Die letzten 20 Jahre
hab ich mit Leuten aus Hongkong verkehrt,
mit Leuten aus Taiwan,
mit Leuten aus den USA,
mit Leuten aus Japan,
mit Leuten aus Großbritanien.
Alle sehr höflich,
verbindlich,
demokratisch.
Ich komme gut mit ihnen aus
und umgekehrt.
Dann dreh ich mich um. Manchmal hab ich
eine Art von Überlegenheit herausgehört,
das alarmiert mich.
Wenn ich mit Leuten aus Burma verkehre,
alarmiere ich mich selbst.
Wer aufgestanden ist, soll nicht mehr knien.
Wer aufgestanden ist, soll Leuten aufhelfen, die noch knien.
Außer dem Amtsinhaber
unterstützt von den Grünen –
Except the incumbent,
who comes from the Greens –
sind angetreten (there are):
die Geschmacksverstörerpartei
MSG (Anti-Vaxxers),
der Schmerzensreiche Rosenkranz
(One from the notorious Freedom Party),
der rechte Kolumnist der Kronenzeitung
(A columnist of Austrian Fox News),
ein Schuhfabrikant,
der die Welt retten will –
warum nicht?
A guy who makes shoes
who wants to save the world –
Why not actually?
But wait, there’s more:
Another rightist,
Noch ein schmerzlicher Rechter,
und nicht zuletzt die Bierpartei
mit Marco Pogo.
The youth candidate
with his own beer.
He wants to save the earth too
and talk about it.
Der Amtsinhaber hat gewonnen.
The incumbent has won.
Could have been much worse,
look at the last time.
Tu felix Austria,
for your next wedding
maybe invite someone else?
Oh well, in other news…
Finally!
The people have won.
Decency has won.
Democracy has won.
Hope.
Some people
may feel they have lost.
In the end, the land,
the country, the world
if the world can win,
most people will feel,
finally,
for once,
there is a beacon.
MW November 2020
WHAT?
What am I?
Where are we?
We are on earth.
What am I?
What are we?
What can we do?
I can be a tree.
You can be whatever grows
or crawls or flies up from the earth
and the wind and the rain.
We can all come again
and do what we can.
Some people did what they could
for a while
and Obama did
and it wasn’t enough
change to go round
everywhere in the end.
Alexander van der Bellen – first speech as president-elect of Austria Photo: Michaela Brucklberger
PLEASE PRAY FOR BIDEN!
Pray for us in Austria,
I wrote in 2016
when it was very close
in our presidential election.
Today the US
have a similar situation.
That guy Hofer was leading
without early voting,
without mail-in ballots.
Van der Bellen will win,
the Greens are winning,
you’ll see, you were sure.
I hardly dared to hope you were right,
that kind of voting was still very new.
I was ashamed
for my country,
and when it was finally clear
I was crazy with joy.
Almost 56%,
that seemed very much.
The nation was divided,
everyone said,
and would stay that way.
How is it today?
There is still a clear majority
for harboring refugees.
Drive out the heartless!
War on the palaces,
peace to the hovels!
Like Georg Büchner said.
Actually in Austria
we have the largest palace
in the city center
and a very friendly guy
residing inside.
Biden is also very friendly
at least,
at least.
MW November 2020
BETET FÜR BIDEN!
Betet für uns in Österreich
hab ich 2016 geschrieben
als es sehr knapp wahr
bei der Präsidentenwahl.
Heute haben die USA
eine sehr ähnliche Situation.
Hofer ist vorne gelegen,
ohne die Wahlkarten,
ohne Briefwahl.
Van der Bellen gewinnt,
die Grünen gewinnen,
wirst sehen, hast du gesagt.
Ich hab es kaum zu hoffen gewagt,
Wahlkarten waren noch relativ neu.
Ich hab mich geschämt
als Österreicher
und als es endlich klar war
hab ich gejubelt,
fast 56 % für van der Bellen.
Das Land sei gespalten,
haben alle gesagt,
das werde so bleiben.
Wie ist es heute?
Eine deutliche Mehrheit
ist weiterhin dafür,
Flüchtlingen zu helfen.
Verjagt die Herzlosen!
Friede den Hütten,
Krieg den Palästen!
Naja, in Österreich
haben wir halt die größten Paläste
im Stadtzentrum
und einen sehr freundlichen Mann
in der Hofburg.
Biden ist
auch sehr, sehr freundlich.
Immerhin.
Immerhin.
KASGHAR CITY, KASHGAR, XINJIANG, CHINA – 2017/07/08 (Photo by Guillaume Payen/SOPA Images/LightRocket via Getty Images)
HANDKE
fragts ihn doch
ob er heute noch
einen diktator unterstützt
einen demokratisch gewählten
kriegsherrn
einer fällt grad in syrien ein
bei der letzten fussball-wm
hab ich beim endspiel
nicht zu kroatien gehalten
wegen faschisten
wunschloses unglück
und so weiter
insofern
simma stolz
MW Oktober 2019
….
wär doch schön irgendwie
könnt sich der handke für die republik
gegen die blauen staatsfeinde
so engagieren wie für milosevic
österreich ist ein schlechter witz
vor 73 jahren hat japan kapituliert
73 jahre später ist mein sohn weggefahren nach peking zum arbeiten
meine frau sitzt im bus zum büro ich bleib allein
was koch ich mir zum mittagessen
ich komm drauf der reiskocher ist neu
kein einheimischer, ein japanischer
eigentlich ist der moderne vertauscht worden
mit einem rückständigen
ich versteh gleich im ersten moment
meine frau hat den alten unserem sohn
mitgegeben nach peking
und für uns den neuen hingestellt
eine altmodische japanische ware
soll ich sie heute an diesem tag
verwenden oder nicht?
wenn ich den kocher deshalb nicht verwende,
war ich 30 jahre für nix alltagssprachedichter
(alltagssprache: gegen symbole, chiffren, anspielungen)
also mach ich mir einen duftenden
reis mit wurst
in einem nicht demokratischen staat
ist patriotismus nichts als ein -ismus
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《点射》
在非民主国家
爱国只是主义
Yi Sha SORGE
in den ferien
geh ich mit meinem sohn
ein paarmal seinen opa besuchen
in der u-bahn haben wir unter anderem
sorge um unser land. wir glauben beide,
unsere landsleute wollen nicht genug kinder,
das wird das größte problem.
und vielleicht wehen dann auf der welt
überall grüne fahnen.
Zuo You wird Abgeordneter zur Konsultativkonferenz.
Alle beim Essen heben die Becher und prosten ihm zu.
Tang Xin sagt: “Gratulation dem neuen
Parlamentsabgeordneten!”
Zuo You lächelt nur und hebt sein Glas,
er hört nicht was die anderen sagen.
Deshalb dieses Gedicht!
ich zeig meinem sohn wu yulun
wie shaanxi-nudeln mit paprika geht.
“im ausland im supermarkt
kriegst du keine chinesischen nudeln
aber du kriegst italienische pasta
du hast italienische nudeln gern
die sind für dich schwerer zu kochen
als chinesische nudeln
aber du kannst sie genauso verwenden
ich hab in wien
für martin nudeln gemacht
er hat sie begeistert verschlungen …”
aus japan zurück
denk ich an die erfahrungen
von reisen in zwanzig ländern und so
in sechzehn jahren
jetzt will ich sagen mein heimatland
sei deppert, riesig, finster, grob, schmutzig, chaotisch, mangelhaft
aber sehr herzlich und sprühend vor leben
war das jetzt ein fehler
ist das ein verbrechen?
bin wieder kind
wir spielen verstecken
zum augenverbinden
gibts ein rotes halstuch
es ist rote seide
man sieht noch durch
die ganze welt ist rot
aber die roten leute
sind nicht gut versteckt
wir tun alle so
und spielen das spiel zu ende
egal wie oft
du sagst es stimmt nicht
es ist die wahrheit
ein grosser dichter
ist ein einfacher mensch
lebt ein einfaches leben
wie ich
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《铁打的真相》
这种真相
被搞反一亿遍
它也假不了
真大师
都像普遍人
过着平凡的生活
譬如我
2018/8
Photo by Li Haiquan
Yi Sha IM FERNGLAS
über die nachbarn
im haus gegenüber
hab ich schon geschrieben
liebe leserin, lieber leser
erinnerst du dich
die haben ein weißes kreuz
familienkirche hab ich gesagt
grad jetzt
hab ich drüben bewegung gesehen
also heb ich ein fernglas
und schau genau hin
zwei kinder springen herum
das weiße kreuz
ist eine vogelscheuche
mit gips
und weißen tüchern umwickelt
Ich wohn im Motel,
wie in Amerika.
Neben mir wohnt ein Geist, eine Frau,
singt und tanzt wie verrückt jede Nacht,
untertags ist sie ein Mann.
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《梦(1332)》
我住在一家
美式汽车旅馆里
隔壁住着一个女鬼
夜夜狂歌劲舞
白天化身为男人
2018/8
Yi Sha HERBSTANKÜNDIGUNG
Wenn die Leute in Shaanxi
im Bauernkalender
hoffen auf “Herbstankündigung”
also Anfang August
auf guten Regen;
wenn der herunter ist
kommt gleich der Herbsttiger
aber beißt niemanden tot.
August 2017
Übersetzt von MW im August 2018
《立秋》
秦人指望在农历
立秋
那就真的立秋了
好雨初降
就算有秋老虎断后
也咬不死人了
(2017)
Yi Sha GESCHMACK DER MELONE
vor dem tag herbstankündigung
ess ich endlich eine
gute wassermelone
aus ningxia
als ich klein war
war eine wassermelone
ein großer luxus. einmal nur essen
soviel man wollte. ein bonus von
der arbeitseinheit der eltern.
je nach familie haben sie die melonen
im luftschutzkeller gelagert
die kühlschränke der mao-zedong-zeit
da gibt es viele geschichten
die bewegendste geschichte
als ich melonen gestohlen und dort unten
ein pärchen überrascht hab
das hab ich in einen roman eingebaut
der geburtstag von meinem vater
den ich überhaupt nicht vergessen kann
das war am 5.8. 1990
mein vater war 55
ich war in den ferien nach Beijing gefahren
zu xu jiang, sangke und anderen von unserem jahrgang
wir haben ein studentenheimzimmer besetzt
an unserer pädagogischen hochschule
ein dichtertreffen zwei wochen lang
dann bin ich zum vatergeburtstag zurück
damals war meine frau nur meine freundin
meine mutter war noch gesund
was sie gekocht hat war das allerbeste
was ich jemals gegessen hab
während des essens hat sie mich so angeschaut
als ob die ganze welt mich verwöhnen will
so wie meine frau jetzt unsern sohn
Hung Hung FLÜCHTIGE VERBRECHER
– Demonstration in Hongkong am 12. 6. 2019 gegen Auslieferung nach China
Zehntausende, wie können Gassen leer bleiben.
Die Gassen sind auch gedrängt voll.
Eine Million auf der Straße,
eine Million Wohnungen bleiben allein,
Schreie von draußen hallen darin,
wirbeln ein bisschen Staub auf.
Betten, die Nacht um Nacht müde Körper stützen
Aufgeschlagene, plötzlich verlassene Bücher
Im Eck noch einzelne, verlorene Socken
Regenschirme, von Stürmen zerbeult
Fragen sich
wo sind ihre Herren und Frauen geblieben?
Wo treiben sie sich herum?
Sind sie geflohen?
Aus der Kulturrevolution nach 1989 geflohen
Vom großen Platz auf die einsame Insel
Von einem WeChat-Konto zu einem Gesicht
Dann ist nur noch das Meer.
Wohin willst du fliehen?
Eine Million Menschen,
sind sie alle Verbrecher?
Abgesehen von ihnen, noch eine Million und noch eine Million
sind sie alle Verbrecher?
Die ihre Geschäfte, ihre Unis und Schulen, ihren Flugplatz verlassen,
und jene, die mit Gewehren und Schilden einer Million gegenüberstehen,
sind sie alle Verbrecher?
Wer hält sie mit Gewehren auf?
Jesus auf der Flucht
Allah auf der Flucht
Propheten schaffen die Flucht nicht
und werden zurück geschickt in die Kerker
Gläubige schaffen die Flucht nicht
und werden zerschnipselt im Operationssaal
Und dann noch die Vorsichtigen, die sich in ihrer Arbeit vergraben,
wie lange können sie fliehen?
Wer hat die Macht, sie zu begnadigen
für welche Verbrechen?
Wer gibt ihnen ihre Zimmer mit ein bisschen aufgewirbeltem Staub,
wer gibt ihnen ihre offenen Bücher zurück?
Und das Bett, das noch schaukelt?
Hung Hung DIE WELT IST NICHT EINGESTÜRZT – ZUR ERINNERUNG AN DIE ERSTE “GENOSS*INNEN”-EHE IN TAIWAN AM 24.5.2019
Als ein Motorrad sich in ein Elektrofahrrad verliebt hat
Als ein Riesenrad sich verliebt hat in ein Ringelspiel
Als ein Neonlicht sich verliebt hat in einen Regenbogen
Da ist die Welt nicht eingestürzt. Sondern schöner geworden.
Wenn deine Einsamkeit meine Einsamkeit tröstet
Wenn deine Zufriedenheit meine perfekt macht
Und deine Punktezahl mit meiner zusammen ergibt eine Hochzeitsreise zum Mars
Dann stürzt die Welt nicht ein. Sondern wird schöner.
Umarmt euch weiter, verachtet die Welt
Steigt gemeinsam und versinkt zusammen
Nehmt verlassene Kinder auf. Wir waren auch welche.
Wenn du eine Mandarine schälst, hat sie viele Spalten.
Aber ich will auf jeden Fall deine andere Hälfte sein.
Und die Welt stürzt nicht ein. Sondern wird schöner.
Als Demokratie eingeführt wurde,
kam der Ortschef Herr Wang
und sagte ich sollte ihn allein wählen,
ich stimmte zu.
Aber beim Ausfüllen des Zettels
hab ich doch Peng XX hingeschrieben,
der stand für Erneuerung bei der Arbeit.
Ein paar Tage später
kam Herr Wang und kündigte jeden Kontakt auf.
Er sagte, er habe zwei Stimmen bekommen,
eine von ihm selbst
die andere sei der Parteisekretär,
der ihn aufgestellt habe, sicher nicht ich.
Der offene Brief von der Sprachkunst ist sehr gut. Gestern hab ich ihn gelesen und gedacht, jetzt möcht ich doch etwas schreiben. Vorgestern hab ich mir die Rede das erste Mal herausgesucht, angeschaut, angehört. Sehr, sehr sehr gut. Sehr, sehr wichtig. Selten. Nicht feig, wie er selbst sagt. Das ist in Österreich schon viel.
Er wollte nicht reden, das glaube ich ihm. Weiß nicht, wer das auswählt. Aber wenn er redet, sagt er, macht er es sich nicht einfach. Das glaub ich ihm auch. Österreich hat ein unheilvolles Bedürfnis nach Harmonie. Klingt mir selbst zu pathetisch, wenn ich das sage. Oder ist es auch Kalkül? Es ist vielleicht beides. Sag etwas Positives. Etwas Konstruktives, Aufbauendes. Das hat Köhlmeier dann im Interview auf ORF2 gemacht. Ich glaube schon, dass er glaubt, was er sagt. Er will es tun. Er will Herrn Schrecken beim Wort nehmen. Natürlich, das sollten wir alle, Politiker beim Wort nehmen.
Wenn du es ernst meinst, bin ich bei dir. Sagt Köhlmeier. Ich will dir erst einmal vertrauen, sagt er. Wenn du sagst, die Partei muss sich ändern. Soll ich mir jetzt die Rede von Herrn Schrecken bei diesem Deutschnationalen Ball heraussuchen? Ich mag keine Videos. Ich mag auch keine Podcasts. Youtube ist etwas Tolles, auch etwas Demokratisches, aber ich mag es nicht. Ich mag Musik auf Platten. Kassetten. Filme im Kino. Reden live, ab und zu. Trete gern selber auf. Genommen werden, ausgewählt werden. Wer hat Köhlmeier ausgewählt? Danke! Tausend Dank! Ich könnte nicht sagen, ich vertraue Herrn Schrecken. Ist das eine Schwäche von Köhlmeier, wenn er sagt, dass er vertrauen will? Vielleicht nicht. Es ist nur im Interview. Die Rede war und ist sehr, sehr, sehr wichtig.
Bei Youtube kommt man vom Hundersten ins Tausendste, auch wenn man sagt, Herrn Schrecken hör ich mir sicher nicht freiwillig an. Aber gleich neben der Köhlmeier-Rede ist die von Arik Brauer. Auch schön. Auch sehr persönlich. Wenn er sich erinnert, an das Kriegsende in Wien. Am Flötzersteig. Hinauf zum Steinhof. Schrebergärten, wo sich Arik Brauer versteckt hat. Als sechzehnjähriger Jude. Noch ein Kind, vom Aussehen und von der Stimme. Ein schöner Sopran, sagt er. Sehr, sehr sympathisch. Das ist Österreich. Wien. Diese Sprache. Jüdisch gefärbtes Wienerisch. Selten. Sehr sehr kostbar, unsere Sprache. Es tut weh. Das Erinnern. Es ist sehr schön. Auch dass er gleich sagt, die meisten Leute haben sich nicht befreit gefühlt. Die Frauen. Die Leute in den Trümmern.
Die Demokratie. Ein zartes Pflänzchen. Man passt auf die anderen auf. In Europa. In der EU. Die Ironie, mit der er das sagt, ist auch sehr schön.
Die Einwanderung, sagt er, sei schuld. Am Rechtsruck. Die Einwanderung aus arabischen Ländern, wo so viele Leute die Juden zurück ins Meer werfen wollen. Da fühlt er sich bedroht. Sagt er. Von der Einwanderung. Die Einwanderung sei schuld am Rechtsruck, auch in Polen, Ungarn und so weiter. Das sagt er dann im Interview. Und Ex-Bundespräsident Ernst Fischer sitzt konsterniert dabei. Fischer war Flüchtling, im Zweiten Weltkrieg. Es tut weh. Die Kameras zeigen, wie die Politiker schauen. Das ist sehr gut.
Arik Brauer wird ganz besonders geliebt und bejubelt. Auch von der Regierung. Und Arik Brauer verbeugt sich mehrmals und schüttelt Herrn Schrecken freudig die Hand.
Welche Einwanderung? Es gibt nach wie vor keine Araber in Polen. Oder in Ungarn.
Welche Einwanderung? In Polen gibt es viele ukrainische Gastarbeiter. Stalin hat ja die Ukraine und Polen nach Westen verschoben. Also dort, wo die ukrainischen Gastarbeitern teilweise herkommen, war vorher Polen.
Wandern die Gastarbeiter ein? Manche, wenn sie können. Glaube ich.
Noch einmal, es gibt keine Einwanderung aus arabischen Ländern in Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei. Überhaupt keine. Vielleicht ein paar ganz wenige SyrerInnen, die es doch irgendwie geschaftt haben. Arbeit. Heirat. Wenige. In Polen ganz sicher noch viel weniger als in Ungarn. Geographie.
Warum sagt Arik Brauer so einen Blödsinn?
Soll ich es analysieren? Warum fallen die Leute auf Schrecken herein?
Es ist alles sehr kompliziert. Sagte Sinowatz, sagt Arik Brauer. In der Demokratie, in Europa. Das ist ja das, was so weh tut. Dass er so gut redet. Bis auf den Blödsinn, bis auf den Schrecken.
Jetzt könnte ich aufhören. Warum fällt jemand auf Schrecken herein?
Moslems gibt es mehr als früher. Muslime. In Österreich. Türken. Tschetschenen. Innen. Frauen. Frauen, Männer, Kinder. Viel mehr Muslime als Juden. Dass es beides gibt, Muslime und Juden, in Österreich, ist sehr, sehr wichtig. Musliminnen, Jüdinnen. Identität. Gehört zu uns, seit über hundert Jahren. Seit ewig. Seit immer. Österreich ist Europa.
Unlängst war im Standard ein Kommentar, der an das Arabische im Römischen Reich erinnert hat. Einige Kaiser, aus Syrien und so weiter. Lukian. Etwas bei Lukian. Europa gabs nie ohne Araber.
Harmonie. Hab ich jetzt auch Harmoniebedürfnis?
Moschee und Kasino. Eines meiner besten Gedichte. Chinesisch, ursprünglich. Geschrieben in Malaysia. Handelt auch von Singapur. Da gibt es Fotos. Wie ich Moslem spiele. Sozusagen. Es war sehr schön.
Jetzt hab ich doch sehr viel geschrieben. Kein Gedicht. Einmal. Friede sei mit Euch, mit uns. Amen.
you allowed this ape
this strong-reeking filth
worse than any animal
you helped this grinning
creep
this neo-nazi turned
lord of angry losers
free angry losers
free-for-all
all for strong
protection
against
conscience
solidarity
consciousness
of what they do
how they make you screw
the weak
which means you
your own family
some time down the road
always
sooner than you think
don’t think
vote
for the grinning
strong
du wirst es nicht herausfinden
oder es wird nicht bekannt
was passiert wenn du tot bist
oder ich
wir sind nicht wichtig genug
aber auch bei den wichtigen
weiß mans nicht wirklich
MW Oktober 2017
YOU CAN BE SURE
you are not going to find out
or people won’t know
what happens after you die
or I for that matter
we aren’t important enough
but even with those who are
no-one really knows
New semester has started,
teachers in our department
first have a meeting for everyone,
then one for party members.
In between,
four get kicked out:
one democratic party person,
one Christian,
one Buddhist,
one me.
The Christian one is not very serious
(many Christians in China
aren’t),
so he makes fun of me:
“Only you
have no faith …”
I look askance at him
and tell him slowly:
“What do you think
poetry does for me?”
September 2017
Tr. MW, Sept. 2017
Yi Sha GLAUBE
zum beginn des neuen semesters
haben die lehrenden im institut
zuerst eine sitzung für alle
dann eine parteisitzung
dazwischen werden vier rausgeschmissen:
einer: demokratische partei,
ein christ,
ein buddhist,
ein ich.
der christ ist nicht ernsthaft
(christen in china
sind oft nicht ernsthaft)
und sagt mir zum spass:
“nur du
hast keinen glauben.”
ich schau ihn schief an,
geb in ruhe zurück:
“was glaubst du,
was poesie für mich ist?”
everyone wants deliberation
what do workers want
more money
more rights
less accidents
less insecurity
less misery
less discrimination
what do employers
and state agents want
nothing
in comparison
they have everything
only in certain cases
certain uncertain cases
they are very certain
everyone needs deliberation
rather than killing and maiming
each other
china has talked about democracy
very much
at least since 1919
austria too
so let us deliberate
how to give workers
in certain uncertain cases
maybe just a little bit
of deliberation
MW May 2017
From a small conference on Monday, May 15. Law studies and Petition Office representants from China. Vienna University law faculty and East Asian studies professors. Well-meaning reports on labor conflicts and “deliberative democracy”. Meanwhile we’ll have another big election in Austria in October. Last year was just the figurehead president. Could have been a Neo-German alt-right figurehead. It was close. Would have been ok with the foreign minister. Also with the governors of Burgenland and Lower Austria, the provinces around Vienna. They are working with the xenophobe extreme right Freedom party. Or looking forward to that. No, we don’t rally around the republic against neo-fascist and anti-European forces like they do in France. Although we finally tried last year and succeeded. And our president now is a Green independent. Yeah, that’s where my poems come from. China and Asia, Austria and Europe. Taiwan. Czech Republic. And so on. Like The Sun Also Crashes. That was in Vermont, right before the last US mid-term elections.
Bei der großen Wahl in den USA
taten viele Chinesen –
ich war einer von ihnen –
als hätten sie auch das Recht zu wählen;
wägten sorgfältig ab
ob sie denn Trump
oder Hillary unterstützten;
als der Tag herankam
vergaben sie feierlich
eine Stimme in ihrem Herzen.
“Österreicher gehts wählen! ”
“Sonst werden wir bald
von Flüchtlingen regiert! ”
Ruft ein Mann in der Schnellbahn.
Wir wurden von einem Flüchtling regiert:
1970-1983
am Ballhausplatz.
Wir wurden von einem Flüchtling regiert:
1998-2016
in der Hofburg.
Es gibt noch einige
Beispiele.
Liebe Österreicherinnen
und Österreicher,
die wählen dürfen,
bitte gehts wählen.
Damit wir nicht
von Vergessern
regiert werden.
wie hält es china mit der demokratie
wie hält es österreich
kann es österreich halten
pisst sich österreich an
wer bemerkt es
wie hält es china mit der demokratie
fragt ein vortrag
eine diskussion
zwei tage vor einer wahl
die in österreich
die republik
gefährdet
was ist für uns demokratie
seit 1945
seit 1955
was ist für ungarn demokratie
vor 1956
vor 1989
kann es österreich halten
scheisst sich österreich an
wer merkt es
seit 1984
lern ich chinesisch
13 jahre war ich in china
ich war grad in taiwan
1988 in taiwan
war demokratie etwas anderes
als fünf oder zehn jahre später
oder auch früher
oder vor zwei jahren
kann es österreich halten
brunzt sich österreich an
tut mir leid
ich war nicht bei dem vortrag
These few days in Taiwan
meeting so many friends,
very precious time.
It has been almost 30 years
since I first was in Taiwan.
These few days we’ve met many authors
and fellow translators.
We also met the poet Hung Hung.
There are people in Taiwan
who meet Hung Hung every day,
and even Le Tian,
Hung Hung’s little child.
Le means to laugh, Tian is the sky.
Last night Le Tian got to meet me.
Holding him
was like holding my children
ten years ago.
We lived in Beijing, where they were born.
Tonight I am leaving Taiwan.
What if I could stay?
Nowadays in a few ways
Taiwan is doing better than Austria.
No resurgent Rightists.
First female president,
some social progress.
Very clear progress
since thirty years ago.
Taiwan is doing better right now
than Europe and USA.
Maybe like Canada,
although Taiwan is rather small.
Half the size of Austria.
But to be able to face your history,
to induce progress in your society,
these things are very precious indeed.
Please take care!
Hope we meet again soon!
MW November 2016
AUF WIEDERSEHEN, TAIWAN!
die paar tage in taiwan
waren so voller freunde,
sehr, sehr kostbare tage.
manche freunde kenn ich fast 30 jahre.
autoren, autorinnen hab ich getroffen,
übersetzerinnen und übersetzer,
am letzten abend den dichter hung hung.
ein paar menschen in taiwan
treffen hung hung jeden tag,
und sogar lö tiän, seinen sohn.
lö tiän bedeutet den himmel anlachen.
gestern hat der kleine mich angelacht.
lö tiän im arm halten ist wie vor jahren
meine kleinkinder halten,
vor zehn jahren in peking.
heute abend verlasse ich taiwan.
und wenn ich bleiben könnte?
taiwan geht es heute in mancher hinsicht
besser als österreich.
keine rechtsextremen im höhenflug,
die erste frau an der spitze,
fortschritte in der gesellschaft.
große fortschritte, in vieler hinsicht
auf jeden fall in 30 jahren.
heutzutage gehts taiwan besser
als der usa und europa,
vergleichbar mit kanada, eventuell,
obwohl taiwan recht klein ist.
halb so groß wie österreich.
deiner geschichte ins gesicht schauen können,
in deiner gesellschaft fortschritt erzeugen
sind sehr, sehr kostbare dinge.
passt auf euch auf, liebe freunde!
auf ein baldiges wiedersehn!
strongman, he is not a bird
strongman, he is not a plane
what is strongman all about?
strongman makes it strong for you
strongman, he makes all the shots
strongman, he makes all the drinks
strongman, he makes every sauce
strongman, chairman get along
strongman makes you extra strong
makes you swallow his strongsong
don’t tell me you didn’t know
amerikanische demokratie
wir sehen einfach wie
sich zwei clowns produzieren
nur die menschheit sagt sich zum trost
“ah! die wahl das system das sie auswählt
ist aber gerecht.”
Yi Sha EIN GUTER DICHTER, ICH DENK IMMER WIEDER AUF EINMAL AN IHN
vor fünf jahren in huizhou
jiang huhai hat mich dazu gebracht
mit arbeitsmigranten zusammen zu lesen
ich les meine eigenen gedichte
bestehe darauf alles bis zum ende zu hören
stoße damit auf spott und unverständnis
sogar auf zweifel an meinen gründen
von seiten eines schwindlers aus übersee
und zweier dichterinnen aus peking
weder damals noch heute weiß einer von denen Xu Lizhi
war einer der dichter dort auf der bühne
Five years ago, passed by in Huizhou.
Jianghu Hai pulled me up on a stage.
Migrant workers reciting their poetry.
I read my own stuff,
then insisted on listening until the end.
For this I received scorn and confusion
from an overseas swindler
and two female poets from Beijing,
who also questioned my motives.
They didn’t know
and don’t know today
Xu Lizhi
was one of those workers
up there on the stage.
3 whales in austria
wales played much better
in german whale sounds the same as election
any choice
president is like english
trump started to smell long ago
in 2000 there was a problem
but
no-one had three votes in half a year.
the na in nazi means nation
national socialism
democratic whales are still good
the best whale is still socialism
but in brexit times
we have ever more ranking
president wales
Nein. Ich habe van der Bellen gewählt, er wird sicher ein guter Präsident sein. Aber die Hälfte der Wähler, die Hofer wollten, ergibt gar nichts Schönes. Im Gegenteil. Das sollten und dürfen wir nicht schönreden. Wir haben gewonnen, weil es klar genug war, dass diese Partei nicht an die Macht darf. Um ein Äuzerl. Normalerweise wird leider alles andere getan, als klar zu sagen, was los ist. Nein. Keine Versöhnung. Nicht mit Herrn Angst und Schrecken. Nicht mit dem Lager, aus dem diese Herren kommen. Wir brauchen einen Cordon Sanitaire. Niemand würde Le Pen so behandeln, wie diese Leute hier behandelt werden. Leider auch in Deutschland. Nein. Das ist die Partei der Rechtsextremen. Der Hetzer. Der Lügner und Betrüger. Das ist hunderttausendmal belegt. Wir brauchen Trennlinien. Wir brauchen einen großen, tiefen Graben neben allen vernünftigen Menschen, die verstanden haben, worauf dieser Staat beruht. Auf Antifaschismus. So wurde dieser Staat gegründet, 1945. Wer sich dazu bekennt, ist auf unserer Seite. Wer nicht, der oder die ist auf der anderen Seite des Grabens. Und je breiter und tiefer und besser sichtbarer dieser Graben ist, desto besser.
Alexander van der Bellen – first speech as president-elect of Austria Photo: Michaela Brucklberger
“The United Kingdom is here to stay. Actually, no matter what the outcome would have been, the vote in Scotland has shown to the people of another certain country that in such a crisis, England does not evoke a “anti-split-up-law”. There are no armored vehicles on Scottish street corners, Scottish leaders have not been branded as betraying and selling out the great English nation, and not one citizen has been thrown in jail for fomenting trouble and encouraging independence. Just for these few points, Great Britain, the sun has not set on your empire!” (A Weibo user in China
李勤岸Li Khin-huann
Translated by Tiunn Boo-thinn 譯 …
We planted sunflowers at Parliament
To bring some sunshine inside
To bring all that mold to light
To bring the people’s rights to light
We planted sunflowers on the president’s lawn
To throw the floodgates wide open
And flood away the steel webs of a dictator
And let the young whales of democracy swim on, and on and on
We planted sunflowers in the streets
To bloom come rain and bloom come wind
To bloom for always and for all days
By the darkening roads we must yet take
We’re planting flowers in every alley and every valley
In the cities and in the country
In the mountains and by the sea
The sun will still flower
May the will of young hearts
Rise up high in our free skies
阮種日頭花
–《人面冊ê花蕊》264
李勤岸
Li Khin-huann
WE PLANT A SUNFLOWER
we plant a sunflower in parliament
to draw in the sun
stir up the poor state of our congress
stir it up for the rights of our people
we plant a sunflower in the president’s palace
to call a young sea spirit of Taiwan democracy
to stir up a flood
to sweep away the iron nets of dictatorship
we plant a sunflower on every street
to brave wind and rain
to stir and bloom
to shine a light on our dark road ahead
we plant a sunflower on every corner
in the village in the city
on the mountains at the sea
to stir and bloom
our spirit of youth
will brighten our homeland and our skies
imagine many years later
can we still watch japanese cartoons
imagine letters we might receive
maybe with contents crossed out in red
imagine we could answer in peace
curious questions from our children
I will tell them about tonight
concise and in detail
so they can swiftly run to any crowded stage
I will tell them
peace is short-lived
struggle is constant
come on, go now
on this island
find your comrades
keep your loved ones
build your dream house
look for the nation of your ideals
raise all the flags
light every lamp
shout out your pursuits
warm winds will blow
coconuts sway
students, policemen sleeping together
rain will keep falling
till you wake up to a dry day
Für Zivildienst. Und ein Bundesheer mit breiter Bevölkerungsbasis. Wenn überhaupt ein Heer. Aber zur Polizei hab ich kaum Vertrauen. Wir sind neutral. Nicht bei der NATO. Vertrau ich der Polizei? Warum soll ich einem Berufsheer vertrauen? Wir gehen jetzt zur Flüchtlingsdemo. 13:30 beim Volkstheater. Bis dann, alles Gute. Martin
We had a vote about our military in Austria on the weekend. And a demonstration for refugees on hunger strike. Complete with a huge Sachertorte. For the protesters. In commemoration of the “Lichtermeer” against racism and xenophobia in Vienna 20 years ago. I didn’t know if I was going to vote, on Sunday morning. So I got Jackie to call our old friend, Gen. A., her employer in Beijing. The Social Democrats wanted to abolish the draft. But some prominent Social Democrats wanted to keep it, incl. the president. General A. is Social Democrat. But he said if the draft is abolished, they will only get certain segments of the population as recruits. You can do all sorts of other things instead of going to the army. Work in a hospital, teach German to refugees (what I did), even go to Qiqiha’er 齊齊哈爾 for a year. (Here is another report in German, translated from 齊齊哈爾日報)。 It’s not that bad if every healthy young man is required to do something for the community. That was my reasoning. When I did that alternative community service thing, we had to do some training at first for being able to help in case of floods, storms etc. That boat thing was fun. The guy in our group whose parents were in the far-right Freedom Party volunteered and was the first to try and row to an island in the icy Danube. Boat leaked. He didn’t get very far. They sent him to hospital. He was ok. Later on he had to teach German to refugees, helping me. He wasn’t bad, they liked him. He really tried, and I’m quite sure his attitude to refugees etc. changed.
how far is the mouth from the tip of the brush?
how far from the tip of the brush is the street?
how far is the street from the court?
how far is the court from the jail?
how far is the jail from the shots?
how far is democracy from the court?
how far is democracy from the jail?
how many light-years away from the shots?
wie weit ist die pinselspitze vom mund?
wie weit von der strasse?
wie weit ist die strasse entfernt vom gericht?
wie weit ist es vom gericht zum gefängnis?
wie weit vom gefängnis zum schuss?
wie weit vom gericht ist die demokratie?
wie weit ist die demokratie vom gefängnis?
und wie viele lichtjahre vom schuss?
Die Nummer 62 des Literaturmagazins “Wienzeile” ist gedruckt! Mit Texten von Hsia Yü 夏宇, Yan Jun 顏峻, Hung Hung 鴻鴻, Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊, Yu Jian 于堅, Ma Lan 馬蘭, Qi Ge 七格, Wu Yinning 吳音寧, Lin Weifu 林維甫, Tong Yali 彤雅立, Pang Pei 厖培, Liao Yiwu 廖亦武 und vielen anderen. Dazu gibt es Grafik und Bilder von Yang Jinsong 楊勁松, Chen Xi 陳熹, Emy Ya 葉宛玲, Ursula Wolte und anderen mehr.
Wu Yinning 吳音寧, Hsia Yü 夏宇, Hung Hung 鴻鴻 und mehrere andere SchriftstellerInnen und KünstlerInnen in dieser Nummer sind aus Taiwan. Gedichte von Wu Yining gibt es auch hier. Zwei der sieben Gedichte, die ich von ihr übersetzt habe, zitieren taiwanische Rockmusik. Eines ist über einen Kanalarbeiter. Die lokalen Details in Verbindung mit Wu Yinnings starkem sozialen Engagement machen die Faszination aller ihrer Texte aus. Sie war z.B. 2001 in Chiapas in Mexico und berichtete von der zapatistischen Revolte.
Wir haben Texte über Wahlen und Demokratie, 1979 – zur Zeit der Demokratiemauer – und heute. Helmut Opletal, langjähriger Rundfunk- und Fernsehkorrespondent, berichtet von den politischen Verhältnissen im Peking der Demokratiemauer und zieht Vergleiche mit aktuellen Ereignissen. Wir haben Han Hans 韓寒 Essay über Demokratie, übersetzt von Ingrid Fischer-Schreiber. Das ist einer von drei Texten – über Revolution, Demokratie und über Freiheit- die Ende Dezember 2011 herauskamen, gerade als wieder einige Dissidenten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Han Hans Texte wurden weltweit heftig diskutiert, unter anderem im Zusammenhang mit 100 Jahre Chinesische Revolution/ Abdankung des letzten Kaisers 1911/1912, auch bei einer großen Konferenz an der Universität Wien Anfang dieses Jahres. Wir haben einen Text des Computer- und Internetexperten Hu Yong 胡泳, ebenfalls übersetzt von Ingrid Fischer-Schreiber 殷歌麗, Kuratorin der Ars Electronica in Linz, Übersetzerin zahlreicher chinesischer Artikel und Bücher aus politisch-sozialen und wissenschaftlich-technischen Bereichen. Nicht zuletzt enthält diese Sonderausgabe einen Vergleich zweier hochbrisanter politischer Texte, der Charta 77 aus der damaligen Tschechoslowakei und der chinesischen Charta 08, erstellt von einer Politologin und Sinologin aus Tschechien.
Das Cover ist von Linda Bilda, einer Künstlerin aus Wien. Innerhalb der Redaktion war es von Anfang an umstritten. Aber eine wichtige chinesische Schriftstellerin, die in dieser Ausgabe vertreten ist, findet es gut, gerade auch wegen der Gewalt. Heutiges China, sagt sie.
Ein weiterer Punkt, der zuletzt heftig diskutiert wurde, war die Inkludierung von Texten von und über Wanderarbeiterinnen in China. Im September letzten Jahres war hier in Wien eine große Konferenz über Arbeitskonflikte in China. Vorträge und Berichte gibt es online auf den Konferenzwebseiten und bei Transform! . Eine der Vortragenden war Astrid Lipinsky vom Ostasieninstitut der Univ. Wien, die schon 2008 in der Zeitschrift Frauensolidarität über Arbeitsmigrantinnen, ihre Sprache und ihr Schreiben berichtet hat. In der Wienzeile haben wir den ersten Teil eines langen Gedichtes von Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊. Sie ist Arbeitsmigrantin in Dongguan 東莞 und hat neben ihrer Fabrikarbeit seit ungefähr 10 Jahren viele literarische Texte veröffentlicht, die nicht nur auf dem chinesischen Festland, sondern auch in Taiwan und darüber hinaus bekannt und geschätzt sind. Für Hung Hung 鴻鴻, Regisseur und Schriftsteller in Taipeh, erinnern manche Gedichte von Zheng Xiaoqiong an “Akte 0” von Yu Jian 于堅, einem der renommiertesten chinesischen Dichter, der ebenfalls in dieser “Wienzeile” vertreten ist.
Mit dem Kopf durch die Chinesische Mauer – 橫穿長城的頭顱。Der chinesische Titel stammt von Liu Jixin 劉紀新 aus Peking. Liu Jixin unterrichtet klassisches und modernes Chinesisch am Ostasieninstitut der Universität Wien. Im jetzigen gesprochenen und geschriebenen Chinesisch sind klassische Wendungen durchaus häufig, und auch heute sind Bildung, Erziehung und Sprache in vielen Aspekten brisante Themen. Liu Jixin hat einen kleinen, recht subjektiven Artikel über Schulen in Wien und in Peking geschrieben. Die in Peking tätige Architektin Chen Ing-tse 陳穎澤 aus Taiwan schreibt über Lang- und Kurzzeichen in der chinesischen Schrift. Sie hat eine sehr prononcierte Meinung. 100 Jahre nach den ersten Ansätzen der Sprachreform, die eine enorme Kluft zwischen gesprochener und geschriebener allgemeiner Verkehrssprache und eine hohe Schriftunkundigen-Rate beseitigen wollte, gibt es auch auf dem Gebiet der Sprachen und Schriften im chinesischen Sprachraum viele aktuelle Konflikte.
Josef Goldberger interviewt eine chinesische Absolventin eines Studiums in Wien.
Wer erinnert sich noch an 1990? “Keine Mauern mehr” hieß der österreichische Beitrag zum Eurovisions-Songcontest. Leider begannen noch im selben Jahr die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre, die 1999 auch China berührten, mit dem NATO-Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad. Diese “Wienzeile” enthält eine Erzählung von Tamara Kesic, die 1990 in Kroatien spielt. Außerdem haben wir weitere literarische Beiträge von deutschsprachigen Autoren, etwa Gedichte von Isa Breier und einen Text von Thomas Losch.
Die Wienzeile 62 wird am 17. Mai im Venster 99 in Wien mit einer Multimedia-Lesung präsentiert (siehe Plakat). Der Dichter und Musiker Yan Jun 顏峻 tritt live auf. Die Zeitschrift ist bei der Redaktion, im Sekretariat der Abteilung Sinologie des Ostasieninstituts an der Univ. Wien und auch bei mir (Martin Winter) erhältlich.
Wienzeile, a literature magazine coming out in Vienna, Austria, with entries in Chinese, English and German. Lots of new literature by Hsia Yü 夏宇、Yan Jun 顏峻、Hung Hung 鴻鴻、Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊、Yu Jian 于堅、Ma Lan 馬蘭、Qi Ge 七格、Wu Yinning 吳音寧、Lin Weifu 林維甫、Tong Yali 彤雅立、 Pang Pei 龐培、Liao Yiwu 廖亦武 and many others.
Art work and photos by Linda Bilda, Yang Jinsong 楊勁松, Chen Xi 陳熹, Emy Ya 葉宛玲 and others.
Articles by Han Han 韓寒 and Hu Yong 胡泳. And an article comparing Charter 08 to Charter 77, written by Helena Nejedla, Czech Republic. If you get hungry while reading, we have a recipe for 四川鍋盔.
As rich European countries go, maybe Austria is just as bad as Italy or France. Only smaller, more provincial. Newest anti-foreigner laws package passed on Tuesday, Feb. 22nd, 2011. The protesters in Egypt didn’t really look to America or Western Europe, but to protest experiences in Serbia and such. At least that’s what I remember from reports in the NY Times, among others. A Chinese friend told me he was watching the Arab protests very much,while he was in Europe, because the pictures from Egypt reminded him of Beijing in 1989.
China has had too many so-called revolutions under Mao and a big failure with protests for civil rights and democracy in 1989. But there are many protests in China all the time. Labor unrest, land seizures, health hazards etc.. There may also be a big craving for stability, hence the hesitation to participate in larger protests. The op-ed in the NYT (IHT) by Daniel Bell, designated Western politics professor in Tianjin, was very academic. Or very wishy-washy. Civil rights are universal. No, China’s not so special. Reporters know, especially when they go to see the blind Women’s rights activist lawyer in Shandong and get waylay-ed and beaten. No, nobody cares about supposed academic discussions on why democracy might not work. Yes, people try to lead a good life, individually, for their family, and sometimes they notice the limits, and try to work around them, and many do talk about it. Sorry for the rambling. As I said, rich countries are no beacons. Maybe I am more politics-sensitive than before, since we moved back to Austria from China, after 10 years in Beijing and a few more in other cities. Roger Cohen is right, the EU doesn’t look very good at all these days.
Any discussion on forbidden topics is worthwhile. And this topic seems to be at least semi-forbidden on websites easily accessible in China. Social unrest is widespread and continues to grow. China is built on denial. Not on the Nile. There is no river in Beijing. I wonder if there has been any precipitation by now since fall. It was pretty bad in 2000, I remember. They dug huge canals all the way from around Nanjing and Wuhan to bring water for Beijing and Tianjin. Imagine a new canal dug through a city center, 100 meter down. That’s what I saw somewhere in Henan in 2007 or so. Maybe most people don’t take part in uprisings yet. As anywhere, people are concerned with their family and their livelihood. Not with the government. Unless something bad enough happens, you don’t need to take action. Maybe you’ll discuss something, like Premier Wen visiting the Beijing Petition Bureau. They do seem to feel the need to address some problems publicly, and not only through suppression. They continue to suppress many words, such as eleven or civil society. Actually I’m not sure if eleven is still sensitive, but it wouldn’t surprise me, since a certain dissident who was sentenced to eleven years on Dec. 25, 2009, got a lot of publicity lately. Any comparison of China with countries in volatile situations is worthwhile. It’s important not to end up in the Nile, or in denial. That’s a nice little joke I heard from our friend Liam, very nice if you’re far away, I guess. To a very large extent, China is built on denial. The same could be said about other societies, like Austria. But maybe at least there is less denial now than 30 or 40 or 50 years ago. In Austria, maybe. It’s a dialectical process, maybe. There is still a lot of denial. But in China denial is at the base of the system. In private talk, if you’re a friend, people will tell you what they went through in the 1950s, -60s, -70s and so on, or what they are doing now, even if it’s against official policy. But is there enough public discussion of past and present grievances and problems? This is already very close to the question Adam (see below) has put in his post. Adam is right, saying that China is very special and very stable and so on often gets very obnoxious. I am very wary of any big-time supportive international collaboration with institutions in China. Just look at what happened at the Frankfurt Book Fair 2009. The organizers cooperated with China’s GAPP, the general administration of pressure and prodding to toe the government line in publishing. The Ministry of Truth. Maybe they had to, to stage a China-themed fair. And the ensuing scandal was good, except for a few officials. Any kind of discussion is good, any kind of publicity, if there is a lot of denial. I wonder if the Robert Bosch trust fund and other Western sources of funding for cooperation with China learned anything. In December there was a discussion in Germany and Austria, after an article in the Sueddeutsche Zeitung suggested that Chinese Studies institutions staid away from the topic of the Nobel Peace Prize award for a Chinese dissident. Maybe some of them do, if the people in charge are too closely affiliated with the Confucius Institutes situated right inside the Chinese Studies department, as it is usually the case now. In Vienna, this wasn’t a problem. There was a big discussion on January 11 at the Sinology department of the East Asian Institute, one of the most engaged and open events at Vienna University in a while, probably. Bei Ling, author of the Liu Xiaobo biography was there, reading and talking to an enthusiastic crowd, in a very interesting discussion about the roles of intellectuals and public institutions. Professor Weigelin was fully in her element. Prof. Findeisen and Dr. Wemheuer contributed important points on literature and society. Who would have thought that in January, people around the world would spontaneously think of 1989? At least for me it feels like back then, very sudden change sweeping through several countries. So of course there are many comparisons. It is nice to live in exciting times, and important not to end up in the Nile. May they have peace and better times in Egypt soon!
Eine einsame Figur
Wandert auf der Grossen Mauer
Der Hunger beleidigt meine Würde
Ich streck’ die Hand aus nach meiner Nation
Ohrfeigen sind meine Antwort
Fingerabdrücke brennen ins Herz
Ich klopf an das Rückgrat dieser langen Geschichte
Und weine für Gestern
Und heule für Morgen
Huang Xiang 1962
MW 2006 übersetzt
我
1
我是一次呼喊
从堆在我周围的狂怒
岁月中传来
2
我是被粉碎的钻石
每一颗碎粒中都有一个太阳
3
我是我 我是我的死亡的讣告
我将从死中赎回我自己
黄翔 1978年10月11日于北京民主墙揭幕日
ICH
1
Ich bin ein Schrei aus der Wut all der Jahre, aufgetürmt rings um mich.
2
Ich bin ein zersplitterter Diamant.
In jedem Bruchstück ist eine Sonne.
3
Ich bin ich. Ich bin meine Todesnachricht.
Ich löse mich ein und komm’ wieder zurück.
Huang Xiang 1978, zur Eröffnung der Demokratiemauer in Peking