Die letzten 20 Jahre
hab ich mit Leuten aus Hongkong verkehrt,
mit Leuten aus Taiwan,
mit Leuten aus den USA,
mit Leuten aus Japan,
mit Leuten aus Großbritanien.
Alle sehr höflich,
verbindlich,
demokratisch.
Ich komme gut mit ihnen aus
und umgekehrt.
Dann dreh ich mich um. Manchmal hab ich
eine Art von Überlegenheit herausgehört,
das alarmiert mich.
Wenn ich mit Leuten aus Burma verkehre,
alarmiere ich mich selbst.
Wer aufgestanden ist, soll nicht mehr knien.
Wer aufgestanden ist, soll Leuten aufhelfen, die noch knien.
Ich hab Studierende aus der Ukraine unterrichtet.
Es waren die schönsten Frauen in meinen Stunden.
Gesichter wie aus Marmor geformt.
Große Augen blinken wie blaugraue Seen.
Ich will nicht, dass alles im Krieg ruiniert wird!
Ich war in Russland.
Herrlich grüne Matten bis zum Horizont.
Zwiebelturmkirchen mit Glockenklängen.
Keine Toilette. Quietschende Aufzüge.
Ich will nicht dass der Krieg alles schlimmer macht!
Achmatovas Grab an der Kerkermauer hat immer frische Blumen.
Das Puschkin-Cafe ist stets überfüllt.
Der Flugplatz, die Straßen nach Dichtern benannt.
In der Dunkelheit fliegen Krähen, ich bete.
Lass den Klang der Gedichte die Kanonen aufhalten!
people are the same anywhere
anytime, although progress
is very very precious
you don’t have to be a poet
to realize people and animals
and plants and the sun
and the earth should be respected
sometimes it’s nice to root for a place
even a continent maybe
but to begin a war is wrong
especially if you are big and strong
you don’t have to talk about the war
it’s close, but not that close, thank god
we talk about each others’ lives
we are all thankful we’re not in Shanghai
art is good, pictures, music, words
to meet each other and care for another
to read, to listen, to eat and to drink
life is very precious
take care
The pandemic has brought original problems out for all to see very clearly War has brought original problems out for all to see very clearly and even faster economy problems society problems relationship problems ordinary people what can they do? we need to help each other that’s clear for all to see what else can we do? we thought society as it was economy as it was relations as they were would go on like that nothing could stop it well, we were wrong
MW April 2022
PROBLEME, DIE DA WAREN
Die Pandemie bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus. Der Krieg bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus, und zwar noch schneller. Die Wirtschaft, die da war. Die Gesellschaft, die da war. Die Beziehungen, die da waren. Was können die Leute da tun? Wir müssen einander helfen, das ist auch ganz klar. Was kann man noch tun? Früher haben wir geglaubt, die Gesellschaft, die da war, die Wirtschaft, die da war, die Beziehungen, die da waren, das geht immer so weiter, das hält niemand auf. Das ist gar nicht so, da kommt man halt drauf.
Damals nach China. Kaum Zeichen gekonnt. Alles fremd. Sehr erdig.
Vor vielen Jahren. Fahrradfahren. Hitze in der Sonne. Pechschwarzer Asphalt.
Am Asphaltstraßenende, goldgelber Mais. Rundherum Stille. Auch keine Leute.
Zu meinen Füßen eine Jauchegrube. Angelegt am Asphaltstraßenende.
Die erste Jauchegrube, die ich gesehen hab. Rundherum Stille. Keine Leute. Sonnenhitze.
Pechschwarzer Asphalt. Goldgelber Mais. Nur in der Jauchegrube Bewegung. In dem warmen dunkelbraunen Kot viele tausend Insekten, die tummeln sich froh.
Übersetzt von MW aus dem Chinesischen am 7. März 2022
At the beginning of the 1990s,
this town where I am
didn’t celebrate Christmas.
The college I teach at,
the foreign studies university, did.
Every class had their parties,
students and their foreign teachers.
Christmas carols in foreign languages,
wafting out from the classroom windows,
singing in harmony with the snowflakes,
whether it was snowing or not.
I stopped and listened,
feeling culture and beauty
closing the fresh wound in my heart.
Am Anfang der 1990er Jahre
hat die Stadt wo ich war
Weihnachten nicht gefeiert.
Die Uni wo ich unterrichtet hab,
eine Fremdsprachenhochschule, schon.
Parties in jedem Fach, jedem Jahrgang.
Studenten mit ausländischen Lehrkräften
singen in Fremdsprachen Weihnachtslieder.
Es weht aus den Fenstern des Lehrgebäudes,
klingt in Harmonie mit dem Schnee,
ob es schneit oder nicht.
Ich bleib stehen, hör zu,
spür Schönheit, Kultur,
das heilt meine frische Wunde im Herzen.
Übersetzt von MW am 24. 12. 2021
Merry Christmas! Click on the link to read more poems by different authors in Chinese.
Wir paar Mitglieder
des internationalen Salons
in diesem Semester
wollten für Belebung sorgen
und haben zwei große Tische mit Gratis-Dim-Sum aufgestellt.
Der Ehrengast, ein 70jähriger norwegischer Wissenschaftler,
sitzt dort vor seinem Bildschirm, wartet,
er hat kaum verstanden
was hier jetzt abläuft.
Meine Kollegin hat Doktorat, kaut einen Hühnerflügel und fragt:
„Hat er schon kapiert,
dass er nur Requisit ist für unsere Party?“
Unterwegs zum Flughafen Baita,
auf dem Weg nach Haila’er
bin ich extra
zum Grab von Zhaojun gefahren.
Ich geh in die Ausstellung,
seh die Geschichtszeugnisse,
denk wie Zhaojun
aus der Hauptstadt Chang’an
tausend Meilen weit weg
an die Hunnen verheiratet wird,
für den Frieden
zwischen der Han-Dynastie
und dem Volk der Xiongnu.
Und ich flieg in die Innere Mongolei,
komm zu Zhaojuns Grab
nur zum Vergnügen,
nur als Touristin.
Ich weiß wirklich nicht, soll ich mich freuen
oder schämen.
On the dormitory’s first floor, conditions are worst. Moss on wooden doors, rust on window bars. From outside, passing the windows, I see three special rooms, with their own bathroom, doors and windows aluminum, Simmons mattress. A black student wielding a club to chase a mouse that ran in from the Chinese students next door.
In Wirklichkeit ist es immer wie jetzt. Halt nicht auf einmal, doch in der Schwebe, ein bisschen versetzt. In Wirklichkeit ist dein Leben nicht fest, sicher ist gar nichts, egal was wer sagt. In Wirklichkeit bist du Tanz und Musik. Wir sind was sich dreht oder steht und jemanden sucht solang es noch geht.
MW 1. April 2020
CORONA
Actually it’s always like this for many people. You live from one day to the next. Only now it’s a big deal for the whole world for a while.
One poem per day takes nothing away, I want to say. But everything takes time, every drug, every mask, every care. So one poem per day could take away whatever else you would have had. But then you could hear it again, whatever you do, if it was good.
MW March 2020
GRINDING
The world is grinding to a halt. So are we all madly in love? Or have we come to our senses about the climate between each other? About working together? We don’t have a choice. And we don’t have a choice in hoping it will soon be over. And we still let them set our clocks.
MW March 29, 2020
ACHTSAMKEIT
Achtsamkeit hat sehr viel mit Neunsamkeit zu tun, das sagen alle großen Neunsamkeitslehrer. Aber die großen Samenbanken, die fangen frühestens ab Zehnsamkeit an, mit Ihnen zu reden.
The Peruvian poetess Momo
adds me on Wechat
and has a chat with me.
She asks what I do for a living.
I say I’m a policeman.
She fires off three urgent questions:
Have you taken part in forced evictions?
Have you violated human rights?
Why do you want to be a policeman?
I am a little taken aback
but then I answer truthfully:
I have never evicted anyone
etc. etc.
She professes
extreme disbelief
and says as if to herself:
Sorry,
I cannot
have this contact with a policeman.
So I’m on her blacklist.Oct. 11, 2018
Final draft Nov. 28, 2018
Translated by MW on Nov. 30, 2018
Liu Tianyu
HIMMELSFRAGEN
die peruanische dichterin momo
hat mich auf weChat hinzugefügt
und sich mit mir unterhalten
sie fragt mich nach meinem beruf
ich sag polizist
sie feuert drei dringliche anfragen los:
nimmst du an zwangsräumungen teil?
hast du schon menschenrechte gebrochen?
warum willst du polizist sein?
ich bin ein bisschen baff
antworte aber ehrlich:
ich habe noch nie zwangsgeräumt
etc. … …
sie bezeugt ein
extremes misstrauen
sagt wie im selbstgespräch:
sorry
ich kann nicht
mit einem polizisten verkehren
dann setzt sie mich
auf ihre schwarze liste
people’s names on the boards at arrivals
written in english
or in chinese
written in arabic script
at international arrivals, leaning against the railing
in the corridor along the exit
people are swarming
some of the names carried off by a smile or a hug
some of the names haven’t arrived at being carried off
they are waiting together
becoming familiar
some even looking in one direction
standing next to each other
beginning to talk