Xu Lizhi 许立志 IN SCHLAFLOSEN NÄCHTEN SOLL MAN NICHT SCHREIBEN
in schlaflosen nächten soll man nicht schreiben
in schlaflosen nächten schreiben macht schmerzen schlimmer
in schlaflosen nächten schreiben macht einsamer
in schlaflosen nächten schreiben macht es trostloser
in schlaflosen nächten schreiben macht noch verzweifelter
in schlaflosen nächten schreiben macht lebensmüde
in schlaflosen nächten will ich nicht schreiben
will in schlaflosen nächten im sarg hin und hergehen
in schlaflosen nächten vorm fenster stehen
in schlaflosen nächten am rücken liegen am bauch an der seite
in schlaflosen nächten das licht abschalten einschalten
in schlaflosen nächten an der straße hocken und trinken
in schlaflosen nächten die stimme erheben und singen
in schlaflosen nächten den himmel auslachen
in schlaflosen nächten ganz leise schluchzen
in schlaflosen nächten heulen und röhren
in schlaflosen nächten einen unfall mitansehen
in schlaflosen nächten über die straße gehen und zurück
in schlaflosen nächten über die straße gehen und zurück
in schlaflosen nächten über die straße gehen und zurück
in schlaflosen nächten rote zigarettenstummel am straßenrand aufheben
in schlaflosen nächten mich selber anzünden
in schlaflosen nächten das kalte leben auf einmal verbrennen
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Bitte setzen Sie sich auf Ihrem Staatsbesuch in China für die Dichterin Liu Xia ein. Ich kenne sie seit über 30 Jahren. Ihr verstorbener Ehemann, der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, ist letztes Jahr nach langer Haft gestorben. Ich habe in Deutschland eine Biographie über Liu Xiaobo herausgebracht, die erste in einer westlichen Sprache. Liu Xia leidet an schwerer Depression. Das chinesische Außenministerium hat auf Anfrage wiederholt behauptet, Liu Xia sei eine freie Staatsbürgerin und habe auch die Freiheit, das Land zu verlassen. Ich möchte Sie bitten, sich dafür einzusetzen, dass Frau Liu Xia nach Deutschland reisen und behandelt werden kann.
Sehr geehrte Frau Merkel, Liu Xia geht es nicht gut. Sie steht schon jahrelang unter Hausarrest. Am Mittwoch, 23. Mai habe ich sie nach acht Uhr am Abend angerufen. Ihre Stimme war schwach, sie hat immer wieder geschluchzt. Sie lässt Sie grüßen! Liu Xia hat mir gesagt, sie hoffe sehr, möglichst bald ausreisen zu können, und nach Deutschland zu gelangen. Ich glaube ebenso wie Liu Xia, dass in der heutigen Welt vielleicht wirklich nur Deutschland und Sie ihr helfen kann. Liu Xia ist eine sehr unpolitische Künstlerin. Sie wird nur als Dissidentin behandelt, weil ihr verstorbener Ehemann, der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, Dissident war. Ich habe erfahren, dass bedeutende Vertreter der deutschen Literaturszene in Berlin bereits für Liu Xia bereits einen Ort gefunden haben, wo sie behandelt werden und sich erholen kann. Die Deutsche Botschaft in China hat auch schon ein Visum für Liu Xia bereit. Aber Liu Xia sagte mir am Telefon, sie habe immer noch keinen Pass, ihr werde kein Pass bewilligt.
Sehr geehrte Frau Merkel, warum wende ich mich jetzt an Sie? Demokratie und Freiheit brechen gerade zusammen, im Westen wie im Osten. Die Diktatur ist wieder im Aufschwung. Aber Sie, Sie sind immer noch eine Wächterin der Demokratie und der Freiheit. Sie waren bereit, diese Werte zu verteidigen, haben sich für Flüchtlinge eingesetzt und haben nicht nur nach unmittelbaren Vorteilen für Ihre Nation, Ihren Staat und seine Wirtschaft gefragt. Gerade weil Sie in der ehemaligen DDR unter einer Einparteienherrschaft aufgewachsen sind, bin ich überzeugt, dass Sie es schaffen, auf höchster Ebene zu erreichen, dass Liu Xia in Deutschland geholfen wird.
Natürlich dient Ihr Staatsbesuch in China in erster Linie dem Fortschritt der Beziehungen mit China in Handel und Wirtschaft. Aber viele Menschen, die sich in Deutschland und in China um Kultur bemühen, setzen gerade auch in der Angelegenheit von Liu Xia eine große Hoffnung in Sie. Ich glaube, in Ihrer Delegation werden Sie auch die richtigen Leute mithaben, die im Detail mit der chinesischen Seite darüber verhandeln können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Bei Ling
Autor von „Ausgewiesen“ (Suhrkamp), „Der Freiheit geopfert: Biographie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo“ (Riva Verlag) etc. Vorsitzender des Unabhängigen Chinesischen PEN-Clubs.
Übersetzt von Martin Winter
ich halt eine pomelo in meiner hand
eine goldgelbe große
mit ihrem leicht bitteren duft
ein kleines messer ist schon genug
obwohl die haut recht dick gewirkt hat
ein wortloser schmerz
ich fang an zu zittern
ein leben in dem du keinen schmerz spürst
ein obst das niemand herunter nimmt
wartet nur aufs verfaulen
ich will wirklich gern die pomelo sein
geschnitten werden oder gebissen
besser im schmerz
in ruhe sterben
als im eigenen faulenden körper
die maden wimmeln sehen
einen ganzen winter
mach ich dieselbe sache
schneid eine pomelo nach der anderen auf
und hol mir nahrung aus ihrem tod
13. September 1999
Übersetzt von MW im März 2018
Liu Xia ist Malerin, Dichterin und Fotografin. Sie war mit dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verheiratet. Geb. 1. April 1961 in Peking. Ehepartner: Liu Xiaobo (verh. 1996–2017) Geschwister: Liu Tong, Liu Hui (Wikipedia)
er hat sich endlich hineingedrängt
als die türen zugehen
erscheint sein gesicht
in die scheibe gepresst
er muss durch die tür schauen
draußen
bin ich ders nicht geschafft hat
ich
schau ihn auch an
als die u-bahn anspringt
bewegt er langsam die augen
immer in meine richtung
bis keiner von uns
den anderen sieht
NEUE LYRIK,
übersetzt und vorgetragen von Martin Wnter.
Yi Sha 伊沙 aus Xi’an 西安 stellt seit 2011 jeden Tag ein Gedicht in chinesischen sozialen Medien vor. Jetzt sind es über 900 Autorinnen und Autoren mit über 2500 Gedichten. Die Initiative heißt auf Chinesisch 新世纪诗典, auf Englisch New Century Poetry Canon, abgekürzt NPC. “NPC” wird sonst für National People’s Congress verwendet, den Nationalen Volkskongress, die parlamentarische Versammlung in Peking, die jeden März zusammentritt. Yi Sha streicht die Abkürzung hervor, weil er stolz ist auf diese breite und dadurch relativ demokratische Versammlung der Poesie aus allen Teilen des Landes. Und das völlig abseits der offiziellen Strukturen wie Schriftstellerverband etc. Berühmte Namen sind vertreten, aber vor allem ist es eine Plattform für vielartige und immer wieder erstaunliche Entdeckungen. Viele dieser Texte werden schon am ersten Tag 10.000 Mal oder noch öfter angeklickt. Später werden sie in Büchern gesammelt, sieben Bände sind schon erschienen. NPC ist mit zahlreichen Aktivitäten in ganz China und darüber hinaus verbunden. Im Herbst erscheint bei fabrik.transit in Wien eine zweisprachige NPC-Anthologie. Am 24. Mai 2018 werden im Literaturhaus Wien bei der Präsentation des China-Schwerpunkts der Zeitschrift Podium AutorInnen vorgestellt, die in der Anthologie vertreten sind.
In München brachten wir neue Lyrik dieser Dichterinnen und Dichter: Chun Sue 春树, Li Xiaoxi 李小溪, Wang Qingrang 王清让, Jun Er 君儿. Und natürlich Yi Sha 伊沙. Dazu noch Liu Xia 劉霞.
Chun Sue 椿樹 AUFGEREIHT
am nachmittag ist mir fad
endlich les ich das buch
das mir vor einem jahr
jemand aus freundschaft geschenkt hat
ich les alle gedichte
traurig sein und betrübt
kommen ein paarmal vor
sex auch nicht wenig
große namen sind hasenlöcher
in der wildnis so häufig
ich les sogar meinen eigenen namen
und den von jemandem
mit dem ich früher beisammen war
das kommt davon dass wir alle dichter sind,
ai!
Übersetzt von MW im April 2017
Chun Sue, geb. 1983 in Beijing, stammt aus Shandong. Nach dem Welterfolg ihres Romans “Beijing Doll” war sie auf dem Cover von Time Magazine. Lebt mit Mann und Kind in Berlin.
In der letzten Nacht in Pjöngjang,
nach dem Abendessen und nach dem Schwimmen,
hab ich ein Rendez-vous
mit einem Burschen aus Hangzhou von unserer Gruppe.
Wir schleichen uns hinaus zum Mondspaziergang,
auf der Brücke
sind wir grad zwei Sekunden,
dann kommen schon Lichter
von Taschenlampen
von weitem. Und Rufe,
vielleicht Parolen zur Warnung.
Wir sind erschreckt
und drehen gleich um.
Ich sag beim Gehen,
mir ist kalt.
Er zieht seine Jacke aus, legt sie mir um.
Unter den prächtigen Säulen
des Kinos von Pjöngjang
umarmen wir uns,
immer noch aufgeregt.
Er sagt, schläfst du mit mir?
Ich lass die Leute in unserem Zimmer
andere Betten finden.
Das ist wirklich romantisch.
Ich sag, bist du lebensmüde?
Was glaubst du, wer ich bin?
Ringsum ist alles finster
Niemand sieht dieses Pärchen.
Nur das große Yanggakdo-Hotel
ist noch hell.
Im Schwimmbecken sind lauter Roboter
Im Kinderbecken auch
Schwimmlehrer sind ebenfalls Roboter
Die anderen bemerken dass ich nicht wie sie bin
Die Lehrerin schickt mich ins Roboterkrankenhaus
Wenn sie nicht aufpassen
renn ich nachhaus
mal mit bunten Stiften ein Bild
mal sie alle hinein
Mal mich selbst auch als Roboter
2015-07-02
Übersetzt von MW im April 2018
Li Xiaoxi (Shanghai), weibl, geb. am 28.7.2008.
机器人游泳池
李小溪(上海)
我去游泳的时候
机器人看着我
游泳池里全是机器人
儿童池里也是机器人
教练也是机器人
人家看我跟他们不一样
教练让我去机器人医院看看
我趁他们不注意
就跑回家
用彩笔画了一幅画
把他们都画下来
把自己也画成了机器人
Wang Qingrang 王清让 1960
Vater hat
zwei Maisdiebe erwischt.
Ein junges Paar, sie knien am Boden:
“Wir haben wirklich keine Wahl!
Das Kind schreit vor Hunger die ganze Nacht,
wir haben kein Körnchen Essen daheim …“
Vater winkt ab,
er lässt sie gehen.
Plötzlich fällt ihm etwas ein,
er ruft sie zurück.
Hebt ein paar Maiskolben auf,
drückt sie in ihre Hände.
Übersetzt von Martin Winter im Februar 2017
Wang Qingrang. Männl., geboren im August 1976. Wohnt in Xinxiang, Provinz Henan.
Als ich 14 bin in der Mittelschule,
schickt Mutter Vater, um mich abzuholen.
Er bringt mich direkt in die Dorf-Strickfabrik.
Sie geben mir ein Versprechen,
schafft meine große Schwester es nicht auf die Uni,
kommt sie statt mir in die Fabrik
und ich darf wieder in die Schule gehen.
Das heißt nur eine von uns zwei Schwestern
darf weiter lernen.
Das Schicksal benachteiligt meine Schwester,
um ein paar Punkte verfehlt sie die Uni.
Ich schaff es bis nach Jinan in Shandong.
Die Schwester arbeitet, heiratet,
hat eine Fehlgeburt, bringt sich um
mit einem Pflanzenschutzmittel.
Am Esstisch spricht Mutter zum x-ten Mal von der Vergangenheit.
Sie sagt, ihr habt es noch nicht so schwer,
wers schwer gehabt hat ist schon längst Asche und Rauch.
Übersetzt von MW, 2015-2018
Jun Er, geb. 1968 im Dorf Yunjiazhuang im Kreis Baochi unter der Stadt Tianjin. Reporterin. Mitarbeit bei der Poesiezeitschrift Kui (Sonnenblume). Lebt in Tianjin.
《针织厂》
上到初中二年级的时候
母亲派父亲去乡中接我
直接把我拉到村办针织厂上班
答应我的一个条件是
如果姐姐考不上大学
由她顶替我到工厂上班而我
可以继续上学
也就是说我们姐妹只能有一个
可以读书
命运薄待了姐姐却厚待了我
姐姐几分之差落榜而我重回校门
以后是我赴山东济南读书
姐姐上班,结婚
孩子死胎,她死于农药中毒
自己对自己下手
饭桌上第N次提起往事
觉悟了的母亲说你们还不是最惨的
是啊最惨的早已灰飞烟灭
Photo by Liu Xia
Liu Xia 刘霞 POMELO
ich halt eine pomelo in meiner hand
eine goldgelbe große
mit ihrem leicht bitteren duft
ein kleines messer ist schon genug
obwohl die haut recht dick gewirkt hat
ein wortloser schmerz
ich fang an zu zittern
ein leben in dem du keinen schmerz spürst
ein obst das niemand herunter nimmt
wartet nur aufs verfaulen
ich will wirklich gern die pomelo sein
geschnitten werden oder gebissen
besser im schmerz
in ruhe sterben
als im eigenen faulenden körper
die maden wimmeln sehen
einen ganzen winter
mach ich dieselbe sache
schneid eine pomelo nach der anderen auf
und hol mir nahrung aus ihrem tod
13. September 1999
Übersetzt von MW im März 2018
Liu Xia ist Malerin, Dichterin und Fotografin. Sie war mit dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verheiratet. Geb. 1. April 1961 in Peking. Ehepartner: Liu Xiaobo (verh. 1996–2017) Geschwister: Liu Tong, Liu Hui (Wikipedia)
Xichang, Internationale Woche der Poesie.
Im Zhaojue-Center
hält Qinglang Lihan
eine programmatische Rede
über Anna Achmatowas
bitteres Schicksal.
Ihr erster Ehemann
Nikolai Gumiljow
wird wegen “Konterrevolution”
erschossen.
Gleich nachher springt
ein Mittelschüler
aus dem Volk der Yi
in moderner Kleidung
auf die Bühne.
In verzerrter Haltung,
mit zornig aufgerissenen Augen
gibt er spuckend von sich:
“Ihr Hundefurz-Poeten,
könnt keinen Stift gerade halten,
vor dem Elend der Leute
verlangt ihr keine Gerechtigkeit!
Dann kommt ihr in die Provinz
und redet von Konterrevolution …”
Wir sind alle baff,
völlig ratlos.
Nachher
fährt unser Bus
durch die Kleinstadt davon,
und ich seh den Schüler
allein auf der Straße,
immer noch zornig
gehen und schnauben.
Wie eine einsame
wandelnde Bombe.
wenn du eine reise tust
konzentrier dich
und alle sachen
werden dich tragen
bevor ich nach laos fahr
ein video: elefantengrenzübertritt
an der grenze china-laos
eine kamera wacht in der nacht
vor mitternacht
überschreitet eine elefantin die schranken
von china nach laos
frisst sich in laos den bauch rund
nach mitternacht
kehrt sie zurück
glaubst du liebt sie ihr vaterland?
dann gib ihr bürgerschaft und einen pass
eigentlich
kann man nicht einmal sagen sie liebt ihr zuhause
sie geht aus ihrem schlafzimmer
in ihre küche
auf einen snack
dann geht sie zurück und schläft sich aus
Der offene Brief von der Sprachkunst ist sehr gut. Gestern hab ich ihn gelesen und gedacht, jetzt möcht ich doch etwas schreiben. Vorgestern hab ich mir die Rede das erste Mal herausgesucht, angeschaut, angehört. Sehr, sehr sehr gut. Sehr, sehr wichtig. Selten. Nicht feig, wie er selbst sagt. Das ist in Österreich schon viel.
Er wollte nicht reden, das glaube ich ihm. Weiß nicht, wer das auswählt. Aber wenn er redet, sagt er, macht er es sich nicht einfach. Das glaub ich ihm auch. Österreich hat ein unheilvolles Bedürfnis nach Harmonie. Klingt mir selbst zu pathetisch, wenn ich das sage. Oder ist es auch Kalkül? Es ist vielleicht beides. Sag etwas Positives. Etwas Konstruktives, Aufbauendes. Das hat Köhlmeier dann im Interview auf ORF2 gemacht. Ich glaube schon, dass er glaubt, was er sagt. Er will es tun. Er will Herrn Schrecken beim Wort nehmen. Natürlich, das sollten wir alle, Politiker beim Wort nehmen.
Wenn du es ernst meinst, bin ich bei dir. Sagt Köhlmeier. Ich will dir erst einmal vertrauen, sagt er. Wenn du sagst, die Partei muss sich ändern. Soll ich mir jetzt die Rede von Herrn Schrecken bei diesem Deutschnationalen Ball heraussuchen? Ich mag keine Videos. Ich mag auch keine Podcasts. Youtube ist etwas Tolles, auch etwas Demokratisches, aber ich mag es nicht. Ich mag Musik auf Platten. Kassetten. Filme im Kino. Reden live, ab und zu. Trete gern selber auf. Genommen werden, ausgewählt werden. Wer hat Köhlmeier ausgewählt? Danke! Tausend Dank! Ich könnte nicht sagen, ich vertraue Herrn Schrecken. Ist das eine Schwäche von Köhlmeier, wenn er sagt, dass er vertrauen will? Vielleicht nicht. Es ist nur im Interview. Die Rede war und ist sehr, sehr, sehr wichtig.
Bei Youtube kommt man vom Hundersten ins Tausendste, auch wenn man sagt, Herrn Schrecken hör ich mir sicher nicht freiwillig an. Aber gleich neben der Köhlmeier-Rede ist die von Arik Brauer. Auch schön. Auch sehr persönlich. Wenn er sich erinnert, an das Kriegsende in Wien. Am Flötzersteig. Hinauf zum Steinhof. Schrebergärten, wo sich Arik Brauer versteckt hat. Als sechzehnjähriger Jude. Noch ein Kind, vom Aussehen und von der Stimme. Ein schöner Sopran, sagt er. Sehr, sehr sympathisch. Das ist Österreich. Wien. Diese Sprache. Jüdisch gefärbtes Wienerisch. Selten. Sehr sehr kostbar, unsere Sprache. Es tut weh. Das Erinnern. Es ist sehr schön. Auch dass er gleich sagt, die meisten Leute haben sich nicht befreit gefühlt. Die Frauen. Die Leute in den Trümmern.
Die Demokratie. Ein zartes Pflänzchen. Man passt auf die anderen auf. In Europa. In der EU. Die Ironie, mit der er das sagt, ist auch sehr schön.
Die Einwanderung, sagt er, sei schuld. Am Rechtsruck. Die Einwanderung aus arabischen Ländern, wo so viele Leute die Juden zurück ins Meer werfen wollen. Da fühlt er sich bedroht. Sagt er. Von der Einwanderung. Die Einwanderung sei schuld am Rechtsruck, auch in Polen, Ungarn und so weiter. Das sagt er dann im Interview. Und Ex-Bundespräsident Ernst Fischer sitzt konsterniert dabei. Fischer war Flüchtling, im Zweiten Weltkrieg. Es tut weh. Die Kameras zeigen, wie die Politiker schauen. Das ist sehr gut.
Arik Brauer wird ganz besonders geliebt und bejubelt. Auch von der Regierung. Und Arik Brauer verbeugt sich mehrmals und schüttelt Herrn Schrecken freudig die Hand.
Welche Einwanderung? Es gibt nach wie vor keine Araber in Polen. Oder in Ungarn.
Welche Einwanderung? In Polen gibt es viele ukrainische Gastarbeiter. Stalin hat ja die Ukraine und Polen nach Westen verschoben. Also dort, wo die ukrainischen Gastarbeitern teilweise herkommen, war vorher Polen.
Wandern die Gastarbeiter ein? Manche, wenn sie können. Glaube ich.
Noch einmal, es gibt keine Einwanderung aus arabischen Ländern in Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei. Überhaupt keine. Vielleicht ein paar ganz wenige SyrerInnen, die es doch irgendwie geschaftt haben. Arbeit. Heirat. Wenige. In Polen ganz sicher noch viel weniger als in Ungarn. Geographie.
Warum sagt Arik Brauer so einen Blödsinn?
Soll ich es analysieren? Warum fallen die Leute auf Schrecken herein?
Es ist alles sehr kompliziert. Sagte Sinowatz, sagt Arik Brauer. In der Demokratie, in Europa. Das ist ja das, was so weh tut. Dass er so gut redet. Bis auf den Blödsinn, bis auf den Schrecken.
Jetzt könnte ich aufhören. Warum fällt jemand auf Schrecken herein?
Moslems gibt es mehr als früher. Muslime. In Österreich. Türken. Tschetschenen. Innen. Frauen. Frauen, Männer, Kinder. Viel mehr Muslime als Juden. Dass es beides gibt, Muslime und Juden, in Österreich, ist sehr, sehr wichtig. Musliminnen, Jüdinnen. Identität. Gehört zu uns, seit über hundert Jahren. Seit ewig. Seit immer. Österreich ist Europa.
Unlängst war im Standard ein Kommentar, der an das Arabische im Römischen Reich erinnert hat. Einige Kaiser, aus Syrien und so weiter. Lukian. Etwas bei Lukian. Europa gabs nie ohne Araber.
Harmonie. Hab ich jetzt auch Harmoniebedürfnis?
Moschee und Kasino. Eines meiner besten Gedichte. Chinesisch, ursprünglich. Geschrieben in Malaysia. Handelt auch von Singapur. Da gibt es Fotos. Wie ich Moslem spiele. Sozusagen. Es war sehr schön.
Jetzt hab ich doch sehr viel geschrieben. Kein Gedicht. Einmal. Friede sei mit Euch, mit uns. Amen.
Shi Ran WIR RENNEN NOCH IMMER VATERS ERWARTUNGEN NACH
beim blättern in vaters manuskripten
fällt mir ein wie enttäuscht
er uns angeschaut hat
kein dichter darunter
als mein kleiner bruder, der jüngste
an die uni gekommen ist
hat vater geseufzt
so viele kinder
keiner wird arzt
heute schreib ich
aus interesse
doch noch gedichte
meine kleine schwester die lange bei medien war
steigt plötzlich um auf chinesische medizin
aber jetzt hat uns vater
schon zehn jahre verlassen
Texte von Li Jingrui 李静睿, Qiao Ye 乔叶, Xi Chuan 西川 und vielen NPC 新诗典 – AutorInnen (siehe unten).
Übersetzungen von Marc Hermann, Julia Buddeberg, Cornelia Travnicek (Erzählungen) und Martin Winter (Gedichte: 新世纪诗典 -NPC)
Im Herbst erscheint bei fabrik.transit in Wien eine zweisprachige 新世纪诗典 NPC -Anthologie.
NPC steht für New Poetry Canon, eigentlich New Century Poetry Canon, 新世纪诗典. Abgekürzt als NPC. NPC steht sonst für National People’s Congress, also der Nationale Volkskongress, Chinas Parlament, das allerdings nur einmal im Jahr im März zwei Wochen lang zusammentritt. Seit 2011 wird von Yi Sha 伊沙 im NPC-新世纪诗典 jeden Tag ein Gedicht vorgestellt, in mehreren chinesischen sozialen Medien zugleich. Oft wird ein einziges Gedicht schon in den ersten zwei Tagen zehntausende Male angeklickt, kommentiert und weitergeleitet. Ein nationaler Poesiekongress.
AAA (3A) 三个A, geb. in den 70er Jahren in Laibin, Provinz Guangxi. Dichter, Schriftsteller, Herausgeber. Erhielt 2015 den Li-Bai-Förderpreis. An Qi 安琪, eigentl. Huang Jiangpin, geb. im Februar 1969 in Zhangzhou, Provinz Fujian. Dichterin, Schriftstellerin, Herausgeberin. Lebt in Peking. A Wu 阿吾, “Dichter und Denker”. 1965 in Chongqing geboren. 1988 Mag. phil. Journalist und Redakteur bei Tageszeitungen, 1994 bis 2005 beim TCL-Konzern. Bei Dao 北岛, eigentl. Zhao Zhenkai. Geb. am 2.8. 1949 in Peking. Gründete Ende 1978 mit Mang Ke die Zeitschrift Jintian (Heute), zur Zeit der Demokratie-Mauer in Peking. Nach dem Massaker von 1989 im Exil. Seit 2007 Professor in Hongkong. Cai Xiyin 蔡喜印, geboren 1966, Hochschulabschluss 1989. Lebt in Hefei, Prov. Anhui. Büroangestellter. Poesieliebhaber über 50. Caiwong Namjack 才旺南杰, männlich, kommt aus Naqu in Tibet. Chun Sue 椿树, geb. 1983 in Beijing, stammt aus Shandong. Nach dem Welterfolg ihres Romans “Beijing Doll” war sie auf dem Cover von Time Magazine. Lebt mit Mann und Kind in Berlin. Eryue Lan 二月蓝, weibl., 1967 in Chongqing geboren. Lokale Regierungsbeamtin. Veröffentlicht seit 1989 in Zeitungen, Zeitschriften etc. Gao Ge 高歌, männl., eigentl. Zhang Chao, im Juni 1980 geb. in Tengzhou, Prov. Shandong. Gehört zum Kreis um die Zeitschrift “Kui” 葵 (‘Sonnenblume’) in Tianjin. Geng Zhankun 耿占坤, geb. im Chaidar-Becken in Qinghai, aufgewachsen in der nordwestlichen Hochebene, stammt aus Zhezhou in Henan. Lebt als Schriftsteller und Verleger in Qinghai. Huang Hai 黄海, geb in den 70er Jahren. Veröffentlichte Essays, Kurzgeschichten, Erzählungen und Gedichte. Lyrik-Preise und Auszeichnungen. Lebt in Xi’an. Huang Xiang 黄翔, geb. 1941 in Guidong, Prov. Hunan. Dichter und Kalligraph, führender Repräsentant der Guizhou-Schule. Ab 1978 Aktionen an der Demokratiemauer in Peking. Immer wieder inhaftiert, lebt seit 1995 im Exil in den USA. Huzi 虎子, eigentl. Zhou Haitao. 1962 geb. in Henan, lebt in Zhengzhou. Zuerst Soldat, später Regierungsbeamter. Publizierte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Jian Tianping 简天平, weiblich, Angestellte in Beijing. Jiang Erman 姜二嫚, weibl., geb. am 26.12.2007 in Shenzhen. Jiang Xinhe 姜馨贺, weibl., geb. am 31.5.2003 in Shenzhen. Betreibt mit ihrer kleinen Schwester Jiang Erman zusammen eine Internet-Plattform für ab 2000 geborene AutorInnen. Jiang Xuefeng 蒋雪峰, männlich, geb. 1965 in Jiangyou, Provinz Sichuan. Lebt dort. Leitet den örtlichen Schriftstellerverband. Jun Er 君儿, geb. 1968 im Dorf Yunjiazhuang im Kreis Baochi unter der Stadt Tianjin. Reporterin. Mitarbeit bei der Poesiezeitschrift Kui (Sonnenblume). Lebt in Tianjin. Li Liuyang 李柳楊, weibl., geb. 1994 in Anhui. Schreibt Gedichte und Erzählungen, Veröffentlichungen in vielen Zeitschriften. Mitarbeit in und Betreiberin von Internet-Plattformen. Lebt in Peking. Li Qi 李琦, 1956 geb. in Harbin. Wurde als Jugendliche aufs Land geschickt, später Universitätslehrkraft und Redakteurin. Veröffentlicht seit 1977. Erhielt den Lu-Xun-Literaturpreis, den Ai-Qing-Lyrikpreis etc. Li Xiaoxi 李小溪 (Shanghai), weibl, geb. am 28.7.2008. Li Xunyang 李勋阳, geb. 1980 in Danfeng, Prov. Shaanxi. Lebt in Lijiang, Prov. Yunnan. Lyriker und Erzähler. Liu Chang 刘昶, geb. im Juli 1965 in Yudu, Provinz Jiangxi. Lebt in Zhuhai.Bauer, Arbeiter, Journalist, Angestellter. “Schreibt Gedichte und sucht nach einem Wert seiner Existenz.” Mo Shanghua 陌上花, weibl., geb. in den 1970er Jahren in Xinxian, Prov. Henan. Lebt in Huizhou, Prov. Guangdong. Qin Yuangu 秦原姑, eigentl. Qin Yuanyuan, 1989 in Lantian, Provinz Shaanxi geboren. Aspirantin an der Xi’an International Studies University. Kunstpreis der Baoshang-Bank in der Kategorie Lyrik. Qizi 起子, geb. 1974, eigentl. Huang Shunliang.Veröffentlichte in Zeitschriften und Anthologien, sowie den Gedichtband “Weiche Zunge”. Sa Dmar Grags Pa 沙冒智化, Tibeter. Freiberufler und Schriftsteller. Schreibt auf Tibetisch und Chinesisch. Geboren in den 80er Jahren in Gansu, lebt in Lhasa. Shen Haobo 沈浩波, geb. 1976 in Taixing, Provinz Jiangsu. 1999 Studienabschluss an der Beijing Normal University. Dichter, Schriftsteller, Verleger. Song Yu 宋雨, weiblich, geb. in den 80er Jahren, kommt aus Altay in Xinjiang. Gehört zur muslimischen Volksgruppe der Hui. “Wohnt in Gebieten, wo keine Pakete zugestellt werden.” Tu Ya 图雅, geboren 1964, lebt in Tianjin. Bekanntestes Gedicht: “Mutter ist in meinem Bauch”. Wang Qingrang 王清让, männlich, geboren im August 1976. Wohnt in Xinxiang, Provinz Henan. Xi Wa 西娃, weibl., 1972 geb. in Jiangyou, Provinz Sichuan. Teilweise tibetische Familie. Erhielt den Li-Bai-Preis in Gold, Silber und Bronze. Xiang Lianzi 湘莲子, weibl., eigentl. Xiao Gonglian, geb. im Februar 1963 in Hengyang, Prov. Hunan. Lebt in Humen, Provinz Guangzhou. Psychotherapeutin in Krankenhäusern. Xie Xiaodan 谢小丹, weiblich, geb. 1991. Xing Hao 邢昊 kommt aus Xiangtan, Provinz Shanxi. Schreibt und veröffentlicht seit den 80er Jahren. “Die Umgangssprache ist ein guter Löffel, um damit einigen Leuten den alten Grind aus ihren Ohren zu kratzen.” Xu Lizhi 许立志, geb. 18.7.1990, gest. 30.9.2014 (Suizid). Geboren in einem Dorf nahe Jieyang, Provinz Guangdong. Arbeitsmigrant bei Foxconn in Shenzhen, Dichter und Blogger. Yang Yan 杨艳, geboren im Oktober 1982 im Kreis Yourong, Provinz Fujian. Lebt in Ningde. Statistikerin. “Poesie ist meine Religion.” Yi Sha 伊沙, eigentl. Wu Wenjian. Geb. 1966 in Chengdu, seit 1968 in Xi’an. 1989 Studienabschluss an der Beijing Normal University. Veröffentlichungen seit den 80er Jahren, über 100 Bücher. Unterrichtet an der Xi’an International Studies University. Yu Zhen 余榛, weiblich, lebt in der Provinz Guangdong. Redakteurin der Zeitschrift “Huiyang Arts & Literature “. Mitglied des Schriftstellerverbandes von Huizhou. Zeng Rulong 曾入龙, geb, 1994 in Anshun, Provinz Guizhou. Gehört zur Volksgruppe der Buyi. Zhao Siyun 赵思运, geb. 1967. Professor an mehreren Universitäten. In der Jury für Literaturpreise in Südchina und Hongkong. Zheng Xiaoqiong 郑小琼, geb. 1980 in Nanchong, Prov. Sichuan. Ab 2001 Arbeitsmigrantin in Dongguan, Prov. Guangdong. Heute Redakteurin in Guangzhou. Zhou Tongkuan 周统宽, männl., gehört zur Volksgruppe der Zhuang. Geb. 1966 im Kreis Rong’an in Liuzhou, Prov. Guangxi. Vize-Chefredakteur der Zeitschrift “Spatzen” (Maque) in Guangxi.
wie oft habe ich
meine einschusslöcher aufgelistet
die ärzte sagen
schussbahnen waren millimeter vom herzen entfernt
ich hab glück gehabt
aber ein halbes leben lang
find ich keine kugeln und keinen schützen
wenn das wetter umschlägt
hab ich die schmerzen
lieg unter der lampe die nur auf mich scheint
und such die wunden
aufgerichtet
schau ich immer noch wie eine zielscheibe aus
horse sculpture
half out of its stable
but from up close it’s alive
imprisoned in a two square meter box
awkwardly craning
its living specimen head
the mane has been coloured
and made into pigtails
eight-hour shift each day
just like me
3/18/18
Tr. MW, May 2018
Pang Qiongzhen PFERDEMUSEUM
eine pferdeskulptur
lugt aus dem stall
von nah ist es wirklich ein pferd
eingeschlossen in zwei quadratmeter bühne
bewegt es den lebenden
kopf den es darstellt
mit bunten zöpfen
acht stunden dienst
jeden tag
so wie ich
sleep is being buried alive
waking up is being dug out again
dream is the world
when you open your eyes
in the dirt
April 2018
Tr. MW, May 2018
Yi Sha DREAM 1274
The Poemlife BBS is still active,
someone has posted
my numbers are fake.
In my NPC I never presented
900 people or 2500 poems.
I’m having serious self-doubts,
even thinking,
“If he says it, goddamn, it must be true.”
April 2018
Tr. MW, May 2018
Yi Sha DREAM 1276
NPC poets visit Japan
Jiang Tao shoots
one adult movie per person
as soon as they know
these movies won’t enter China
it’s no big deal
April 2018
Tr. MW, May 2018
Yi Sha DREAM 1277
I am a Barça manager,
but not the general manager.
The general manager wants to buy
two Suárez clones.
I strongly object,
thinking he doesn’t know about football.
April 2018
Tr. MW, May 2018
Yi Sha DREAM 1279
A strange girl,
doesn’t exist in reality,
uses the phone in a kiosk
(doesn’t exist anymore)
to call her parents.
Her happy laugh makes you smile.
Your relationship with her
is revealed at the end of the dream.
April 2018
Tr. MW, May 2018
Yi Sha DREAM 1280
In a crowd
I hold Wang Youwei by the arm,
he can hardly stand
after drinking.
I turn around,
my bag has been snatched,
everything I have on this trip
was in there.
What do I do now?
I think of returning home
and I’m not afraid anymore.
My home with my mother
alive.
who gives birth to me
feeds me
carries me on the shoulder
to Qinglian who
treats me
pulls me
out of the water
teaches me how to read
calls me by my childhood name
to this day
who dies with my name
on the lips
teaches me how to drink alcohol
hands me the kitchen knife
calls me on the phone
to praise my poetry
the one who loved me
and doesn’t recognize me anymore
who cuts out one kidney
wakes me up from a coma
teaches me tax collecting
waves at me one field away
for the very last time
…
they
are not the same person
they make
this lump of flesh and blood
into a person
3/21/18
Tr. MW, 5/3/18
Jiang Xuefeng DER UND DER MENSCH
der mich geboren hat
der mich gefüttert hat
der mich auf der schulter getragen hat
bis nach Qinglian der mich
untersucht hat
der, der mich aus
dem wasser gezogen hat
der mir das lesen beigebracht hat
der mich heute noch ruft
wie als kleinkind
der mensch der stirbt mit meinem namen
auf seinen lippen
der mir das trinken beibringt
der mir das gemüsemesser in die hand gibt
der, der mich anruft und sagt
er mag meine gedichte
der mich geliebt hat
und mich jetzt nicht mehr erkennt
der mir eine niere herausgeschnitten hat
der mich aus dem koma aufgeweckt hat
der mir das steuereintreiben
beigebracht hat
der mir winkt ein weizenfeld entfernt
und den ich nie mehr sehe
…
die sind nicht alle
derselbe mensch
sie haben mich
diesen klumpen fleisch
zum menschen
gemacht