Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ 3. November 2018
Liu Xia ICH HAB SIE SATT
ich hab sie satt
ich hab sie satt, meine weissen pillen
ich hab es satt, mein lächeln für dich
ich hab sie satt, die toiletten im zug
ich hab sie satt, deine berühmtheit
ich hab sie satt, meine last im herzen
ich hab sie satt
ich hab sie satt, die straße die ich seh auf der ich nicht gehen kann
ich hab ihn satt, den schmutzigen himmel
ich hab es satt, das weinen
ich hab es satt, das sogenannte saubere leben
ich hab sie satt, die falsche sprache
ich hab es satt, dass die pflanzen sterben
ich hab sie satt, die schlaflosen nächte
ich hab ihn satt, den leeren briefkasten
ich hab sie satt, alle zurechtweisungen
ich hab sie satt, sprachlose monate, jahre
ich hab es satt, das rote zeichen das ich auf mir trag
ich hab ihn satt, meinen käfig
meine liebe
es war ein beschissener juni
nicht weil deutschland verloren hat
das war der lichtblick
guten abend gut nacht
ich bin mit meiner arbeit weit hinten
es gibt besorgniserregende nachrichten
natürlich aus den usa
mit rosen bedacht
aber auch aus europa
mit näglein bestickt
konferenzen gegen flüchtlinge
vor einem jahr ist liu xiaobo
schlupf unter die deck
in berlin ein gedenken
liao yiwu und viele andere
morgen früh wenn gott will
gethsemanekirche ein ort der hoffnung
eigentlich sollt ich mich freuen
ich werd übersetzt ich hab bücher geplant
es war ein beschissener juni
nicht weil es geregnet hat
das war der lichtblick
und morgen ist noch eine demo
am anfang hab ich geburtstag gehabt
das war noch ein lichtblick
wie gesagt es schaut nicht so schlecht aus
morgen früh wenn gott will
ist der 30. juni
MW Juni 2018
《紐約書評》:2018年7月13日,柏林Gethsemane教堂(Stargarder Str. 77, 10437 Berlin)舉行曉波遠行一周年全球追憶會
A Berlin Memorial for Liu Xiaobo
On July 13, the one-year anniversary of the day the Nobel Peace Prize Laureate Liu Xiaobo died in custody, writers, scholars, and activists will gather at the Gethsemane Church in Berlin to honor his life and work. The service has been organized by the German pastor Roland Kühne and by Tienchi Martin-Liao, the chief editor of Liu’s works in Chinese, German, and English and president of the Independent Chinese PEN Center. They will be joined by the singer and former East German dissident Wolf Biermann, the poet and Nobel Laureate Herta Müller, the exiled Chinese author/musician Liao Yiwu, and the writer Ian Johnson, a regular contributor to the New York Review. Liu’s “life and death,” Johnson wrote in the NYR Daily last year, “stand for the fundamental conundrum of Chinese reformers over the past century—not how to boost GDP or recover lost territories, but how to create a more humane and just political system.”
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Bitte setzen Sie sich auf Ihrem Staatsbesuch in China für die Dichterin Liu Xia ein. Ich kenne sie seit über 30 Jahren. Ihr verstorbener Ehemann, der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, ist letztes Jahr nach langer Haft gestorben. Ich habe in Deutschland eine Biographie über Liu Xiaobo herausgebracht, die erste in einer westlichen Sprache. Liu Xia leidet an schwerer Depression. Das chinesische Außenministerium hat auf Anfrage wiederholt behauptet, Liu Xia sei eine freie Staatsbürgerin und habe auch die Freiheit, das Land zu verlassen. Ich möchte Sie bitten, sich dafür einzusetzen, dass Frau Liu Xia nach Deutschland reisen und behandelt werden kann.
Sehr geehrte Frau Merkel, Liu Xia geht es nicht gut. Sie steht schon jahrelang unter Hausarrest. Am Mittwoch, 23. Mai habe ich sie nach acht Uhr am Abend angerufen. Ihre Stimme war schwach, sie hat immer wieder geschluchzt. Sie lässt Sie grüßen! Liu Xia hat mir gesagt, sie hoffe sehr, möglichst bald ausreisen zu können, und nach Deutschland zu gelangen. Ich glaube ebenso wie Liu Xia, dass in der heutigen Welt vielleicht wirklich nur Deutschland und Sie ihr helfen kann. Liu Xia ist eine sehr unpolitische Künstlerin. Sie wird nur als Dissidentin behandelt, weil ihr verstorbener Ehemann, der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, Dissident war. Ich habe erfahren, dass bedeutende Vertreter der deutschen Literaturszene in Berlin bereits für Liu Xia bereits einen Ort gefunden haben, wo sie behandelt werden und sich erholen kann. Die Deutsche Botschaft in China hat auch schon ein Visum für Liu Xia bereit. Aber Liu Xia sagte mir am Telefon, sie habe immer noch keinen Pass, ihr werde kein Pass bewilligt.
Sehr geehrte Frau Merkel, warum wende ich mich jetzt an Sie? Demokratie und Freiheit brechen gerade zusammen, im Westen wie im Osten. Die Diktatur ist wieder im Aufschwung. Aber Sie, Sie sind immer noch eine Wächterin der Demokratie und der Freiheit. Sie waren bereit, diese Werte zu verteidigen, haben sich für Flüchtlinge eingesetzt und haben nicht nur nach unmittelbaren Vorteilen für Ihre Nation, Ihren Staat und seine Wirtschaft gefragt. Gerade weil Sie in der ehemaligen DDR unter einer Einparteienherrschaft aufgewachsen sind, bin ich überzeugt, dass Sie es schaffen, auf höchster Ebene zu erreichen, dass Liu Xia in Deutschland geholfen wird.
Natürlich dient Ihr Staatsbesuch in China in erster Linie dem Fortschritt der Beziehungen mit China in Handel und Wirtschaft. Aber viele Menschen, die sich in Deutschland und in China um Kultur bemühen, setzen gerade auch in der Angelegenheit von Liu Xia eine große Hoffnung in Sie. Ich glaube, in Ihrer Delegation werden Sie auch die richtigen Leute mithaben, die im Detail mit der chinesischen Seite darüber verhandeln können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Bei Ling
Autor von „Ausgewiesen“ (Suhrkamp), „Der Freiheit geopfert: Biographie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo“ (Riva Verlag) etc. Vorsitzender des Unabhängigen Chinesischen PEN-Clubs.
Übersetzt von Martin Winter
ich halt eine pomelo in meiner hand
eine goldgelbe große
mit ihrem leicht bitteren duft
ein kleines messer ist schon genug
obwohl die haut recht dick gewirkt hat
ein wortloser schmerz
ich fang an zu zittern
ein leben in dem du keinen schmerz spürst
ein obst das niemand herunter nimmt
wartet nur aufs verfaulen
ich will wirklich gern die pomelo sein
geschnitten werden oder gebissen
besser im schmerz
in ruhe sterben
als im eigenen faulenden körper
die maden wimmeln sehen
einen ganzen winter
mach ich dieselbe sache
schneid eine pomelo nach der anderen auf
und hol mir nahrung aus ihrem tod
13. September 1999
Übersetzt von MW im März 2018
Liu Xia ist Malerin, Dichterin und Fotografin. Sie war mit dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verheiratet. Geb. 1. April 1961 in Peking. Ehepartner: Liu Xiaobo (verh. 1996–2017) Geschwister: Liu Tong, Liu Hui (Wikipedia)
Heute ist der neunte Jahrestag der “Charta 08”. Am 8. Dezember 2008 um 11 Uhr abends drängte sich eine Horde von Polizisten vor der Wohnung von Liu Xiaobo und Liu Xia. Sie hämmerten an die Tür. Liu Xiaobo stand vom Computer auf und rief Liu Xia zu: “Schnell, du musst telefonieren!” Aber Liu Xia telefonierte nicht oft. Es war nicht genug Zeit, sie hatten kaum eine Minute. Sie sagte: “Xiaobo, mach die Tür auf.”
Sie hatte es längst geahnt. Und ihn immer wieder gewarnt.
Xiaobo wurde mit einem dunklen Tuch über den Augen abgeführt. Über einen Monat später führte man Liu Xia in benommenem Zustand in ein Hotel. Dort wartete Liu Xiaobo, man hatte ihn von einem anderen Ort, den er nicht kannte, in dieses streng abgetrennte Zimmer gebracht.
Lieber Freund, du hast uns verlassen. In der Dunkelheit, in der man seine eigenen fünf Finger nicht sieht, hast du noch einen Streifen Licht gesehen. Du hast es stotternd betont: “Ich seh, seh, seh Licht.” Wir haben es nicht gesehen. Liu Xia sagt, sie hat es auch nicht gesehen. Ihre letzte Serie von Fotographien heißt “Einsame Gestirne”. Du, ich, wir, sie, alles einsame Sterne.
Ganz am Ende sind deine Beine auf und ab, auf und ab gegangen, ununterbrochen. Nach über einer Stunde haben Atem und Puls plötzlich ausgesetzt.
Du bist auf dem einsamen Stern dort. Und die Bücher, die Liu Xia in diesen Jahren für dich gekauft hat, die liegen noch im Schrank. Was dir am meisten Leid getan hat, war dass Liu Xia nicht ausreisen konnte, dass sie ihre Freiheit nicht finden konnte. Deshalb schreibe ich diese Zeilen, und mache noch einen Appell.
Ich hoffe, dass die chinesische Regierung aus Gründen der Humanität und des Gesetzes einen Menschen frei lässt, der niemals irgendeines Verbrechens beschuldigt wurde, und der an schwerer Depression leidet. Ich hoffe, dass die Regierungen von Deutschland, Frankreich, USA und alle demokratischen Länder sich dafür einsetzen, und alle Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten. Für die Freiheit der Witwe des Friedensnobelpreisträgers von 2010. Vielen Dank Ihnen allen!
Liao Yiwu
Schriftsteller im Exil, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2012
8.12. 2017
Anmerkung: Liu Xias Gedicht an Herta Müller wurde am 16. Dezember von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) auf Deutsch zuerst veröffentlicht.
Liu Xia:
Liebe Herta,
Ich roll mich zusammen und mach mich klein,
denn jemand hat an meine Tür geklopft.
Mein Hals wird schon hart,
aber ich kann nicht hinaus.
Ich red mit mir selbst,
ich werd verrückt.
Ich bin so einsam,
ich hab kein Recht zu sprechen,
ich darf nicht laut werden.
Ich leb wie eine Pflanze,
und lieg da wie eine Leiche.
Übersetzt von Martin Winter
My Appeal ( 我的呼籲 ):中文在後
Today is the ninth anniversary of “Charter ‘08”. At eleven o’clock at night on the 8th of December 2008, a hoard of police officers flocked towards the home of Liu Xiaobo and Liu Xia. As the pounding on the door resounded through their home, Xiaobo got to his feet in front of his computer and shouted to Liu Xia: “Quick, make the call!” But Liu Xia normally didn’t use a phone…. There was no time. Liu Xia said: “Open the door, Xiaobo.”
She’d long had a premonition. And warned him often….
Xiaobo was led off with a black cloth over his eyes. Over a month later, a disoriented Liu Xia was taken to a hotel where they met again in a sealed room. Xiaobo was brought there from a place he did not know.
My dear friend, you’ve gone. In a darkness so black I can’t see the fingers of my extended hand, you could yet see a trace of light. You always insisted in a stammer: “I see, see, see it.” We didn’t see. Liu Xia says she also did not see. Her most recent group of photographs is called “Solitary Planets”, you, me, us, her, all solitary planets.
On the verge of departure, your two legs were moving up and down, ceaselessly, ceaselessly walking. Up until an hour or so later, till your breath and pulse abruptly halt.
You’re on that solitary planet. And the books Liu Xia bought you these last few years still lie in the bookcase. Your greatest regret was that Liu Xia was unable to leave the country, could not find the freedom that was properly hers. And so I write these words and publicly appeal for her freedom once more.
I hope the government of China, out of basic human decency and in accordance with the law, will release a person suffering deeply from depression who has never broken a law. I hope that Germany, the United States, France, Great Britain and other Western governments, human rights organizations and activists would continue to negotiate with the government of China for the freedom of the widow of the 2010 Nobel Peace Prize laureate.
Thank you all.
Liao Yiwu,
Writer in exile, recipient of the 2012 German Book Industry Peace Prize
Translated by Michael Day
———————————-
Dear Herta
I curl into a ball
As somebody knocks at the door
My neck starts to stiffen
But I can not leave
I speak to myself
I’m going mad
Too solitary
I have not the right to speech
To speak loudly
I live like a plant
I lie like a corpse
Das ist kein gutes Wetter,
sag ich unter der prallen Sonne
zu mir selbst.
Ich steh hinter dir,
geb dir einen Klaps auf den Hinterkopf.
Deine Haare stechen mich in die Hand,
das ist mir neu.
Ich komm nicht dazu, dir noch ein Wort zu sagen,
du bist in den Nachrichten.
Ich schau zu dir auf mit allen Leuten
und werd immer müder.
Ich muss mich verstecken hinter den Massen,
ein bisschen rauchen
und in den Himmel schauen.
Vielleicht wird gerade ein Mythos geboren,
aber die Sonne scheint mir in die Augen,
ich kann ihn nicht sehen.
LIU XIA. Eine Fotografin aus China. Vernissage am 10.Februar 2015. Ausstellungsdauer: 21.Februar – 19.April 2015 m Martin Gropius Bau Berlin. LIAO YIWU
KLAGE UM LIU XIAOBO
Von Liao Yiwu
Er ist tot, was kann das ändern.
Hell scheint die Sonne, Schnee auf den Alpen
glitzert wie Fischschuppen. Seine Asche im glitzernden Meer,
Fischschuppen. Unsere Erinnerung an ihn
schwimmt weg wie Fischschuppen?
Was wird das ändern, er ist tot.
Ein zerrissenes Buch.
Seine Frau, ein verletzes Lesezeichen
rutscht aufs Bettpolster. Sie schaut ihn an,
möcht sich hinwerfen, schrein: „Du darfst nicht sterben! Mein Lieber, stirb nicht, oh Gott!”
Aber sie darf nur schweigend zuschauen,
ein rausgefallenes Lesezeichen,
schaut wie sein Buch zerrissen wird, Seite für Seite.
Die ganze Welt sieht, wie er umgebracht wird.
Weißkittel geistern rund um ihn im Käfig.
Ein Büchermensch, wollt um den Tod nicht China verlassen.
Politischer Häftling, vier mal im Gefängnis,
sagt nun er will im Westen sterben. Hört es irgendwer?
Bist du taub, hast du doch einen Mund.
Bist du stumm, du schaust doch noch zu!
Bist du blind – können Blinde sich aufregen?
Über eine Milliarde Blinde, werden sie sich aufregen?
Was kann das ändern, er ist tot.
Ich wart noch auf die Nachricht, dass sein Flieger abhebt.
Vögel schreien im Wind, in der Nacht.
Blüten fallen, Gras wächst. Frau und Tochter im süßen Schlaf.
Ich geh als Geist auf und ab in der Nacht. Er kommt näher,
fegt als Komet am Horizont. Flug in den Himmel, von 1989?
Lässt die Hand seiner Frau los,
sagt ihr noch, sie soll leben, so gut sie nur kann.
Das war vor vielen Jahren am Tian’anmen.
Panzer dröhnen. Schüsse, Schüsse.
Kinder fallen in Reihen, im Reigen. Seelen steigen,
sagen ihm Lebewohl. Sagen ihm, er soll leben,
so gut er nur kann für die Geister des Massakers.
Was wird das ändern, er ist tot.
Angenagelt von der KP, ewig wie Jesus;
steht auf in Folter und Tod.
Ich wart noch, dass sein Flieger abhebt,
dass er seine letzten Zeilen an seine Liebe zu Ende schreibt,
seine Frau in die Ferne begleitet, in der Fremde begraben wird.
Dass wir oft hingehen können, um nach ihm zu sehen;
wenn die Nacht niedersinkt, die Vergangenheit fließt durch die Zweige.
Aber alles ist uns zersprungen. Er hat keine Freiheit,
im Leben nicht und nicht im Sterben. Seine Asche, seine Liebe.
Die ganze Welt schaut zu, wie ein aufrechter Mensch,
ein besonderes Buch, wie es langsam zerrissen wird.
Niemand kann sie aufhalten, die ignorante Gewalt.
Aber jeder möchte sie aufhalten!
Was kann das ändern, lieber Gott.
Er ist tot.
ich bin die seele von einem mann namens nijinsky
ich esse sehr wenig obwohl ich dünn bin
ess nur was mein geist mich essen lässt
ich mag keinen angeschwollenen bauch
sonst kann ich nicht tanzen
ich hab angst vor den leuten
ich habe angst vor ihnen zu tanzen
sie wollen das tanzen zur unterhaltung
aber die unterhaltung ist tot
sie könnens nicht spüren
und wollen doch dass ich lebe wie sie
ich bleib lieber daheim
bleib weg von den leuten
schließ mich ein in die wohnung
schau auf die wände auf den plafond
ich kann auch leben wenn ich gefangen bin
ich bin ein philosoph ohne denken
auf der bühne des lebens
und keine fiktion
ich bin ein geist in einem körper
rede gern in gedichten
also bin ich der rhythmus
schlafmittel helfen mir nicht beim schlafen
alkohol auch nicht
ich werd immer müder
ich möchte gern aufhören
der geist lässt mich nicht
ich will geradeaus gehen
ganz hoch hinauf und runterschauen
die höhe spüren die ich erreichen kann
ich will gehen
vor langer zeit schon
haben wir von diesem vogel gesprochen
keine ahnung woher er gekommen ist
wir waren ganz aufgeregt
er hat uns zum lachen gebracht
an einem abend im winter
in der nacht, da ist er gekommen
wir haben tief geschlafen
niemand hat ihn gesehen
erst in der früh im sonnenlicht
haben wir auf dem glas
einen kleinen schatten bemerkt
der war lange dort
und wollt noch nicht weg
wir haben den winter verflucht
das lange schlafen im winter
wir wollten eine rote lampe
dauernd brennen lassen
um dem vogel zu sagen
dass wir auf ihn warten
die trauben im hof
sind wieder auf dem rahmen gewachsen
die fenster waren nicht mehr zu
wir haben noch auf den vogel gewartet
an einem samstag
bedeckter himmel, kein regen
sind wir zusammen ausgegangen
um ein neues kleid für mich zu kaufen
es ist dunkel geworden,
bei dem wonton-laden mit vielen leuten
haben wir jeder zwei große schüsseln gegessen
auf dem weg zurück
waren wir ganz still
haben uns innerlich nicht wohl gefühlt
daheim angekommen
die lampe im hof ist aufgeflammt und erloschen
eine kette von grünen trauben war auf den stufen
wir sind zugleich stehen geblieben
haben in den himmel geschaut
gleich wieder auf den boden
er war hergekommen
wir haben nicht gewagt, von ihm zu sprechen
nur im stillen an ihn gedacht
gefürchtet, dass er nie wieder erscheint
endlich war die tür offen
der rote glanz hat geleuchtet
auf dem karierten papier
du hast nicht schreiben können
ich wollte das neue kleid anprobieren
und hab die knöpfe nicht aufgekriegt
Two nights after he went to heaven
I dream of my Mr. Liu.
He is young, in his prime,
in a clean white shirt.
Holding a child
he appears at Beijing Capital airport.
His calm demeanor
makes me feel at ease.
The alarm in his eyes
makes me nervous.
No-one hinders him
from crossing the border,
which means there is a man of the people
behind the counter.
In the end I see his tall figure
on the other side.
The child he is holding
is a doll,
like in a horrror movie.
July 2017
Translated by MW, August 2017
Yi Sha TRAUM 1097
in der zweiten nacht
seit mein lehrer herr liu
in den himmel gestiegen ist
träum ich von ihm
im traum ist er wieder jung
trägt ein sauberes weißes hemd
mit einem kind im arm
erscheint er auf dem pekinger flughafen
sein gefasster ausdruck
macht mich froh
seine wachsamen augen
machen mich unruhig
niemand hält ihn auf bei der ausreise
also war hinter dem schalter
ein mensch aus dem volk
zuletzt sehe ich seinen großen rücken
auf der anderen seite der grenze
das kind das er tägt
ist eine puppe
wie in einem horrorfilm
I have witnessed
how my mentor
went from evil to saviour.
It was in Oslo,
where he proclaimed
to admire Hitler.
It was also in Oslo,
where his chair remained empty.
He sat down in this way
in the halls of the Nobel peace prize.
July 2017
Translated by MW, August 2017
Yi Sha MITANGESEHEN
Ich hab mit eigenen Augen gesehen
wie mein Lehrer und Mentor
vom Teufel zum Heiligen wurde.
In Oslo hat er Hitler bewundert.
In Oslo ist sein Stuhl freigeblieben,
so hat er Platz genommen
im Nobelpreishimmel.
I am sitting with two Mr. Lius
0n the butt of a Liberation,
all kinds of fresh vegetables piled on the truck.
I sit with my teacher both left and right of me,
on old wicker chairs.
My Mr. Liu to the right is my college professor,
advisor for my graduation paper.
My Mr. Liu on the left is a white marble statue,
but he can move and speak.
Last year he was awarded the Nobel prize for peace.
My Mr. Liu to the right is young with black hair,
my Mr. Liu on the left is all white.
My Mr. Liu to the right talks all the time,
explains every detail of every vegetable.
My Mr. Liu on the left listens carefully,
sometimes he puts a question.
I sit absent-minded,
not interested in any stuff on the truck.
I am very content
to be able to sit with these two.
2011
Translated by MW, July 2017
Yi Sha TRAUM 127
ich sitz mit zwei herrn lehrern liu
hinten in einem laster der marke befreiung
auf dem laster ist lauter frisches gemüse
wir drei sitzen auf korbsesseln nebeneinander
ich sitz in der mitte
der rechte herr liu war auf der uni mein mentor
der betreuer meiner abschlussarbeit
der linke herr liu ist eine statue aus weißer jade
lebensgroß und kann sprechen und sich bewegen
erhielt letztes jahr den friedensnobelpreis
der rechte herr liu ist jung und ganz schwarz
der linke herr liu ist älter und weiß
der rechte herr liu redet die ganze zeit
von jedem gemüse im ganzen lastwagen
der linke herr liu hört aufmerksam zu
und stellt manchmal fragen
ich bin ein bisschen abwesend
weil mich das gemüse im wagen nicht kümmert
ich bin schon sehr zufrieden
dass ich dort sitzen darf zwischen den beiden
In my graduation year
I brought back a tape from Beijing to Xi’an
with the voice of Professor Liu.
It was copied uncountable times
and played uncountable times
until the tape was as thin as a hair.
It got stuck in the machine.
The voice was too slow,
like a cow mewing.
My task of enlightenment
was thus fulfilled.
The people who listened
maybe didn’t change very much.
But those who listened
had a happier youth.
I believe they like to think back
even now
on those days.
July 2017
Tr. by MW, August 2017
Yi Sha DIE ZEIT DER AUFKLÄRUNG
In dem Jahr von meinem Uni-Abschluss
hab ich von Peking nach Xi’an
eine Kassette zurückgebracht,
mit Vorlesungen von Professor Liu.
Unzählige Male kopiert
und unzählige Male gehört.
Das Band war am Ende so dünn wie ein Haar.
Es ist stehengeblieben,
der Ton war zu langsam,
wie ein Muhen von alten Rindern.
Meine Aufklärungsarbeit
war damit beendet.
Die Leute, die die Kassette gehört haben,
haben sich eher nicht deswegen
von Grund auf geändert.
Aber die Leute, die zugehört haben,
die haben eine schönere Jugend gehabt.
Ich glaub, daran denken sie
sehr gern zurück.
an arms dealer in class
throws all kinds of tools at our feet
with a cold glint in his eyes
he teaches us how to kill
he likes it when old geezers croak
he talks with a stutter
it takes a while until we realize
who is ai-ai-einstein
irr-irr-rational thinking is not rational
in the end we all stutter
the head of our college stares with surprise
liu-liu-liu xiaobo
you-you-you are a strange kind of thing
but your weapons feel good in our hands
we are all bloodthirsty
at our graduation
we would like to say to the arms dealer
mis-mis-mister liu
you-you-you are a tough guy
but he turns and walks away
1988
Translated by MW, August 2017
Yi Sha LIU XIAOBO
ein waffenhändler wirft vom katheder
pistolen und flinten vor unsere füße
mit kaltem glitzern in seinen augen
bringt er uns bei wie man tötet
er mag es wenn die senilen krepieren
er ist ein stotterer
lange haben wir nicht gewusst
wer ei-einstein sein soll
und dass un-unverstand
nichts mit vereinten nationen zu tun hat
am ende haben wir alle gestottert
der rektor schaut unseren jahrgang ganz erstaunt an
liu-liu xiaobo
wa-was sind sie-sie für ein ding
die waffen liegen gut in der hand
wir sind alle voll blutdurst
beim studienabschluss
mit dem waffenhändler
würden wir gern etwas sagen:
herr-herr-professor liu-liu
sie-sie sind ein harter kerl
er dreht sich um und geht
Mit der Erschütterung, wenn du platzt
werd ich von deinen Splittern gerettet.
In deiner Verachtung
zeigt sich meine Seele.
Sie fleht nur um ganz bisschen Licht,
um einen Augenblick von Vergebung.
Niedertracht breitet die Arme aus
in Erwartung der Wölfe.
Der Tod ist durchsichtig und so durstig
wie bei der Geburt.
Er zwingt die Welt um die ich trauere
einen Grabstein zu finden
für abgelaufene Sprache.
Die Worte kommen als Müll in den Himmel,
dort lassen sie Vögel die Federn verlieren.
Dein Platzen kommt aus weiter Ferne.
Der Endpunkt der Reise ist nicht der wirkliche.
Direkt vor dir steigt der Altar auf,
ein großes und glänzendes Opfer des Fleisches.
Deine Füße hängen fast in der Luft.
Nachdem du gegangen bist
ist mein Heimweg
das Meer geworden
mit dem Fluch einer Dichterin:
“So viel Platz, aber gehen kann man nirgends.”
Streichle mich mit deinem Platzen.
Das Tor der Hölle schlägt krachend zu.
Schluchze, wenn ich schluchze,
sehen Geckos in der Nacht
deine Fußnoten zur Schande.
Wenn die Lieder der Hexen aufsteigen,
hab ich schon meine Ohren verloren.
Geschichte ohne Anfang und Ende.
Ah, geplatzte Zeit.
Nur die Helden bekommen Denkmäler,
auf den Gräbern der Verlierer
pflanzt niemand Blumen.
Meine Liebe, es ist Zeit, aufzustehen.
Die Brücke in Richtung Abgrund stürzt ein.
Wenn du platzt, beiß dich fest an meinem Willen.
Zweifel beginnt mit dem Stein des Sisyphos.
Glaube fängt an mit dem Hausschlüssel, den du verloren hast.
All meine Panik und meinen Hass
geb ich dir, dir allein.
So kann ich noch einmal,
ganz kostbar,
meinen Kopf hoch halten
bis zur dunkelsten Stunde.
Du platzt in meiner Allegorie.
Sedimente der Sprache erzählen
Kafkas geheimnisvolle Testament.
Glaub nicht an die Klugheit,
besonders nicht an die geilen Weisheiten.
Wissen ist ein Bastard des Schreckens,
sucht immer Vater heim, den Philosophenkönig;
während Mutter. die weiß, was Not heißt,
sich an die Schandsäule lehnt, bis sie stirbt.
Meine Erinnerung steht als letzter Schatten
auf den Ruinen, am Eingang zum Albtraum.
Eine glänzende Eidechse
kriecht zwischen Blutflecken.
Mit ihren Tatzen macht sie dich,
obwohl du mittendrin stehst,
zum kühlen Beobachter
Mit einer scherzhaften Neugierde
genießt sie würdevoll eine Kippe.
Jemand poltert an der Tür,
zwingt durch den Türspalt
einen Anruf der ewig nicht durchkommt.
Meine Liebe,
ich brauch dein Platzen.
Die Klagemauer
braucht ihre Tränen.
Hung Hung ONE MAN VS. ONE COUNTRY – FOR LIU XIAOBO
one man dies
one country awakes from a dream
actually it wasn’t sleeping
the country was just pretending to dream
it keeps its eyes open behind its mosquito net
watching who dares to dream their own dream
who dares in their dreams to sing their own song
who dares to call each stag a stag, each horse a horse
this country never sleeps
its atm’s count their money 24 hours
its warriors patrol on the net day and night
to bury alive every weathercock showing his head
this country infects with its disease
the livers that aren’t asleep
so they can’t detox anymore
they can’t tell the limbs to move around freely
the case history of this country is painted as poetry
everyone of the people it calls its citizens
must memorize and recite without rest
just like that hottest summer 28 years ago
a summer that seems to go on forever
one person dies
and the blood that was washed off
flows out steaming again on the square
to jump the dark floodgate
only when this sick country dies
every person can finally wake up alive
7/13/17
Translated by Martin Winter, July 2017
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Hung Hung EIN MENSCH GEGEN EIN LAND — IN GEDENKEN AN LIU XIAOBO
Ein Mensch stirbt.
Ein Land erwacht aus einem Traum.
Eigentlich hat das Land gar nicht geschlafen.
Es hat nur so getan, als würde es träumen.
Hinter seinem Moskitonetz sperrt es die Augen auf:
Wer wagt es und träumt seinen eigenen Traum?
Wer wagts, singt im Traum sein eigenes Lied?
Wer nennt einen Hirsch einen Hirsch, und ein Pferd auch ein Pferd?
Dieses Land kann nicht schlafen.
Seine Bankomaten zählen sein Geld Tag und Nacht.
Seine Krieger patrouillieren 24 Stunden im Netz:
jeder Wetterhahn der seinen Kopf hebt
wird lebendig begraben.
Dieses Land steckt mit seiner Krankheit
jede Leber an, die nicht schläft:
sie können alle nicht länger entgiften
oder Glieder anstiften, sich frei zu rühren.
Es malt seine Krankengeschichte aus als Gedicht
und befiehlt allen jenen, die es seine Bürger nennt
das Gedicht vorzutragen bis sie nicht mehr können.
So wie in jenem heißesten Sommer vor 28 Jahren.
Der Sommer geht offenbar nie vorüber.
Ein Mensch ist gestorben:
Das abgewaschene Blut
spritzt wieder heiß hervor auf dem Platz,
schlägt gegen das finstere Schleusentor.
Nur wenn das schwerkranke Land endlich stirbt
kann jeder Mensch erst lebendig erwachen.
My love, time to get up.
The bridge towards the abyss will collapse.
You are going to burst, please hold on to my will.
Doubt begins from the stone of sisyphus,
faith begins from the house key you lost.
I hand all my panic and hate
over to you
alone,
so I can raise my head high
one more time
until the darkest hour.
From a poem by Liu Xiaobo (1997), adddressed to his wife Liu Xia.
Circulated on July 6, 2017, while Liu is being treated for liver cancer in Shenyang.
Meine Liebe, es ist Zeit, aufzustehen.
Die Brücke in Richtung Abgrund stürzt ein.
Wenn du platzt, beiß dich fest an meinem Willen.
Zweifel beginnt mit dem Stein des Sisyphos.
Glaube fängt an mit dem Hausschlüssel, den du verloren hast.
All meine Panik und meinen Hass
geb ich dir, dir allein.
So kann ich noch einmal,
ganz kostbar,
meinen Kopf hoch halten
bis zur dunkelsten Stunde.
Aus einem Gedicht von Liu Xiaobo an seine Frau Liu Xia, geschrieben 1997. Der inhaftierte Friedensnobelpreisträger wird derzeit wegen Leberkrebs in einem Krankenhaus in Shenyang behandelt.
Übersetzt von Martin Winter am 7. Juli 2017
“I know, we’re all so concerned with Turkey, Syria or that maniac in the US, and that’s alright, but it’s about to draw some attention back to human rights violations in China. Please. I do know some people personally who are or have been imprisoned in China for no crime but writing on behalf of humanistic endeavours.”
“The news that Liu Xiaobo’s time in a Chinese prison has left him terminally ill has spread across the globe.
Liu Xiaobo and his wife Liu Xia have been close friends of mine for decades. As their friend, I hereby call upon the leaders of Western governments, particularly leaders in the US, Germany, France, the UK, and the European Union, to urge the Chinese government to allow Liu Xiaobo and his wife to leave the country to seek medical treatment overseas.
This is a humanitarian imperative.”
Liao Yiwu
2012 Recipient of the Peace Prize of the German Book Trade
26 June 2017
LIU XIA. Eine Fotografin aus China. Vernissage am 10.Februar 2015. Ausstellungsdauer: 21.Februar – 19.April 2015 m Martin Gropius Bau Berlin. LIAO YIWU, MARCUS HAGEMANN, MARTIN WINTER
“Dies ist ein Appell an die chinesische Regierung von Herta Müller, Liao Yiwu, Ulrich Schreiber und vielen Freunden. Inzwischen haben auch Elfriede Jelinek, Eva Menasse, Madeleine Thien, Salman Rushdie, Wole Soyinka, Ian McEwan und 100 weitere Autoren aus allen Kontinenten unterzeichnet.
Nobel Peace Prize Laureat Liu Xiaobo has been diagnosed with liver cancer. His wife, Liu Xia, who has been under house arrest for several years, is also gravely ill. They have the wish to travel to Germany so they can receive medical care. Their wish to leave China is so strong that Liu Xiaobo has stated that – if he is to die – he does not want to do so on Chinese soil. Liu Xia also no longer wishes to live there. Time is running. We urge the Chinese government to grant Liu Xiaobo and Liu Xia the freedom to leave the country!
Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo ist an Leberkrebs erkrankt. Er und seine Frau Liu Xia haben hat den Wunsch geäussert, nach Deutschland auszureisen, um medizinische Hilfe für beide zu bekommen – denn auch Liu Xia, die seit Jahren unter Hausarrest steht, ist schwer erkrankt. Der Wunsch der beiden geht soweit, dass Liu Xiaobo sagt, er möchte – selbst wenn er sterben muss – nicht in China sterben. Und Liu Xia sagt, dass sie nicht länger in China leben möchte. Die Zeit ist knapp. Wir appellieren dringend an die chinesische Regierung: geben sie diesen beiden Menschen die Freiheit, das Land zu verlassen!
El Premio Nobel de la Paz, Liu Xiaobo, está muy enfermo, tiene cáncer de hígado. Tanto él como su esposa Liu Xia han expresado su deseo de poder viajar a Alemania para obtener ayuda médica para ambos. Xiu Liu, con arresto domiciliario desde muchos anos, también está muy enferma. El deseo de ambos, así lo dijo Liu Xiaobo, es tan fuerte que dice no querer morir en China – si esto es su destino inmediato, y su mujer insiste que no quiere seguir viviendo en China. El tiempo apremia, y por ello pedimos al Gobierno de China: Por favor, conceden la libertad a estas dos personas para que puedan dejar el país.
Le lauréat du prix Nobel de la paix, Liu Xiaobo, est atteint d’un cancer du foie. Lui et son épouse Liu Xia ont émis le vœu de se rendre en Allemagne afin de recevoir des soins médicaux pour les deux. En effet, Liu Xia, qui est en résidence surveillée depuis plusieurs années, est gravement malade. Leur souhait est si profond que Liu Xiaobo dit qu’il ne veut pas — s’il doit décéder — décéder en Chine. Liu Xia quant à elle dit qu’elle ne veut plus vivre en Chine. Le temps est court. Nous en appelons d’urgence au gouvernement chinois: donnez à ces deux personnes la liberté de quitter le pays.
Fredspristagaren Liu Xiaobo är sjuk i levercancer. Tillsammans med sin Liu Xia har han uttryckt önskan om att få resa till Tyskland för att där få den medicinska vård de båda behöver. Också Liu Xia, som sedan många år befinner sig i husarrest, är nämligen svårt sjuk. Liu Xiaobo säger att om han måste dö så vill han inte dö i Kina. Liu Xia säger att hon inte längre vill leva i Kina. Tiden är knapp. Vi appellerar till den kinesiska regeringen att snarast ge dessa två människor friheten att lämna landet.
O ganhador do Prêmio Nobel Liu Xiaobo está com câncer de fígado. Ele e sua Liu Xia manifestaram vontade de viajar para a Alemanha, a fim de obter tratamento médico para ambos. Liu Xia, que está sob prisão domiciliar há anos, também está gravemente doente. A vontade deles, nesse sentido, é tanta que Liu Xiaobo afirma que não deseja morrer na China, mesmo que sua condição seja terminal. E Liu Xia diz que não quer mais viver na China. O tempo é curto. Por isso, dirigimos um apelo urgente às autoridades chinesas: concedam a essas duas pessoas a liberdade para sair do país.”
Liu Xia’s handwritten letter
廖亦武: 眼下,刘晓波夫妇已被严密控制,我不得已公布刘霞的手迹。我还有刘霞向国宝提出出国申请的手迹,暂时不便公布。媒体,以及大伙儿可以此为凭:出国治病是他们最迫切的心愿,劉曉波説死也要死在西方,千真万确!
“I am sick of my life, this grotesque life. I want to tear the version of myself who lives this grotesque life to pieces. I long to escape.
I can hardly believe that Xiaobo agreed to leave China together with me and [my brother] Liu Hui. When he finally learned about it, he was very concerned about my illness.
I am grateful to you and to our friends for everything you’ve been doing and cannot wait to embrace you.
I n-need t-to b-b-break out
f-f-from y-y-your s-sp-pout-ting s-song
b-break o-out o-of y-your h-house
m-m-my sh-shoot-t-ting t-t-tongue
m-m-mach-chine g-g-gunn f-fire
it feels so good
i-in m-m-my s-st-tut-t-ter-ring l-life
the-there a-are n-no g-ghosts
ju-just l-llook at-t m-my f-face
I d-d-don’t c-care!
1991
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《结结巴巴》 ST-STO-TO-TT-TERN
m-mein st-sto-to-tt-ternd-der m-mund
b-b-behind-dderter schschlund
b-b-bei-sst- s-ich wund
an m-meinem r-rasenden hirn
und m-meine b-beine –
euer t-trief-fend-der,
schschimmliger schschleim
m-meine l-lunge
i-ist m-müd’ und hin
i-ich w-will r-r-aus
aus eurem g-gross-a-artiggen rh-rhythmus
a-aus eurem h-haus
m-m-meine
sch-schp-prache
m-masch-schinengewehr-s-salven
es tut so gut
in m-meinem st-stott-ttoterndem r-reim
auf m-mein l-leben g-gibt es k-keine l-leich-chen
s-s-seht m-mich a-an
m-m-mir i-ist all-les g-gleich!
1991
Übersetzt von MW im April 2013
<結結巴巴>
結結巴巴我的嘴
二二二等殘廢
咬不住我狂狂狂奔的思維
還有我的腿
你們四處流流流淌的口水
散著霉味
我我我的肺
多麼勞累
我要突突突圍
你們莫莫莫名其妙
的節奏
急待突圍
我我我的
我的機槍點點點射般
的語言
充滿快慰
結結巴巴我的命
我的命裡沒沒沒有鬼
你們瞧瞧瞧我
一臉無所謂
1991
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《精神病患者》 GEISTESKRANKE
theoretisch
weiß ich nicht
wie es sich äußert
wenn eine geisteskrankheit ausbricht
ich hab nur gesehen
in diesem land
in dieser stadt
wenn ein geisteskranker loslegt
streckt er den arm hoch und bricht aus
in parolen
der revolution
theoretically
I don’t know
how it should be
when a mental patient
suffers an outbreak
but what I have seen
in this country
in this city –
a mental patient suffers an outbreak:
up goes his arm
out come the slogans of revolution
1994
Tr. MW, 2013-2014
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《我想杀人》 ICH MÖCHTE JEMANDEN UMBRINGEN
ich fühle mich etwas komisch
ich will jemanden töten
oh! das war letztes jahr
herbst kroch über das laub
zwanzig todeskandidaten
am flussufer nördlich der stadt
“peng! peng!”
einer wurde aufgeschnitten
in der folgenden operation
erhielten WIR eine niere
I am feeling a little strange
– I want to kill someone
Oh! It was last year
autumn crept over the leaves
twenty death candidates lined up
at the river north of the city
„Peng! peng!“
One of them was cut open
and in the following operation
We got a kidney
1994
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《9/11心理报告》 9/11 AUF DER COUCH
erste sekunde mund offen scheunentor
zweite sekunde stumm wie ein holzhuhn
dritte sekunde das ist nicht wahr
vierte sekunde kein zweifel mehr da
fünfte sekunde das brennt nicht schlecht
sechste sekunde geschieht ihnen recht
siebte sekunde das ist die rache
achte sekunde sie verstehen ihre sache
neunte sekunde die sind sehr fromm
zehnte sekunde bis ich drauf komm
meine schwester
wohnt in new york
wo ist das telefon
bitte ein ferngespräch
komme nicht durch
spring zum computer
bitte ins internet
email ans mädl
zitternde finger
wo sind die tasten
mädl, schwester!
lebst du noch?
in sorge, dein bruder!
2001
Übersetzt 2013 von Martin Winter
Yi Sha 9.11 REPORT FROM THE COUCH
Ist second: mouth barn-door open
2nd second: wooden-chicken stiff
3rd second: couldn’t believe it
4th second: it must be true
5th second: what a great fire
6th second: well they deserve it
7th second: this is retribution
8th second: these buggers have guts
9th second: must be their religion
10th second: before I realize
my own little sister
lives in new york
I need a telephone
long distance call!
can’t get a connection!
I go storming for a computer
where is the internet
typing out characters
writing an email
shaky fingers
“sister, sister!
are you alive?
your elder brother is worried sick!”
it is children’s day today
so i’m very very tired
as i’ve been for many years
so i don’t appear so often
so i’m very very late
so i’m here like anyone
so we’re doing what we can
so i’ll have another birthday
so we’ve china to remember
so we’ve 1989
so we’re doing what we can
Herta Müller’s speech on March 20 in Berlin was published in the FAZ on March 26. Very good speech. She has read the biography. Maybe a little too fast. The labour camp didn’t come immediately after the first prison term. He wrote the confession in prison at the end of 1990 and went free in January 1991. Everything else is correct. The episode with his father, who wanted him to give in. And the labour camp. She does take a side, very emphatically. The last sentence is the most important one. “More and more supporters of Charter 08 are disappearing in jail.” Liu Xianbin was sentenced to 10 years a few days ago. Altogether he has been sentenced for more than 25 years since 1989. His most serious crime seems to have been one of the founders of an opposition party at the end of the 1990s. Liu Xianbin’s wife Chen Mingxian chronicles her life in the last 20 years in this account: http://08charterbbs.blogspot.com/2010/10/blog-post_23.html
Teng Biao has disappeared, Ran Yunfei has been detained for a while, and now Liu Xianbin has been sentenced to 10 years, to name but a few. The situation is very clear. No progress, just the opposite.
MuseumsQuartier Wien, Raum D / quartier21 - Photo by Pernille Koldbech Fich
Solidaritäts-Lesung für den inhaftierten Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo
20. März 2011
Österreichische und chinesische Künstlerinnen lesen Texte des chinesischen Bürgerrechtlers. Im Anschluss findet ein Gespräch mit SinologInnen, SchriftstellerInnen und MenschenrechtsexpertInnen statt.
Liu Xiaobo, the Chinese dissident sentenced to 11 years on Dec.25th 2009 for “incitingsubversion“, was awarded the Nobel Peace prize in absentia in Oslo on Dec. 10th, 2010. Liu’s old friend and Independent Chinese PEN co-founder Bei Ling has written a biography of Liu Xiaobo. Bei Ling started off from an essay he wrote in June 1989 in New York, after Liu Xiaobo had been arrested in Beijing in the aftermath of the massacre throughout the city, as People’s Liberation Army troops forced their way through the streets blocked by protesters in the last phase of the demonstrations on Tian’anmen Square. Liu Xiaobo had returned to China from New York and led a hunger strike of intellectuals on the square, supporting the students and Beijing residents in their demands for civil liberties. Bei Ling‘s essay from 1989 was re-published in Chinese in Hongkong and Taiwan in June 2009, and in the German newspaper FAZ on October 12th, 2010, a few days after the Nobel Peace prize announcement from Oslo. Soon after, the German publisher Riva expressed interest in a biography of Liu. Bei Ling had recently written a literary memoir of his years a Beijing underground poet in the 1980s and a literary magazine editor, shuttling between China and foreign countries, in the 1990s. Liu Xiaobo and other old friends such as Liao Yiwu are important figures in Bei Ling’s memoir, to be published by Suhrkamp in Germany this year. So Bei Ling was ready to write his biography of Liu Xiaobo on short notice. It was a crazy idea, but it worked. We worked around the clock in November 2010, and in early December the book hit the shelves. In the first week, from Dec. 9 to 16, it sold 2500 volumes, according to the publisher. Since then, Bei Ling’s biography of Liu Xiaobo has been reviewed in many newspapers, magazines, on TV and radio stations etc. throughout Germany and in neighbouring countries. This month (January 2011), according to the publisher, the book has started to appear on the Spiegel magazine’s bestseller list, the standard list in the German-speaking realm. On January 11th, 2011, a symposion with Bei Ling, Prof. Weigelin-Schwiedrzik, Prof. Findeisen, Prof. Zhu Jiaming, Dr. Felix Wemheuer and others was held at Vienna University and met with great interest among students and teachers from various faculties. Seehere …
Liu Xiaobo biographer Bei Ling at Vienna University on Jan. 11th, 2011. Photo: Angelika Burgsteiner
This is a book about an absent person, who is held in prison; who has won a Nobel Peace prize and is not allowed to collect it: Liu Xiaobo. His old friend Bei Ling writes about him. He draws a many-faceted picture – only a knowledgeable friend can do that. This book is concerned with manifestos, petitions, political actions, but also with self-doubt and guilt, stubbornness and ambition. The author Bei Ling, who was imprisoned himself before, sees his duty in painting a complicated picture of this civil rights activist, with many different shades and colors. Bei Ling knows that he can see Liu Xiaobo only from one side, he can only portray him in profile, not from the front. But even if it is only part of a bigger picture, this part shows us a whole cosmos of courage and repression, of labor camps and life outside watched by security agents, like the life that the wife of this civil rights activist is forced to lead. This book offers a lot of information, but it doesn’t explain everything, because it wants you to keep asking questions. This is why I think everybody should read it.
Elfriede Jelinek, Tr. MW