höher,
du siehst dich mit fallenden Blüten im Spiegel,
von fahrenden Schiffen
fühlst du dich gezogen.
In der hinteren Lebenshälfte
geht das Wasser täglich zurück,
die Flut steht jeden Tag weniger hoch,
die Knochen, die Steine, aufrichtige Worte
werden wie Pflastersteine
nacheinander recht deutlich.
Die Nacht wird immer finsterer.
Ingenieur Guo sagt zu Ingenieur Gao,
ich möchte nicht mehr rauchen.
Ingenieur Gao sagt, nichts leichter als das.
Zieht Lederhandsschuhe an,
geht in die Werkstatt,
bringt einen halben Becher Flüssigsauerstoff,
minus 183 Grad Celsius, blasses Blau,
nimmt die Zigarettenschachtel von Guo,
taucht sie ein,
holt sie mit der Grillzange raus,
wirft ein brennendes Zündholz hin.
Bumm!
Ein weißer Blitz
und die ganze Packung ist weg.
Ein alter Dichter
vermachte zu Lebzeiten seine Sachen
als es ihm noch ganz gut ging
dem Museum moderner Literatur
um rechtzeitig
einen herausragenden
Platz zu erhaschen.
Meine Uroma
hat sechs Kinder geboren.
Bei jedem hat sie im Tempel
100 Teigtaschen geopfert,
für die Kinder gebetet,
langes Leben, Gesundheit.
Uroma war Pächterin,
Getreide war knapp,
die Teigtaschen waren
in Daumengröße.
Den Gottheiten waren
die Teigtaschen vielleicht zu klein.
Von den Kindern
ist eines 18 geworden,
das kleinste nur 6,
sie sind alle gestorben,
nur eines von ihnen
ist alt geworden,
meine Oma.
Mutter hat ein rasches Temperament.
Als Arbeiterin
hat sie sich am meisten angestrengt.
Wenn der Chef nicht da war,
hat sie genauso um ihr Leben gearbeitet,
bis sie nicht mehr konnte.
Auch wenn der Chef gekommen ist,
hat sie sich dann ausgeruht.
Jedesmal wenn sie davon erzählt,
ist es nicht,
um zu zeigen, wie ehrlich sie ist.
Sie will mich warnen,
man muss die Situation im Auge behalten.
Beim Arbeiten muss man aufpassen,
sonst geht es einem wie ihr.
Sie war ihr ganzes Leben nur Arbeiterin
und ist immer kränker geworden
und früh in Krankenpension gegangen.
Nachdem Vater von uns gegangen ist,
nicht einmal zwei Jahre später ist Mama gegangen.
Beim Aufräumen von ihren Sachen,
im Kleiderkasten
entdeck ich eine Flasche Schlafmittel,
eine volle Flasche.
Weiß nicht wie lange sie gebraucht hat
um so viel zusammen zu kriegen.
Wär ich nur die paar Jahre
bei ihr eingezogen,
hätt ich bei ihr gewohnt,
vielleicht
wär sie jetzt noch da.
Die heißen Sommertage sind da.
Die Schule verbietet
das Schwimmen im Fluss.
Am Nachmittag am Schultor
kontrolliert der diensthabende Lehrer.
die nackten Arme der Jungen.
Er zieht einen leichten Strich
mit einem Fingernagel.
Die Jungen, bei denen nichts zurückbleibt,
rennen Hals über Kopf in die Klasse.
Die Jungen mit einem weißen Strich
müssen in der Sonne stehen und nachdenken,
bis es zum Unterricht läutet.
Der österreichische Dichter und Übersetzer Martin Winter hat mir ein Buch geschickt, es steckt ganz starr in meinem Briefkasten fest. In Hamburg hat sich die Corona-Situation weiter verschlechtert, mein Briefträger hat wie alle keine Lust, an der Tür zu klingeln und mir ein Päckchen in die Hand zu geben. Also stopft er es in den Schlitz, soweit es hineingeht, lässt es hängen und trollt sich. Ich zieh wie zehn Zugochsen, krieg es heraus und reiß es gleich auf. Ein sehr dicker Gedichtband, über 500 Seiten, von einem kleinen österreichischen Kunstverlag. Das Buch ist auch deshalb so dick, weil es zweisprachig ist. Auf Chinesisch heißt es Xin Shiji Shi Dian, auf Englisch New Century Poetry Canon, abgekürzt NPC. Und NPC ist auch der Titel auf Deutsch, Neue Poesie aus China, übersetzt von Martin Winter. Martin hat mir vor langer Zeit erzählt, dass er jeden Tag ein chinesisches Gedicht übersetzt, ich hab nicht geglaubt, dass er es ernst meint. Jetzt liegt das Buch vor mir, auf der linken Seite ist das chinesische Original, auf der rechten Seite Martins Übersetzung, man kann es zusammen lesen und vergleichen. Ich kenne nur Bei Dao, Chun Sue und Han Dong, alle anderen sind mir fremd.
Unsere Nachbarn renovieren,
die Hofmauer und das Tor werden wie in Europa.
Das Steinlöwenpaar, die sind überflüssig,
sie liegen beim Kieshaufen gegenüber.
Wenn es regnet, sieht man verweinte Gesichter.
Meine Frau sagt, wir sollten mit den Herrchen verhandeln,
die Steinlöwen könnten vor unserer Tür stehen.
Ich sag, das geht nicht,
die Steinlöwen sind schon lange bei denen,
die haben eine Seele.
Elderly people
live in the white house.
They have not come outside.
Trees grow on the hill,
black carp swim in the pond.
From the white house on lush green grounds,
odd-looking elderly people near the end of their lives
walk out at night, holding on to each other.
Under the stars
they curse me
and the green trees
and the frolicking fish.
Ich möchte ein Chamäleon sein,
verschwinden, egal wo und wann.
Wenn Mama mich Musik üben lässt,
Hausaufgaben schreiben,
für Prüfungen lernen
kann niemand mich finden.
Feuer machen und Wasser kochen,
seit Opa am Feld nicht mehr arbeiten kann
macht er das jeden Tag.
Auch im Sommer,
der große Herd auf dem Hof
muss ordentlich brennen,
dann sitzt er am Tor, wo es kühl ist.
Ich frage Opa,
so ein heißer Tag,
wieso machst Du Feuer?
Opa lacht und sagt,
er ist es gewohnt.
wieder ein wagen wieder ein wagen
fährt auf die wiese der nachhilfeschule
bis
ein langer stein eingedrückt und aufgestellt ist
und dieser kahle rasen
hat endlich
einen grabstein
Rehe sind wieder da,
in Paaren, in Herden.
Dieser Wald gehört eigentlich ihnen,
ich bin nur eine Zeit lang zu Gast.
2020-11-24
Shi Jian, geb. 1962 in Beijing, ging Ende der 1980er Jahre nach Kanada zum Studium, arbeitete dort, ging Ende der 1990er Jahre in die USA, arbeitet in einer internationalen Firma. Schreibt seit 2020 Gedichte in Alltagssprache, hat in Tianjin eine internationale Ausstellung von Photographie und Poesie mitorganisiert. 《新诗典》小档案:石见,1962年生于北京,八十年代末去加拿大多伦多留学工作,九十年代末去美国,于跨国企业任职体验设计总监,曾经从事的工作有纪录片编导、翻译、服装设计师及色彩设计师。
2020 年开始写口语诗,并翻译诗作,是国际跨界诗人沙龙成员,摄影作品和诗作曾经参加2020年中国天津摄影周先锋诗人跨界影展。喜爱旅行、摄影和茶。
Zwei Mäuse, zwei Ratten!
Eine auf der Kommode,
eine unter der Kommode.
Sie schauen vom Fell her
beide nicht gut aus,
wie nass vom Regen,
oder sie haben
was Schlechtes gefressen.
Hocken da, rennen nicht weg.
Hab noch nie eine totgeschlagen,
aber
dieses Mal,
die schaut krank aus,
fürchte, die wird nicht entkommen.
Nehm einen Stock,
erwisch die eine,
jag die andere,
aber
die kanns noch,
kann immer ausweichen.
Ich schlag mich ganz wach,
aber sie krieg ich nicht.
0 Uhr,
Feuerwerk prasselt von weitem
wie kochende Suppe,
Abschiedsfeier
der Ratte.
Auch der Bettler schaut sich die Leute an,
eigentlich ist das seine Technik.
Ich geh an der Hand von Omi vorbei,
er verschwendet auf uns keinen Blick.
Neben uns geht eine feine Dame,
er schüttelt die Gelddose um sein Leben.
Ich war fast 40,
da haben wir in Kalifornien legal eine Leihmutter gefunden,
einen Sohn und eine Tochter bekommen, beide gesund.
Bei verschiedenen Gelegenheiten,
wenn dieses Thema zur Sprache gekommen ist,
hab ich allen anderen von der Erfahrung erzählt.
Fünf Familien
haben sich so auch ihren Traum erfüllt.
Assistierte Reproduktionstechnik
gibt wie jede andere medizinische Behandlung
den Menschen, die sie brauchen
zusätzliche Möglichkeiten, und eine Wahl.
Und wenn ich mein Herz ausschütte,
dann nur in der Hoffnung,
dass weniger Menschen das durchleben,
die Verzweiflung und Hilflosigkeit,
die ich gehabt hab,
gegenüber dem Untersuchungsbericht.
Ein Geländewagen
mit blinkenden Lichtern,
ein großer Mann steigt aus.
Der ist wirklich hochgewachsen,
sicher über 1-85.
Aus dem Kofferraum
nimmt er einen Rollstuhl,
dreht sich um, macht hinten eine Tür auf,
hebt jemanden heraus.
Ich sehe ein sehr kleines Paar Schuhe,
denk es muss ein Kind sein.
Bis er sich wegdreht,
dann seh ich es ist eine alte Dame,
wahrscheinlich seine Mutter.
Sie ist wirklich klein,
nimmt im ganzen Rollstuhl
nur den halben Platz ein.
Die Wohnstätte des Dichters Lu Xun,
an einem bedeckten Tag.
Ich betrete den Hof.
Um zu verstehen,
wo unser Lehrer der Moderne geschlafen hat,
frag ich einen Wächter:
„Wohin ist Süden?“
„Sag ich Ihnen nicht!“
„Wieso?“
„Ich bin Wächter, kein Führer!“
„Ich frag Sie ja nur
nach der Richtung!“
Der Wächter zeigt in eine Richtung:
„Ich sag Ihnen nur,
dort geht die Sonne auf!“
Meine Tochter und ich, wir stehen im Wind an der Station. Sie nimmt meine Hand, führt sie an ihre Nase, reibt hin und her, legt ihren Kopf schräg, sagt: „Du hast etwas von Omi geborgt.“ „Was hab ich geborgt?“ „Den Knoblauch, nach dem ihre Hand riecht.“ Ich streichle sie am Kopf. „Keine Sorge, wenn Omi zu uns kommt zum Frühlingsfest, geb ich ihr das zurück.“
Meine große Schwester und ihr Mann
kommen nach Chongqing zurück auf Besuch.
Bevor sie wieder abreisen, machen wir
zum ersten Mal mit Vater und Mutter
ein „offizielles“ Familienphoto.
Bei genauer Betrachtung fällt mir auf,
im Lächeln von Vater kann man deutlich sehen,
dass er gerade erst operiert worden ist.
Der Mann neben meiner Schwester
ist auch nicht ihr erster.
Meine kleine Schwester und ich,
wir sind nacheinander wieder Single geworden.
Von meinen kleinen Brüdern trägt der große schon Altersgläser,
der ganz kleine hat ein Bein verloren.
Auf unserem Weg weiter ins Alter
weiß ich nicht, ob der Freund meiner Tochter
und die Freundin von meinem Neffen
schließlich am Ende mit uns gemeinsam
zur Familie gehören.
Every time I wash myself, I always pick up the comb and face the mirror, wanting to comb – all this hair I shaved off completely, working at home, cleaned off three hundred or thirty strains of pain, as the Buddha says.
He really doesn’t know anymore how to say it, the comb cannot abandon the head,
or the other way round.
The France I used to like has disappeared, Paris is thronged with people from places very far away from the outskirts of Gaul. The America I used to love has gone back into the movies. Many people who live there now are villains from fiction, Robert Penn Warren, William Styron, Faulkner and Steinbeck. Hemingway characters have been condensed into fairytales. And those bumpkins ridiculed by Thomas Wolfe, they would like to hold the world by its throat as a matter of course. I am thinking of Ellery Queen, Bogart, Jack Nicholson and all sorts of Pacino, standing between shadows and light, DeNiro people. I am not sure whether the lives described by the great Annie Proulx and Ring Lardner have really existed. If it really was like that, then Philip Roth and Salinger, those two masters, they didn’t have it any easier than Bernard Malamud or myself. The Britain I liked and also hated, the world of Dickens, Hardy, Emily Brontë, Evelyn Waugh, also the world of Guy Maddin. Chaplin and Hitchcock, they came from England, no matter if they thought of it as their grandmother‘s home or whatever, that kind of world is gone, no-one can go back to it. Italy, of Umberto Saba’s bitter poetry, of Tornatore’s splendor, Fellini’s ghosts and deities, a world has gone under but another world has not risen. Poor Barcelona, poor Spain, aside from Messi, what else can you make me think of? The bullets shot at Lorca? Thick smoke covers Cervantes and Unamuno. But you are singing, saying what does this have to do with you? As you go north, farther north, everywhere north in the world you’ll run into people drinking forever. They are crawling out of Ibsen, Hamsun, Dostoyevski’s White Nights, Crawling all the way till today until half of what Solzhenitsyn described is gone. I really don’t know if this is a good thing or not. Neither Tolstoy nor Maupassant nor the wisdom of Martin du Gard can advise me. Old Hesse stares into the distance with his Steppenwolf eyes and doesn’t speak. At this time everyone can understand a little why Stefan Zweig and Richard Strauss broke down. Bukowski didn’t care about any of this, he drank a bottle and went on writing. Pasternak screwed up his horse face and stared at a row of trees in the snow. Wandering souls drive their chariots, circling and circling, soundlessly crushing expectations and fear; crushing Nietzsche and Stephen Hawking, actually all of this can be seen to belong to Stephen King. But it’s ok, just be glad it’s still ok, food is eaten, television’s turned on. Ineffective dreams are about to start, about to start again. You will wake up, we will wake up, from utter sadness, wake up to enter indefinite nights, poisoned days. Yes, everything definitely indefinite. Let us clear away this forest, let us see the distance in the past. Not so we can see the past, but so we can see once more the distance we longed for.