Ich schaus mir an: Ein Frauenleben.
Denk an dich, nimm einen Schluck
und sag: Geh sterben!
In der Brust tuts auf einmal weh,
dann sag ich: Ich vergeb dir,
Lieber.
Das ist mein Schicksal,
nachdem ich dich abgelehnt hab,
lässt du das Fahrrad stehen, an der Sungang-Brücke.
Ich hab Angst, dass du wütend wirst,
Angst, dass irgendwer wütend wird.
Das ist meine Ahnungslosigkeit,
die ich von meinen Eltern hab.
Ja, ich war feig.
Wir haben geheiratet,
wir haben beide ein Zuhause gebraucht,
besonders hier,
wos keine Wärme gibt.
Wie Hund und Katz,
verschiedene Leute.
Du magst Fleisch,
ich Gemüse.
Fleisch und Gemüse gemischt,
passts oder nicht?
Man pickt was heraus
und füllt sich den Bauch.
Jetzt riecht die Wohnung
ganz nach Likör.
Ich geh dem Geruch nach,
beim Buddha-Altar
der selbstgemachte Pflaumenwein,
da fehlt der Korken…
Du hast gesagt, das sei kein richtiger Wein,
als du noch gelebt hast.
Jetzt seh ich dich nicht,
aber willst du mir sagen,
du magst ihn jetzt, bist mir nah?
Ich find den Verschluss nicht,
in der ganzen Wohnung.
Mein Lieber,
ich muss das fertig kriegen,
nicht mehr auf dich angewiesen sein,
und zwar ohne dich.
Wald dieser warmen Nacht
ist ein Stöhnen. Regenwürmer
kriechen auf die Straße,
wechseln ihre Höhlen.
Nachtigallen singen die ganze Zeit diese Nacht,
unter dem Baum, wo du oft hingehst.
Schatten überlagern einander.
Deine Frau schläft, Gesicht zur Wand,
mit einem tiefen Ausdruck,
sehr berührend, wie sie daliegt.
Sollst du das Licht ausmachen und schlafen gehen,
oder die Tür öffnen, das Licht aufdrehen?
In dieser Nacht
weißt du noch gar nicht,
wie du den Morgen erwarten willst.
der geheimnisvollste ort in der stadt
ist unter den kanaldeckellöchern.
da schau ich in die unterwelt,
seh überhaupt nichts
und glaub umso eher
dass da unten was lebt.
wenn ich es anschau,
werd ich auch angeschaut.
endlich kommt der tag,
der deckel geht auf,
da stehen zwei
menschliche gestalten
mit helmen.
die augen, die nasen, die hände, die kleider,
alles pechschwarz.
ich weiß,
das sind ureinwohner
von unten,
vertreter der unterwelt,
mit leuten von oben durch heirat verbunden.
also jemandes sohn,
jemandes ehemann,
jemandes vater.
Oma Zhen ist gegangen,
sie ist 109 geworden.
Leute vom Dorf sind vorbeigekommen,
sie ist ganz still vor dem Grabstein gesessen.
Im Grab war kein Körper, nur Kleider,
von ihrem “Gatten”, den sie nie getroffen hat,
er wurde nach Burma verschickt als Soldat
und starb im Grenzgebiet vor ein paar Jahren.
Er war nicht der einzige dort
ohne Staatsangehörigkeit.
Als Oma Zhen in seine Familie kam,
trug sie bei der Zeremonie einen Hahn.
Der Mann war gerade eingezogen worden, zum Verteidigungskrieg.
Die Schwiegereltern wollten ihn vorher verheiraten.
Später schrieb der Mann aus Yunnan,
da war ein Foto von ihm in Uniform.
Das war ihr einziges Andenken von ihm.
Als sie starb,
hielt sie dieses Bild
auf ihrem Schoß.
Dein Name
ist unter Norwegern der häufigste Name,
aber für mich ist es der einzige Name.
Wir werden uns sehen,
das ist vorbestimmt,
wir werden getrennt sein, das auch.
Wenn es einen Gott gibt,
dann soll er mich strafen.
Bevor Gott dazu kommt,
trifft mich schon meine eigene Strafe.
Wenn ich mich selbst nicht mehr liebe,
dann wächst das Gras dort an der Wand
gleich wie lauter Kreuze heraus.
Eines Tages hat eine jüngere Schwester
ein leuchtend grünes Kostüm getragen,
grün wie eine Melone. Ich frag warum,
sie sagt, mein Mann hat mich betrogen,
und ich geh so zu seiner Familie,
ich will, dass das allen bei ihnen auffällt,
was er aus mir gemacht hat.
Mutter und ihre Schwestern waren 4,
sie war die älteste.
Die jüngste Schwester
war nicht mehr jung und frisch,
sie ist zu den Lius verheiratet worden.
Später
hat sie die Schläge echt nicht mehr ausgehalten,
in einer finsteren stürmischen Nacht
ist sie geflüchtet.
Das war vor über 40 Jahren,
sie ist nie zurückgekommen.
Heute
komm ich vorbei an ihrer Stadt.
Ich schau aus dem Fenster,
schau, was sie hier anbauen,
ungefähr dasselbe wie dort bei uns.
Maisfelder, Reisfelder,
Erdnüsse, Weintrauben, Paprika.
Auf einmal ist mir
viel wohler.
Ich sag ihm ich fühl mich nicht gut.
Er sagt, der Mensch isst Körner und Bohnen, jeder wird einmal krank.
Nachher sag ichs ihm nicht mehr.
Ich sag ihm, im Büro hat es jemand auf mich abgesehen.
Er sagt, fang bei dir selber an.
Nachher sag ichs ihm nicht mehr, wenn was passiert.
Nachher klagt meine Mama, sie fühlt sich nicht gut.
Ich sag, Menschen essen Körner und Bohnen, jeder wird einmal krank.
Meine Mama sagt mir nichts mehr.
Nachher sagt mir meine kleine Schwester, sie wird in ihrer Ehe gekränkt.
Ich sag, du musst bei dir selbst beginnen.
Meine Schwester sagt mir nichts mehr.
Enttäuscht sein, Verzweiflung lassen mich spüren,
dass sie von mir enttäuscht und verzweifelt sind.
Aber ich kann nichts machen, es wird halt nicht wärmer.
die karte zeigt
meine tochter und ich gehen
auf einem hahnenkamm
ich komm mit zur heiratsverhandlung
meine tochter mein einziges kind
wird vielleicht hierher verheiratet
und für immer hier bleiben
bei jedem schritt
geht meine sorge mit
in zögernden tritten
jede falsche entscheidung
kann dazu führen
dass die zukunft meiner tochter
vom hahnenkamm runterfällt
entweder nach russland
oder in die äussere mongolei
oder gleich in den fluss
in den eisigen irgun
Zwei Frauen gehen mit mir
zur Messe zur Kirche im Ort.
Der Chor hebt an,
wir stehen auf von der Bank,
halten uns an den Hand.
Die Frau links von mir,
ihr Mann leistet sich eine andere.
Die Frau rechts neben mir,
ihr Sohn hat Mittelmeeranämie.
Ich schreibe lyrische Gedichte
in Schwermut, denke an Selbstmord.
Gott in der Höhe
sieht uns ein bisschen zittern.
Pang Qiongzhen SAKA SAKA!
– für meine Freundinnen aus der Republik Kongo
Saka Saka!
Das Geräusch der Maniokblätter,
mir rinnt das Wasser im Mund zusammen.
Saka Saka!
Wir sind in Strandkleidung im Unterricht,
Saka Saka!
wenn wir müde sind, kauen wir Blätter und tanzen.
Saka Saka!
Es ist lustig, aber ich lächle gezwungen.
Saka Saka!
Kongo! Kongo!
Zwei Mal im Leben ein großes Fest!
Hochzeit! Begräbnis!
Uebersetzt von MW im Nov. 2021
(Saka Saka ist im Kongo ein typisches Essen aus Maniokblättern.)
in diesem entlegenen dorf
sind über 30 junggesellen
jedesmal wenn sie an frauen denken
brennen sie vor durst
dann schultern sie schaufeln
gehen graben am hang
bis ihnen am rücken der schweiss rinnt
dann nehmen sie erde in beide hände
und atmen tief ein
der dorfkader sagt mir
diese methode
habe ein junggeselle erfunden
nachher hättens immer mehr nachgemacht
so hätten sie ausgehalten bis jetzt
alle die armut abgeschüttelt
nicht einer sei straffällig geworden
und keiner sei am durst gestorben
Ein Brautpaar,
die Trauung ist vorbei,
das Bankett beginnt.
Gedämpfter Fisch, gebackene Schenkel,
Freilufthähnchen, Feuertopf-Fleischstreifen, Schinken mit Pinienblüten…
Ich nehm ein Stück Fisch,
stopfs in den Mund,
schmeckt nicht schlecht, nur nicht wie Fisch.
Schenkel, auch nicht wie Schweineschenkel.
Mein Nachbar sieht meinen Gesichtsausdruck,
er sagt mir, die ganze Tafel
ist vegetarisch.
Oh, der Bräutigam
kommt aus einer religiösen Familie.
Aber ich nicht,
wir alle hier nicht.
Also warum
sollen wir vegetarisch essen?
und wenn schon
warum wird es so zubereitet
dass es Fleisch oder Fisch ist?
Wenn ich es esse,
denk ich da nicht mit jedem Bissen
an getöte Tiere?
ich krieg den anruf,
hab mich noch nicht gemeldet,
da unterbricht sie mich schon:
bruder, du kriegst kein kindermädchen,
du kriegst keine frau auf dem land.
weißt du wie alt mein sohn ist,
er ist 29,
hat noch keine freundin.
nicht dass er nichts besonderes wär,
nicht, dass es daheim nicht so gut wär,
es gibt einfach keine frau
auf dem land.
auch eine wie ich in meinem alter
kommt nur zum frühlingsfest für ein paar tage
und ist dann wieder weg.
so eine alte mama
kann ich ihn auf jeden fall nicht
suchen lassen.
Heuer regnet es viel,
die Dachrinne im zweiten Stock ist verstopft,
ein großer nasser Fleck auf der Mauer.
Der Mann regt sich auf,
Er findet keinen für die Reparatur,
niemand kommt für diese Lappalie.
Die Frau sagt, mach es doch selbst!
Der Mann sagt, der Giebel ist hoch und eng,
ich kann dort nicht stehen.
Die Frau sagt, ich geh schon! Ich bin dünn.
Auf dem Dach sind ein paar Ziegel kaputt, die gehören ersetzt.
Der Mann sagt, da mach ich noch gute Ziegel kaputt.
Die Frau sagt, ich geh! Ich bin dünn und leicht.
Ein Freund lädt zur Hochzeit, man trifft sich davor für Geschenke.
Der Mann hält die Einladung und sagt,
ich geh! Du bist dünn, du isst ja so wenig!
in seinem Bergwerk
gibt es die Frau von einem Bergarbeiter,
die ist arroganter als er selber.
Am Mahjong-Tisch
stellt sie die Steine auf,
“Was? Ich Alte kann mir nicht leisten,
50 Yuan zu setzen?
Mein Mann fährt hinunter, an einem Tag
bringt er 300 Yuan heim.
Wenn er zum Hundsfott nicht zurück kommt
krieg ich in spätestens drei Tagen
600.000 Yuan Entschädigung
auf die Hand!”
Unterwegs zum Flughafen Baita,
auf dem Weg nach Haila’er
bin ich extra
zum Grab von Zhaojun gefahren.
Ich geh in die Ausstellung,
seh die Geschichtszeugnisse,
denk wie Zhaojun
aus der Hauptstadt Chang’an
tausend Meilen weit weg
an die Hunnen verheiratet wird,
für den Frieden
zwischen der Han-Dynastie
und dem Volk der Xiongnu.
Und ich flieg in die Innere Mongolei,
komm zu Zhaojuns Grab
nur zum Vergnügen,
nur als Touristin.
Ich weiß wirklich nicht, soll ich mich freuen
oder schämen.
Ich war mit Song Yulan in der Oberstufe.
Vor dem Liebesfest kommt sie aus dem Süden und besucht Verwandte.
Wir treffen uns bei der Schule wie vor 30 Jahren.
Die Oberstufe ist jetzt ein Kindergarten.
In den Bergen im Westen am Teich der weißen Pferde
ist immer noch ein stiller Weg unter Bäumen.
Wir sitzen Schulter an Schulter im Wald,
reden über Mitschüler von damals.
Wang Jun und Zhao Qiong kommen auf,
wir versinken in Schweigen.
Nach dem Abschluss wollten sie heiraten,
die Eltern haben die Hochzeit verhindert.
Die beiden haben sich im Teich ertränkt ,
das war in der Gegend
ganz lange das Thema.
Den Hang hinauf
nehmen wir uns von selbst
an der Hand.
Der Junggeselle Huang Einei
ist gestorben,
keiner trauert um ihn.
Als er am Leben war,
hat keiner mit ihm geredet.
Ein Verwandter sagt,
er war immer allein,
stechen wir ihm eine Papierfigur
und verbrennen sie!
Jemand schlägt vor,
schreibt einen berühmten Namen drauf!
Zhao Liying
Liu Shishi
Yang Mi
Liu Yifei
Alles reiche Fernsehstars!
Aber jemand meint,
diese Namen,
in der Unterwelt,
wie kommt er an so eine heran?
Schreiben wir lieber Spitznamen,
Blümchen,
Pflänzchen,
Mädel,
Pupperl
Solche Namen passen zu ihm,
die kann er kriegen und erhalten.
Außerdem, ein Bein ist genug,
passt auch zu Einei.
Heute vor elf Jahren
haben wir uns den Trauschein geholt
für neun Yuan.
Zusammen mit dem Grundbuch der Wohnung
sind die beiden Scheine
nun um ein Vielfaches aufgewertet.
2021-05-27
Übersetzt von MW im Juli 2021
Wang Yilan, geb. 1985, wohnt in Qinhuangdao. Seit Ende 2020 Mitglied der Aofu Poetry Society. Liest immer schon gern, schreibt alles Mögliche. 《新诗典》小档案:王乙蓝,1985年生人,现生活在河北秦皇岛,对文字一直有深刻的热爱,喜欢阅读各种书籍,平时也写一些说不上什么类型的文字,2020年底加入傲夫诗社开始接触口语诗,进而开始这方面的创作,有诗作发表在一些诗歌公众号。
Ich war das erste Mal bei der Arbeitsstelle von meinem Mann bei einem Symposion. Wollt einen guten Eindruck machen, hab geschwankt zwischen vielen Sachen zum Anziehen, dann etwas gewählt, ich glaub, attraktiv und seriös. Dann wieder daheim beim Ausziehen seh ich, unter der leicht durchsichtigen Bluse trag ich zwei BH, schwarz und weiß. In der Hitze in dieser Sitzung den ganzen Nachmittag hab ich gar nichts gemerkt.
Meine Frau weiß,
wann ich jeden Monat
mein Gehalt krieg.
Und an dem Tag,
ganz pünktlich,
erinnert sie mich mit einer Nachricht,
ich soll ihr Geld überweisen.
Machmal gehts mir auf die Nerven,
manchmal möcht ichs nicht hergeben.
Von meiner Mama
hab ich ein Lied im Ohr,
das kommt mir dann daher:
„Ehe mit Kerl, Essen, frierst nicht mehr!“
In August 2008,
to celebrate the Beijing Olympics‘ opening,
a bunch of us mountain bike fans rode to Penglai Island
for camping.
There was an old guy in a flower shirt,
bald,
thick lips,
sitting beside a low wall.
He told me his story,
how his former wife mistreated him,
beat him,
cursed him
and I felt sympathy.
Yuan Xiaoqing DICHTER ERSCHEINT AUF BILDSCHIRM BEI HOCHZEIT
Heute abend
bin ich eingeladen
zu einer Hochzeit.
Vor der Feier
seh ich an der Bühne, auf dem Bildschirm
steigen langsam die Namen
der Hochzeitsgäste mit ihren Berufen.
Ich hätt nicht gedacht,
dort oben erscheint
auch mein Name,
und das ist eigentlich
nicht so wichtig,
hinter meinem Namen
bemerk ich
das Wort
Dichter.
Normalerweise
hab mich noch nicht
so vorgestellt,
aber jetzt erscheint es
bei der Tochter des Literaturkritikers Wang Gan
auf der Hochzeit.
Übersetzt von MW im Februar 2021
Yuan Xiaoqing, geb. 1962, Dichter, Schriftsteller, Kritiker, Maler. Reporter und Redakteur bei Fernsehen, Radio, Zeitungen. Studierte Chinesisch an der Universität Nanjing. Veröffentlichungen auf dem chinesischen Festland, in Amerika und in Taiwan. Lebt in Taizhou, Provinz Jiangsu. 《新诗典》小档案:袁晓庆 “隐匿的新生代诗人”,作家、批评家,兼及文化史研究和书法、绘画创作。1962年生。南京大学中文系毕业,历任电台、电视台、报社记者、编辑。作品见诸大陆、台湾、美国《诗参考》《现代诗》《新大陆》等。著有诗集《袁氏物语》《现实的鸟语》以及《泰州历代书画名家传》《旧综迹:现当代人文史述丛考》等,与汤泓合著诗歌小说集《人间消息》、散文随笔集《萧散人语》以及《纯粹的声音:作家艺术家访谈录》《百年电影泰州人》《拟古写今:汤泓袁晓庆画辑》等。现居江苏泰州。
Mir fällt ein Stein fällt vom Herzen,
ich strahl übers ganze Gesicht.
Mein schlechtes Gewissen ist reduziert,
ich bin voller Glückwünsche.
Ein bisschen fühlt es sich an
wie meine kleine Schwester verheiraten,
meine Tochter verheiraten.
Nur nicht wie
meine Ex-Frau verheiraten.
Ein Dorf in Nepal, die Landschaft ist schön.
Iris und Hiobsträne blühen,
Elefanten rennen über die Hügel,
Buddha wohnt im Herzen der Menschen.
Der Ort gehört zu Kathmandu, zur „Stadt des Lichts“.
Jeder Mensch hier hat nur eine Niere.
Die andere wird keinem Gott geopfert,
sie wird auswärts verkauft, für Leute, die’s brauchen.
Davon kriegt man ein Stück Land und baut sich ein Haus,
und in diesem Haus lebt man dann ohne Sex.
Eine Frau heißt Jida, sie und ihr Mann,
sie glauben, ihr Filterorgan,
das auch ihr Liebesleben bestimmt,
das sei wie die Obstbäume hinter dem Haus,
eines Tags wird etwas wachsen, eines nach dem anderen.
Es war Mamas Mitgift,
sie hat es mir geschenkt.
Ich leg es aufs Dach, um den Regen zu hören.
In regenlosen Nächten
füll ich das Becken mit klarem Wasser,
lass den Mond darin wachsen.
Viele Jahre später seh ich Ai Hao wieder beim Dichtertreffen von Mianyang. Hast dich umgeschaut? fragt er. Nicht eilig, sag ich, und du? Er sagt, er wolle nicht wieder heiraten. Nicht noch einmal jemand unglücklich machen.
Mamas kleine Schwester war 30 und noch nicht verheiratet. Im Dorf hat man gesagt, das ist nicht durchgegangen. Mit 32 hat sie geheiratet, links und rechts die Nachbarn sind gratulieren gekommen, die Ehe meiner Tante, die war durchgegangen.
Bei uns dort im Dorf findet man Ehe, das ist alte Zeitungen aufs Fenster kleben. Schicksal, das ist ein Streifen Licht der aufs Fenster fällt.
Meine Kusine, ehrbar geworden, verheiratet, mit ihrem eigenen Geschäft das wunderbar geht. Auf WeChat sagt sie uns die ganze Zeit aus ihrer reichen Erfahrung wie wir es besser machen sollten. Aber in ihren Videos sagt sie kein Wort, spricht nur mit Blinzeln und Augenbrauen. Meine Kusine lebt in den Bergen, ungehemmt von Natur aus, nimmt was sie kriegen kann, und lauter Videos. Außerdem zeigt sie uns wie gut sie ihre Kinder erzieht.
Ich hab sie schon jahrelang nicht gesehen und hab auch gar keine Lust dazu.
Als er jung war hat er sich das Phoenix-Fahrrad im Brautpreis nicht leisten können und deshalb seine herzensgeliebte Xiao Fang nicht gekriegt. In mittleren Jahren hat sein Sohn als Mittelschüler mitgemacht beim Fahrraddiebstahl, wurde bei einer Großfahndung verhaftet, zu Gefängnis verurteilt. Als alter Mann lernt er, mit dem Smartphone den Barcode zu lesen, um ein Fahrrad zu leihen. Sieht Räder überall auf der Straße, lacht und lacht und weint.
Dieses Seidenraupental wählt eine Seidenfrau. Die Erwählte egal ob sie Fee oder Göttin genannt wird war immer schon nicht sehr weltlich. Sie ist ein schönes und sanftes Mädchen, bekommt gut zu essen und gut zu trinken, aber sie darf nichts mit Burschen haben, sie darf nicht heiraten. Bis sie den Kriterien nicht mehr entspricht, oder bis sie stirbt. Dann wählt man eine andere.
My wife taught me not to touch the elevator, but to bring a few seeds when I went out. When I was done I would throw them into the grass by the door. Lockdown days went on longer and longer, I had thrown away seeds over one dozen times. January passed into February, every time I threw an arc I would think maybe in March we will have a patch of sunflowers coming out.
Old Zhang from our company has been riding his bicycle to and from work for two years with great results. Fatty liver high uric acid high blood fat what not, no need to worry at all anymore. Eating together over the weekend, I say congratulations, his wife has a dour look on her face. “Nothing to get jealous about, day after day on that old bike, ruining his prostate.” Old Zhang says not a word, keeps picking up food.
5/9/2020 Translated by MW, May 2020
Mo Gao, orig. name Xiao Leng, comes from Mianyang in Sichuan, works in a company. Has published poetry in The Star, Poetry Monthly, Sichuan Literature, Shandong Literature etc. Started studying colloquial poetry and Yi Sha’s theory recently during the virus crisis, tries his hand daily now. 《新诗典》小档案:莫高,本名肖棱,四川绵阳人,现在企业供职。之前曾在《星星诗刊》、《诗歌月刊》、《四川文学》、《山东文学》等刊物发表诗歌。疫情期间接触口语诗,学习伊沙“口语诗伦理”后,茅舍顿开,现在每天都在坚持练手感。
Faced with three or four competitors, how did I manage to win my wife? It was because one day at six in the morning I was already at the door to her dormitory, to work out at parallel bars. When they showed up for work and said oh, Mr. Ai, so early, I just smiled, pointing behind to her dormitory, said I had never left since yesterday.
Translated by MW, May 2020
Ai Mi
TÖDLICHE WAFFE
Gegen drei oder vier Konkurrenten,
wie hab ichs geschafft, meine Frau zu gewinnen?
Ich war eines Tages
schon um sechs in der Früh
vor der Tür von ihrem Wohnheim
beim Morgensport am doppelten Barren.
Als die Leute zur Arbeit kamen,
sagten sie Herr Ai, heute so früh!
Ich lächelte nur,
deutete
auf ihr Wohnheim
und sagte:
Ich bin seit gestern hier.
Übersetzt von MW im Mai 2020
Ai Mi, born 1978 in Mianyang, Prov. Sichuan. Lives in Jinan, Shandong, works in education. Read two books by Yi Sha and started to try writing poems like that. 《新诗典》小档案:艾米:1978年人,祖籍四川绵阳,现居山东济南,从事教育工作。读了伊沙的两本诗集《车过黄河》和《鸽子》,感觉这样写诗很棒,开始尝试口语诗写作。Ai Mi, kommt aus Mianyang in Sichuan, lebt in Jinan, Provinz Shandong. Arbeitet im Bildungssektor. Hat zwei Bücher von Yi Sha gelesen und wollte auch solche Gedichte schreiben.
Going through my social media I see a lyrical poetess who is going to get married to a full moon. I feel very sorry for her, but have no idea how she could be rescued.
Es hat geschneit.
Der alte Liu der keine Frau hat
baut im Hof einen Schneemann
mit einer roten Mütze.
Jemand geht vorbei und sagt
bei Herrn Liu
kommt eine Frau dazu.
Jacqueline,
die Frau von Martin Winter,
kontaktiert mich, sagt Martin
hat auf einmal eine fixe Idee
für einen neuen Gedichtband,
er geht in Wien ins Irrenhaus,
eine Lebenserfahrung.
Ich kontaktiere Martin
und sag ihm:
„Geh auf keinen Fall,
sobald du hingehst
sind alle Patienten geheilt,
alle Ärzte rennen weg,
aber du bist verrückt.“
November 2019
Übersetzt von MW am 1. Dezember 2019
Qiu Shanshan: Große Pause 课间休息 裘山山 übersetzt von Carsten Schäfer(科隆)译
Huang Beijia: Die We-Chat-Gruppe 万家亲友团 黄蓓佳 übersetzt von Cornelia Travnicek(下奥地利)译
Zhang Yueran: Familie 家 张悦然 übersetzt von Helmut Forster(法兰克福)译
Xu Yigua: Schülerakte Huang Bohao 小学生黄博浩文档选 须一瓜 übersetzt von Martina Hasse(汉堡)译
Jiang Yitan: Durchsichtig 透明 蒋一谈 übersetzt von Martin Winter 维马丁 (维也纳)译
Zhou Xuanpu: Zu Diensten 雇佣 周瑄璞 übersetzt von Julia Buddeberg(慕尼黑)译
Cui Manli: Guan Ais Stein 关爱之石 崔曼莉 übersetzt von Maja Linnemann (不来梅、北京)译
Poesie 诗歌
Duo Yu: Daheim Gelassen, 9 Gedichte 被居家 朵渔 übersetzt von Martin Winter 维马丁 (维也纳)译
Yi Sha: Opa im Mund der Tante, 5 Gedichte 家庭诗 伊沙 übersetzt von Martin Winter 维马丁 译
An Qi: Wie kann ein Seelenbaum einschlafen ganz in der Angst, 3 Gedichte
诗三首 安琪 übersetzt von Martin Winter 维马丁 译
LEUCHTSPUR 2019: Neue chinesische Literatur
Deutsche Ausgabe der Zeitschrift Volksliteratur – People’s Literature 人民文学 (Renmin Wenxue), größte Literaturzeitschrift in China.
Erhältlich bei den Übersetzern, beim Konfuziusinstitut Wien (Prof. Richard Trappl), beim Konfuziusinstitut Frankfurt etc. sowie bei den Verlagen Edition FabrikTransit (www.fabriktransit.net unter Bücher/ Weitere lieferbare Bücher) und Drachenhaus (www.drachenhaus-verlag.com).
Außerdem erhältlich direkt bei Renmin Wenxue 人民文学 in Peking am nordöstlichen 3. Ring, südlich vom Landwirtschafts-Messegelände. Nongzhanguan Nanli 农展馆南里 Nr.10号, 7.Stock (Fremdsprachenabteilung, Frau Li Lanyu 李兰玉),U-Bahn Linie 10, Station Tuanjiehu 地铁十号线团结湖站B出口 Ausgang B
Wir betreten die Große Moschee
in der Huajue-Gasse in Xi’an,
da bemerk ich erst, Frau G ist Muslima.
Sie erzählt vom Begräbnis ihres Vaters.
Ihr Mann Yi Sha und männliche Verwandte
haben ihren Vater mit sauberem Wasser gewaschen,
in ein 12 Meter langes Leintuch gewickelt und begraben.
Aber für sich wählt sie das nicht, sie will mit Yi Sha,
ihrem Han-chinesischen Mann, beisammen sein.
Mindestens dreimal abgelehnt,
aber meine Ex bringt eine Torte
und gratuliert mir zum Geburtstag.
Auf der Torte
steckt ein Paar Flügel.
Soll ich senkrecht aufsteigen bis in den Himmel
oder auch wenn ich Flügel hätt komm ich nicht weg?
Ich blas die Kerzen aus,
beiß die Zähne zusammen
wünsch mir und bete
dass ich die wahre Liebe noch finde
und wieder heirate bevor ich 40 bin.
Meine Ex fragt
was ich mir gewünscht hab
ich sag
der Himmel beschütze China
bewahr uns vor Schritten wo wir wieder kippen
in die Kulturrevolution.
Hung Hung FLÜCHTIGE VERBRECHER
– Demonstration in Hongkong am 12. 6. 2019 gegen Auslieferung nach China
Zehntausende, wie können Gassen leer bleiben.
Die Gassen sind auch gedrängt voll.
Eine Million auf der Straße,
eine Million Wohnungen bleiben allein,
Schreie von draußen hallen darin,
wirbeln ein bisschen Staub auf.
Betten, die Nacht um Nacht müde Körper stützen
Aufgeschlagene, plötzlich verlassene Bücher
Im Eck noch einzelne, verlorene Socken
Regenschirme, von Stürmen zerbeult
Fragen sich
wo sind ihre Herren und Frauen geblieben?
Wo treiben sie sich herum?
Sind sie geflohen?
Aus der Kulturrevolution nach 1989 geflohen
Vom großen Platz auf die einsame Insel
Von einem WeChat-Konto zu einem Gesicht
Dann ist nur noch das Meer.
Wohin willst du fliehen?
Eine Million Menschen,
sind sie alle Verbrecher?
Abgesehen von ihnen, noch eine Million und noch eine Million
sind sie alle Verbrecher?
Die ihre Geschäfte, ihre Unis und Schulen, ihren Flugplatz verlassen,
und jene, die mit Gewehren und Schilden einer Million gegenüberstehen,
sind sie alle Verbrecher?
Wer hält sie mit Gewehren auf?
Jesus auf der Flucht
Allah auf der Flucht
Propheten schaffen die Flucht nicht
und werden zurück geschickt in die Kerker
Gläubige schaffen die Flucht nicht
und werden zerschnipselt im Operationssaal
Und dann noch die Vorsichtigen, die sich in ihrer Arbeit vergraben,
wie lange können sie fliehen?
Wer hat die Macht, sie zu begnadigen
für welche Verbrechen?
Wer gibt ihnen ihre Zimmer mit ein bisschen aufgewirbeltem Staub,
wer gibt ihnen ihre offenen Bücher zurück?
Und das Bett, das noch schaukelt?
Hung Hung DIE WELT IST NICHT EINGESTÜRZT – ZUR ERINNERUNG AN DIE ERSTE “GENOSS*INNEN”-EHE IN TAIWAN AM 24.5.2019
Als ein Motorrad sich in ein Elektrofahrrad verliebt hat
Als ein Riesenrad sich verliebt hat in ein Ringelspiel
Als ein Neonlicht sich verliebt hat in einen Regenbogen
Da ist die Welt nicht eingestürzt. Sondern schöner geworden.
Wenn deine Einsamkeit meine Einsamkeit tröstet
Wenn deine Zufriedenheit meine perfekt macht
Und deine Punktezahl mit meiner zusammen ergibt eine Hochzeitsreise zum Mars
Dann stürzt die Welt nicht ein. Sondern wird schöner.
Umarmt euch weiter, verachtet die Welt
Steigt gemeinsam und versinkt zusammen
Nehmt verlassene Kinder auf. Wir waren auch welche.
Wenn du eine Mandarine schälst, hat sie viele Spalten.
Aber ich will auf jeden Fall deine andere Hälfte sein.
Und die Welt stürzt nicht ein. Sondern wird schöner.
if we could keep in mind what happens to people,
in xinjiang, in syria
in china thirty years ago
or fifty or sixty
or in europe,
I guess you know when, some of it
for some place,
if we could keep in mind what happens to people,
maybe we could be kinder.
it is too hard to keep bad things in mind
all the time.
so what can we do?
I don’t know.
but it’s such a waste
if we don’t bear in mind
the kind of joy and hope that we had
when we cared for each other.
MW June 4th, 2019
GEDANKEN IM FLUGZEUG
Manchmal können wir großherzig sein.
Jeder will geschätzt werden, jeder ist froh
wenn er loslassen kann, was ihn bedrückt.
Jeder braucht Aufmerksamkeit.
Aufmerksam sein, was die anderen brauchen.
Manchmal bemüht man sich auch zuviel.
Für die anderen und für sich selber.
Schätz deinen Mann. Also nicht,
wieviel Geld ist er wert,
jedenfalls nicht nur.
Wieviel sorgt er sich.
Sag ihm, du liebst ihn.
Wenn es stimmt.
Wahrscheinlich stimmt es.
Hoff ich halt.
Manchmal sind wir besser,
dann wieder nicht so toll.
Tollwütig, manchmal.
Vom Affen gebissen.
Manchmal braucht ihr Zeit für Euch selber,
manchmal ihr zwei, nur ihr zwei.
Weg von den Kindern.
Jedenfalls ist das bei uns so.
Zwei oder drei allein ist ok,
manchmal auch gut.
Sei froh, dass der andere da ist.
Dass er lebt, dass sie lebt.
Also jetzt kommen wir eh bald an.
My friend Qiang has found Budda,
Buddha this Buddha that all day long,
hasn’t found a wife yet,
so he says his karma will turn around.
Then his boss fires him,
so that was karma too.
Losing money in business
he says “good!” because good luck must follow.
When his mother kills a chicken
and his father drinks alcohol
in front of him, he tells them they are sinning.
Recently Qiang has got diarrhea,
runs to the toilet from morning till evening.
I tell him go to a doctor, take medicine;
he says no problem, no problem,
this is like monastic practice, too.
mein erstes kind
war mit meinem mann vor der heirat
keine wahl konnte nur abtreiben
wusste nicht wie um urlaub ansuchen
ging am nächsten tag ins büro
nach meinem sohn
war noch drei mal
habs nicht gewagt
es wär auch nicht gegangen
bin brav ins krankenhaus hab abgetrieben
einmal daheim pillen genommen
mir war so übel bin fast gestorben
jedesmal mit meinem mann
gestritten einen monat sogar ein halbes jahr
deshalb hat unser eheleben
schon lange aufgehört
jetzt leben wir nebeneinander
einigermassen
freundschaftlich
wie tief die staatliche politik
in einem haushalt in china
ins eheleben eindringt
ich glaub ich hab das recht
auch etwas zu sagen
I hand over
my household registration,
my ID card.
my passport,
a certificate from my work
for how many years of employment,
how much I make every month,
how many days of vacation they gave me,
how much of that I’ll be spending abroad.
Proof that I own my apartment,
dirver’s licence,
bank certificate, signed and stamped
about my income this year
and over 100.000 in my my account.
It wasn’t easy, but someone
went for me to the people’s court
in another city 500 miles away
and copied
my divorce agreement
from 27 years ago.
My Shiba Inu,
pure Japanese breed,
secretly
went along after me,
also like some kind of
proof.
jetzt in laos
jucken die füss
dadurch denk ich
an meine ex
20 jahre geschieden
manches ist anders
manches verschwunden
beim waschen zusammen
gibt sie mir den fusspilz
sobald ich herumrenn
hört das jucken nicht auf
Frischen Mais,
Kartoffeln,
Süßkartoffeln
und drei Rindsaugen-Melanzani
geb ich in einen Topf.
Dampf steigt auf, dann
kommt der Deckel drauf.
Ein Pfeifen,
ein paar mal.
Wenn ich genau zuhör,
ist es wie
bei der Großtante in Qinghai die Kusine,
13 Jahre alt,
bei der Hochzeit geweint hat.
Heute ist der neunte Jahrestag der “Charta 08”. Am 8. Dezember 2008 um 11 Uhr abends drängte sich eine Horde von Polizisten vor der Wohnung von Liu Xiaobo und Liu Xia. Sie hämmerten an die Tür. Liu Xiaobo stand vom Computer auf und rief Liu Xia zu: “Schnell, du musst telefonieren!” Aber Liu Xia telefonierte nicht oft. Es war nicht genug Zeit, sie hatten kaum eine Minute. Sie sagte: “Xiaobo, mach die Tür auf.”
Sie hatte es längst geahnt. Und ihn immer wieder gewarnt.
Xiaobo wurde mit einem dunklen Tuch über den Augen abgeführt. Über einen Monat später führte man Liu Xia in benommenem Zustand in ein Hotel. Dort wartete Liu Xiaobo, man hatte ihn von einem anderen Ort, den er nicht kannte, in dieses streng abgetrennte Zimmer gebracht.
Lieber Freund, du hast uns verlassen. In der Dunkelheit, in der man seine eigenen fünf Finger nicht sieht, hast du noch einen Streifen Licht gesehen. Du hast es stotternd betont: “Ich seh, seh, seh Licht.” Wir haben es nicht gesehen. Liu Xia sagt, sie hat es auch nicht gesehen. Ihre letzte Serie von Fotographien heißt “Einsame Gestirne”. Du, ich, wir, sie, alles einsame Sterne.
Ganz am Ende sind deine Beine auf und ab, auf und ab gegangen, ununterbrochen. Nach über einer Stunde haben Atem und Puls plötzlich ausgesetzt.
Du bist auf dem einsamen Stern dort. Und die Bücher, die Liu Xia in diesen Jahren für dich gekauft hat, die liegen noch im Schrank. Was dir am meisten Leid getan hat, war dass Liu Xia nicht ausreisen konnte, dass sie ihre Freiheit nicht finden konnte. Deshalb schreibe ich diese Zeilen, und mache noch einen Appell.
Ich hoffe, dass die chinesische Regierung aus Gründen der Humanität und des Gesetzes einen Menschen frei lässt, der niemals irgendeines Verbrechens beschuldigt wurde, und der an schwerer Depression leidet. Ich hoffe, dass die Regierungen von Deutschland, Frankreich, USA und alle demokratischen Länder sich dafür einsetzen, und alle Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten. Für die Freiheit der Witwe des Friedensnobelpreisträgers von 2010. Vielen Dank Ihnen allen!
Liao Yiwu
Schriftsteller im Exil, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2012
8.12. 2017
Anmerkung: Liu Xias Gedicht an Herta Müller wurde am 16. Dezember von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) auf Deutsch zuerst veröffentlicht.
Liu Xia:
Liebe Herta,
Ich roll mich zusammen und mach mich klein,
denn jemand hat an meine Tür geklopft.
Mein Hals wird schon hart,
aber ich kann nicht hinaus.
Ich red mit mir selbst,
ich werd verrückt.
Ich bin so einsam,
ich hab kein Recht zu sprechen,
ich darf nicht laut werden.
Ich leb wie eine Pflanze,
und lieg da wie eine Leiche.
Übersetzt von Martin Winter
My Appeal ( 我的呼籲 ):中文在後
Today is the ninth anniversary of “Charter ‘08”. At eleven o’clock at night on the 8th of December 2008, a hoard of police officers flocked towards the home of Liu Xiaobo and Liu Xia. As the pounding on the door resounded through their home, Xiaobo got to his feet in front of his computer and shouted to Liu Xia: “Quick, make the call!” But Liu Xia normally didn’t use a phone…. There was no time. Liu Xia said: “Open the door, Xiaobo.”
She’d long had a premonition. And warned him often….
Xiaobo was led off with a black cloth over his eyes. Over a month later, a disoriented Liu Xia was taken to a hotel where they met again in a sealed room. Xiaobo was brought there from a place he did not know.
My dear friend, you’ve gone. In a darkness so black I can’t see the fingers of my extended hand, you could yet see a trace of light. You always insisted in a stammer: “I see, see, see it.” We didn’t see. Liu Xia says she also did not see. Her most recent group of photographs is called “Solitary Planets”, you, me, us, her, all solitary planets.
On the verge of departure, your two legs were moving up and down, ceaselessly, ceaselessly walking. Up until an hour or so later, till your breath and pulse abruptly halt.
You’re on that solitary planet. And the books Liu Xia bought you these last few years still lie in the bookcase. Your greatest regret was that Liu Xia was unable to leave the country, could not find the freedom that was properly hers. And so I write these words and publicly appeal for her freedom once more.
I hope the government of China, out of basic human decency and in accordance with the law, will release a person suffering deeply from depression who has never broken a law. I hope that Germany, the United States, France, Great Britain and other Western governments, human rights organizations and activists would continue to negotiate with the government of China for the freedom of the widow of the 2010 Nobel Peace Prize laureate.
Thank you all.
Liao Yiwu,
Writer in exile, recipient of the 2012 German Book Industry Peace Prize
Translated by Michael Day
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Dear Herta
I curl into a ball
As somebody knocks at the door
My neck starts to stiffen
But I can not leave
I speak to myself
I’m going mad
Too solitary
I have not the right to speech
To speak loudly
I live like a plant
I lie like a corpse
i think it would be good if you could
change your country more often
learn hungarian
maybe teach english german chinese
current chinese poetry anything useful
not because you really have to
but in a kind of rotating fashion
then it would also be very good
to be young again
but that happens in dreams
and i’ve had a good life
to change your gender
just for a while
would be interesting too
anyway
a different country
for almost anyone once in a while
not just traveling
would be great
for world peace
so how many things
did genghis khan change
asks my wife
People are roses, people are leaves.
Marriage is
planting a flower,
tilling a field,
repairing a tractor.
Or using another one.
Experience helps,
although you always hope
it works the first time.
People are flowers, people are stars.
Marriage is
falling
back on each other,
each other’ s friends and family.
Anne-Laure and Noel,
we wish you the moon
and the sun forever
as beautiful as they are here.
We love you. Take care!
was mach ich ganz zuerst in der früh
aufwachen
aufs klo gehen
wieder aufwachen
dich spüren
wecker ignorieren
aufstehen
kinderfrühstück
milch, brote
müsli, in china reisbrei
gestern wollte er pizza
für dich tee, malzkaffee
für mich auch irgendwas
unten vorm haustor am eck an der mauer
wächst etwas mit blauen blüten
in the morning the sun
a red sliver
on the wall in our room
the kids are awake
daughter washing her hair
son on the toilet
runs back to bed
like an elephant
tomorrow he’s 12
I feel the pulse in your neck
and get up to make breakfast
MW March 2017
picture by Yang Jinsong
12
die sonne ist in der früh
ein roter streifen
an der schlafzimmerwand
die kinder sind wach
die tochter wäscht sich die haare
der sohn rennt aufs klo
und noch mal ins bett
A young couple, they are kneeling down:
“We have no choice!
Our child is so hungry, crying all night!
There’s not a grain of food in our house …”
Father waves his hands,
letting them go.
Suddenly, he thinks of something
and calls them back.
Picks up a few of the cobs they have dropped,
stuffs them back in their hands.
Tr. MW, February 2017
Wang Qingrang 1960
Vater hat
zwei Maisdiebe erwischt.
Ein junges Paar, sie knien am Boden:
“Wir haben wirklich keine Wahl!
Das Kind schreit vor Hunger die ganze Nacht,
wir haben kein Körnchen Essen daheim …”
Vater winkt ab,
er lässt sie gehen.
Plötzlich fällt ihm etwas ein,
er ruft sie zurück.
Hebt ein paar Maiskolben auf,
drückt sie in ihre Hände.
Ab 1990, nach der Vereinigung von BRD und DDR, kamen ehemalige Grenzsoldaten vor Gericht, die Grenzflüchtlinge erschossen hatten. Sie verteidigten sich damit, auf staatlichen Befehl gehandelt zu haben. Aber der Richter sagte: Ihr hättet ein bisschen höher zielen können. In China, gibt es da Leute, die “ein bisschen höher gezielt haben”? Dieses Gedicht gibt eine Antwort! Gedichte gelten als kleine und nichtige Dinge, aber ist Poesie nicht noch etwas mehr?
sie haben ein altes theater abgerissen
sie haben einen ahnentempel demoliert
sie haben den hof ausradiert, wo der urgroßvater geboren wurde
wo sein urenkel hochzeit halten wollte
sie haben das ganze dorf abgerissen mit dreihundert haushalten
und stammbäumen von 400 jahren
und die alten gräber die keiner mehr kennt
sie wollen ein vergnügungsviertel errichten
sie wollen ein kaufhaus erbauen
und noble wohnhäuser
das kann ich verstehen
was ich nicht verstehe
tut was ihr halt tut
aber dass ihr hier wo das dorf der familie shen war
ein großes schild hinstellt
“slumviertel-umgestaltung”
ihr stößt leute nieder
und spuckt auch noch drauf