Der Wagen ist geparkt, ich komm in den Aufenthaltsraum.
Hinter dem Teetisch eine dicke Frau, große Brille mit schwarzem Rahmen,
sie grüßt mich mit ihren Augen.
Ich setz mich, sie schaut mich immer noch an,
sagt aber nichts.
Ihre linke Hand klopft die ganze Zeit,
die rechte liegt flach auf dem Tisch.
Ich erkenne die Chefin, nach ihrem Schlaganfall.
Mein Wagen ist fast schon fertig gewaschen.
Ich frag, wie es ihr geht, ob sie sich besser bewegen kann,
ob ihre zwei Kinder schon verheiratet sind.
Sie schüttelt nur den Kopf,
dann hör ich ein Wort,
das klingt wie “bitter”.
Ich bin schon weit weg mit dem Auto
und denk noch daran,
von ihren Lippen her
wird es bitter gewesen sein.
Du kommst und schaust, mein Gesicht ist verzerrt von zu wenig Schlaf. Wie wenn wir zusammen liegen in derselben Gebärmutter hältst du meinen Kopf mit beiden Händen, zeichnest auf mein Gesicht deinen Heimatort: zeigst auf mein rechtes Aug, sagst, das ist die Nordmauer. Linkes Aug: die Siedlung der Mis, Nase: der Jian-Hügel, Furche unter der Nase: der Zhao-Hügel. Meine Oberlippe, die Bergkönig-Siedlung, da ist jetzt Feuer, Bläschen, Entzündung, und noch bevor du zum Kinn kommst – Nordwestsiedlung, wo du geboren bist – bin ich eingeschlafen.
A book manuscript of 360,000 characters is relased with him, he has served out his sentence. He runs into many friends from before, a wall forms around him. Strangely, the people who envy him are windows with bars. On the street people walk in a hurry, in their looks they carry a prison.
In her childhood, she says, she never saw herself in a mirror. When she wanted to see her own face she bent over the rim of a vat and looked for a while at her floating reflection. Sometimes the water was full to the brim, she had to take care not to dip in her plaits.
Two young women slip into the gynaecology ward. The doctor asks questions, every time it’s the escort who answers. The doctor asks the escort to wait outside. But the other woman walks outside with her. The doctor gets impatient, “It’s you who is pregnant, what are you walking out for?“ In the corridor I saw the two women adjusting their masks. In our small town at the start of the virus they were the first to hide their faces.
We haven’t had very much contact, but then this friend who researches old Chinese literature suddenly calls me. „This is the year of a pandemic, you are a poet, you have to write about this.“ I hasten to say, I am writing, but after the call I’m a little uneasy. If I hadn’t been writing, how could I face my friend? You start on this road of writing poetry, there will be people watching. No matter if you know it or not, it’s like they’re shining a light on your face, looking for the four letters for “poet”, so can I take that, to be on the spot?
Wir brauchen ihre Gebärmütter für Nachwuchs brauchen ihre Körper dass sie nach der Abtreibung die Krankheit weiter bekämpfen. Wir brauchen ihr Haar brauchen wenn sie kahlgeschoren sind ihre heißen Tränen. Wir brauchen ihr sanftes Lächeln im Kontrast zu brutalen Regeln. Aber ihre Regel brauchen wir nicht. Sie sollen ihr Blut geben, das brauchen wir, aber nicht das Blut, das unten aus ihnen herausfließt. Wir brauchen ihnen keine Binden zu geben, brauchen nicht zu wissen wieviele davon sie an einem Tag brauchen. Wir brauchen sie den ganzen Tag auf den Beinen, wir brauchen ihr Weinen, ihr Lachen, wir brauchen sie um zu demonstrieren: in der Katastrophe sind sie noch mehr als sonst gleichberechtigt.
Er hat eine Münze geworfen
um zu entscheiden
ob er an Gott glaubt
oder an Sakyamuni.
Als in Zhejiang
viele Kirchen zerstreut werden
sagt er: Amithaba!
Mein Glaube war richtig.
Und als Notre-Dame in Paris
zerstört wird in Flammen
denkt er fast im Gebet: Lieber Gott,
mein Glaube war wirklich richtig.
Und als das Wort „Gott“ aus den Grundschulbüchern
auf dem ganzen Festland gestrichen wird
sagt sein ernstes Gesicht: Oh Gott!
Mein Glaube war ganz sicher richtig.
Letzte Fassung August 2019
Übersetzt von MW im November 2019
Die anderen haben alle schon aufgegessen und sind gegangen,
bleiben nur die Frau Lehrerin und ich
mit meinen letzten zwei Bissen Reis.
Ich bin wirklich schon satt.
Aber sonst schimpft die Frau Lehrerin, dass ich verschwende.
Also kau ich gar nicht und schlucks nur hinunter.
Sofort nachher
ruft die Frau Lehrerin,
Zhang Yi!
Du hast ein Reiskorn im Gesicht.
er hat sich endlich hineingedrängt
als die türen zugehen
erscheint sein gesicht
in die scheibe gepresst
er muss durch die tür schauen
draußen
bin ich ders nicht geschafft hat
ich
schau ihn auch an
als die u-bahn anspringt
bewegt er langsam die augen
immer in meine richtung
bis keiner von uns
den anderen sieht
you allowed this ape
this strong-reeking filth
worse than any animal
you helped this grinning
creep
this neo-nazi turned
lord of angry losers
free angry losers
free-for-all
all for strong
protection
against
conscience
solidarity
consciousness
of what they do
how they make you screw
the weak
which means you
your own family
some time down the road
always
sooner than you think
don’t think
vote
for the grinning
strong
du wirst es nicht herausfinden
oder es wird nicht bekannt
was passiert wenn du tot bist
oder ich
wir sind nicht wichtig genug
aber auch bei den wichtigen
weiß mans nicht wirklich
MW Oktober 2017
YOU CAN BE SURE
you are not going to find out
or people won’t know
what happens after you die
or I for that matter
we aren’t important enough
but even with those who are
no-one really knows
my dad who died
sent a dream
I set things in motion
padded jackets and quilts, air conditioning
then I thought
maybe add a Little Red Book
when I was small
when Papa raised Mao’s Little Red Book
his face was all red
ihre gewohnheit bei der begattung
hat mich weich gemacht
ihre gewohnheit bei der begattung
war einzigartig
die femme fatale
ich hab ihr gesicht nicht gesehen
ihre kleidung hing wirr von den stühlen
sie hat beim orgasmus geschrien
sie hat den namen des führers gerufen
es hat so lustvoll geklungen
der schrille schrei
hat mich weich gemacht
ich bin kein jude
aber weich von der menschheit
in einem jahr zum dritten mal im gefängnis
zu besuch beim vergewaltiger c
der junge c.: mein freund in der kindheit
auf seinem gewand steht 007
spiegelglatte glatze
wie ein junger mönch gleich nach der weihe
c, willst du rauchen?
hinter dir sticht die sonne
ich seh keine narbe auf deinem gesicht
nur die spiegelnde glatze
aber du sagst: sie hat es genossen
c, willst du rauchen?
ich seh keinen ausschlag auf deinem gesicht
nur dein blick wirkt gefährlich
aber du sagst: sie hat es genossen
aber wieso hat sie’s erzählt beim gesetz
wieso hat das gesetz dich verdroschen
das ist ein gefängnis des staates
vergewaltigung und gesetz
wir wollen beide nicht davon sprechen
c, willst du rauchen?
Again St. Dominic’s in Macau.
There is a room
full of crosses, Jesus in pain.
Different artists imagining
one Jesus Christ
nailed to a cross, made out of wood, silver,
iron …
No matter where Jesus might be right now,
there is always a Jesus
in the hand of an artist
suffering again and again.
There is an open box.
I see His head,
arms and legs, different parts of the body,
separated or joined.
In His tranquil blue eyes
there is a Buddhist woman
crying all over her face.
April 5th, 2016
Tr. MW, October 2016
Xi Wa JESUS IN DER KISTE
wieder in der rosenkirche
ein raum mit lauter kruzifixen
all diese künstler
nageln denselben jesus
an ihr holz, eisen, silber
je nach ihrer vorstellung
egal wo jesus sein mag
es gibt immer einen
der fortwährend leidet
in der hand eines künstlers
in einer offenen kiste
seh ich den kopf von jesus
die glieder, den körper, getrennt
und zusammengesetzt
in seinen stillen blauen pupillen
weint eine buddhistin
über ihr ganzes gesicht
In the same night
in Berlin
I was at two events with Chinese writers.
The female writer who lived in London
gave me a stronger impression
than the male writer who stayed in America.
Her English pronunciation was better, more resonant;
also before at the event with the male writer
I was very thirsty
so I was distracted.
When the female writer was up on the stage
I had drunk enough water,
had been to the bathroom.
Under the light,
from the side she frowned at the moderator.
A grimace like
a Hollywood star doing a fierce ugly Asian.
It was really confusing,
like she was seeing her psychiatrist
at the literature festival.
As she screwed up her face
I really wanted to ask her: Are you happy?
Maybe it was
that special
feeling for form
reminding me of my former self.
At a lit fest in Norway, I had a crowd of high school kids;
when it was over,
I saluted the packed mass in the dark,
like a Young Pioneer.
When I was small,
five different girls
slept at our house.
They were all called Zhaodi.
Zhaodi means “beckoning younger brother”.
My mother was president
of the women‘s association
so she brought them home.
They all had injuries on their faces
or on their bodies.
My mother dabbed them with medicine.
Secretly I took a look.
Only one of the five
beckoned a younger brother.
But he died very soon.
That one Zhaodi
who had had a “didi”,
she had even more injuries.
grau getauchter himmel
graue strasse, graue häuser
grau-graue leute
rutschen durchs grau
wie ein unruhiger hund
grau im gesicht
nicht vor schreck
einfach grau
graue zweige
noch dunkler im grau
die sonne dazwischen
eine weiche kaki
ein mensch schaut hinauf
saugt auf etwas grau
spuckt aus etwas grau
ich seh wie das wabernde grau
vor seinem gesicht
sich in falten legt
Dezember 2015
Übersetzt von Martin Winter im Januar 2015
you cannot put someone’s hair on my head
you cannot add my head to someone’s neck
you cannot use my chest to think of someone’s breasts
you cannot join my arms to someone’s fingers
that hair and that neck, those breasts and those fingers
they don’t belong to me
you cannot change my skin
you cannot correct the shape of my face
you cannot substitute what I wear
you cannot choose the way I look at you
that skin and that shape, those clothes and that mien, they destroy how I am
I am attached to my hair
I am attached to my neck
I am attached to my breasts
I am attached to my fingers
I am attached to all parts of my body
my veins like the hairs on my skin
my voice likes my throat
my child likes my breasts
like my soul likes my flesh
— I live in my body
— without any modification at all
ganz in der früh
kommt ein komisches horn
wie die reveille für die soldaten
mit einem hauch von trauer
über den pechschwarzen himmel
zieht ein gesicht zurück in mein hirn
unser ausbilder mit seinem eisernen willen
allerliebster ausbilder
welches jahr war das, militärisches training
geh scheißen
ich hab die augen zu
vorm sonnenaufgang
schlaf noch eine runde
I n-need t-to b-b-break out
f-f-from y-y-your s-sp-pout-ting s-song
b-break o-out o-of y-your h-house
m-m-my sh-shoot-t-ting t-t-tongue
m-m-mach-chine g-g-gunn f-fire
it feels so good
i-in m-m-my s-st-tut-t-ter-ring l-life
the-there a-are n-no g-ghosts
ju-just l-llook at-t m-my f-face
I d-d-don’t c-care!
1991
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《结结巴巴》 ST-STO-TO-TT-TERN
m-mein st-sto-to-tt-ternd-der m-mund
b-b-behind-dderter schschlund
b-b-bei-sst- s-ich wund
an m-meinem r-rasenden hirn
und m-meine b-beine –
euer t-trief-fend-der,
schschimmliger schschleim
m-meine l-lunge
i-ist m-müd’ und hin
i-ich w-will r-r-aus
aus eurem g-gross-a-artiggen rh-rhythmus
a-aus eurem h-haus
m-m-meine
sch-schp-prache
m-masch-schinengewehr-s-salven
es tut so gut
in m-meinem st-stott-ttoterndem r-reim
auf m-mein l-leben g-gibt es k-keine l-leich-chen
s-s-seht m-mich a-an
m-m-mir i-ist all-les g-gleich!
1991
Übersetzt von MW im April 2013
<結結巴巴>
結結巴巴我的嘴
二二二等殘廢
咬不住我狂狂狂奔的思維
還有我的腿
你們四處流流流淌的口水
散著霉味
我我我的肺
多麼勞累
我要突突突圍
你們莫莫莫名其妙
的節奏
急待突圍
我我我的
我的機槍點點點射般
的語言
充滿快慰
結結巴巴我的命
我的命裡沒沒沒有鬼
你們瞧瞧瞧我
一臉無所謂
1991
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《精神病患者》 GEISTESKRANKE
theoretisch
weiß ich nicht
wie es sich äußert
wenn eine geisteskrankheit ausbricht
ich hab nur gesehen
in diesem land
in dieser stadt
wenn ein geisteskranker loslegt
streckt er den arm hoch und bricht aus
in parolen
der revolution
theoretically
I don’t know
how it should be
when a mental patient
suffers an outbreak
but what I have seen
in this country
in this city –
a mental patient suffers an outbreak:
up goes his arm
out come the slogans of revolution
1994
Tr. MW, 2013-2014
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《我想杀人》 ICH MÖCHTE JEMANDEN UMBRINGEN
ich fühle mich etwas komisch
ich will jemanden töten
oh! das war letztes jahr
herbst kroch über das laub
zwanzig todeskandidaten
am flussufer nördlich der stadt
“peng! peng!”
einer wurde aufgeschnitten
in der folgenden operation
erhielten WIR eine niere
I am feeling a little strange
– I want to kill someone
Oh! It was last year
autumn crept over the leaves
twenty death candidates lined up
at the river north of the city
„Peng! peng!“
One of them was cut open
and in the following operation
We got a kidney
1994
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《9/11心理报告》 9/11 AUF DER COUCH
erste sekunde mund offen scheunentor
zweite sekunde stumm wie ein holzhuhn
dritte sekunde das ist nicht wahr
vierte sekunde kein zweifel mehr da
fünfte sekunde das brennt nicht schlecht
sechste sekunde geschieht ihnen recht
siebte sekunde das ist die rache
achte sekunde sie verstehen ihre sache
neunte sekunde die sind sehr fromm
zehnte sekunde bis ich drauf komm
meine schwester
wohnt in new york
wo ist das telefon
bitte ein ferngespräch
komme nicht durch
spring zum computer
bitte ins internet
email ans mädl
zitternde finger
wo sind die tasten
mädl, schwester!
lebst du noch?
in sorge, dein bruder!
2001
Übersetzt 2013 von Martin Winter
Yi Sha 9.11 REPORT FROM THE COUCH
Ist second: mouth barn-door open
2nd second: wooden-chicken stiff
3rd second: couldn’t believe it
4th second: it must be true
5th second: what a great fire
6th second: well they deserve it
7th second: this is retribution
8th second: these buggers have guts
9th second: must be their religion
10th second: before I realize
my own little sister
lives in new york
I need a telephone
long distance call!
can’t get a connection!
I go storming for a computer
where is the internet
typing out characters
writing an email
shaky fingers
“sister, sister!
are you alive?
your elder brother is worried sick!”