Zhou Fangru DAMALS HAB ICH AM ABEND NICHTS ESSEN KÖNNEN
Eine kaum mit mir verwandte Verwandte
hat mir immer selbstgepflanztes Gemüse
und selbstgemachte Kuchen gebracht.
Jedesmal, wenn ich abgelehnt hab,
hat sie gesagt, ich sei zu mager.
Eines Tags hat mich ein Schuldner verfolgt und beschimpft,
ich war sehr niedergeschlagen.
Sie bringt mir einen Sack Mais und Salat.
Ich hab mir gedacht, bring mir einen Sack Geld!
Wegen dieser Idee
hab ich mich den ganzen Tag geschämt.
Wegen behördlicher Kontrollen
dürfen keine Schiffe hinaus.
Jemand hat Mitleid,
wir laufen heimlich aus dem Hafen.
Ganz langsam im Tempo
und dann treiben lassen,
zwei, drei Seemeilen.
Dauernd ruft jemand an.
Wir können nicht weiter fahren.
Lasst es uns hier machen!
Lasst es uns hier machen,
bei der Mündung des Neuen Yongding.
Ich glaube, sie wollte es so.
Wenn schon in Tianjin, dann nicht weiter weg.
Hier ist der Tempel der Seekönigin.
Aber weil dich niemand rettet
gibt es keinen Meerespark.
Und Menschenmassen sind nur Gedränge.
Es gibt auch keinen Hafen mit Schiffen.
Sie will ja nur still hinaus aufs Meer.
Ich verstehe auf einmal!
Einfach Drehung nach links!
Lasst das Schiff hinausschauen!
Nicht auf die Stadt zurück!
Nur ein kleines Stück, nur ein kleines Stück!
“Wir dürfen nicht weiter, es geht nur hier.”
Ich habe gelernt, ein Schiff zu lenken.
Da hat sie mich sehr unterstützt.
Aber jetzt
kann ich das Steuer nicht übernehmen,
schon gar nicht telefonieren mit der Behörde.
Jetzt sind alle da, Familie und Freunde,
ich kanns auch nicht verschieben,
dass du noch hinkommst, wo dus am liebsten hast.
Na gut, es geht nur hier.
Schon gesunken, die Knochen!
Aber die kleinen Stückchen,
die treiben noch ein Stück mit dem Fluss,
diese zermahlenen Knochennadeln,
die können wahrscheinlich doch tief ins Meer.
Vielleicht kann nur das Pulver, die Asche
am Ende hinaus auf den Pazifik.
Nach unzähligen Strudeln
bis über den Äquator
in das warme Meer
das du so geliebt hast.
Ach!
Ich muss mir im Meer die Hände waschen,
das Letzte gehen lassen von dir.
Du kannst endlich untertauchen,
kannst endlich das tun, was du immer schon wolltest.
Diese Chance auf Freiheit brauchst du mir nicht überlassen,
geh nur und schwimm durch die Korallen.
Noch etwas tiefer,
blaue Seesterne schauen, Seepferdechen auch.
Noch etwas tiefer,
zu den Nautilusschnecken,
lass dir erzählen, wo auf der Erde das Leben begann.
Aber sie müssen ihr nicht erzählen
warum sie ein Schneckenhaus trug.
Sie braucht es nicht mehr.
Sie ist ein Teil des Meeres geworden.
Pang Xiaowei
2025-03-30
Übersetzt von Martin Winter
Als ich klein war, in Jahren mit schlechter Ernte
fehlte uns Reis daheim und auch Kleidung.
In Sommernächten
liefen Mama und ich im Mondlicht
in die Felder anderer Leute und brachen Maiskolben ab.
Wenn jemand am Weg in der Nähe vorbeikam,
hockten wir uns auf die Erde und versteckten die Körbe.
Im klaren Mondlicht
Froschquaken über die Flur.
Mama kriecht ganz leise durch Gras und Gesträuch,
dreht sich um und lächelt mir zu.
Ihre weißen Zähne
strahlen wie frische Maiskörner.
Ich hab das nicht als Diebstahl betrachtet.
Ich denke heute
noch so.
Meine Tochter ist nicht sehr aufmerksam,
ruft mich nicht extra am Feiertag an.
Ich bin nicht verletzt.
Weiß noch, ich hab gekocht,
die Klinge trifft meinen Finger
und das Blut fließt.
Sie ist geflogen
um für mich Pflaster zu kaufen.
Ich habs ihr zwar aufgetragen,
aber der Schweiß auf ihrer Stirn,
das war sie selbst.
In der Nacht ist mir meine Mutter
das erste Mal nach ihrem Tod
im Traum erschienen.
Zuerst liegt sie eingewickelt auf einer Bahre,
dann steht sie auf,
geht in den Wald,
wo die Sonne nicht hinkommt.
Sie sagt zu mir,
du traust dich nicht,
ruf deinen großen Bruder an,
damit er mir
die Totenkleider anzieht.
Ich lehn mich ans Fenster
und schau hinein.
Drinnen sitzen drei alte Leute
an einem gerade saubergemachten Tisch.
Einer hat mich gesehen,
ich winke ihm zu.
Er winkt zurück,
ich seh lauter Zweifel
in seinem Blick.
Ich will ihm sagen,
wenn ich es eines Tages
nicht mehr aushalte,
komm ich zu euch,
dann spielen wir Karten.
When I was small,
my dad would point at beggars by the road,
asking me, is that your dad?
I always got angry and refused to answer.
He didn’t know,
each time other students pointed at him,
asking me, is that your dad?
I also didn’t want to say yes.
2023
Translated by MW in January 2024
有一种父亲
方妙红
小时候我爸
经常指着路边的乞丐问我
那是你爸爸吗?
我总是生气地不说话
他不知道
每当我同学指着他问我
那是你爸爸吗?
我也不想说是
Fang Miaohong MOURNING
I call my father on WeChat.
He is at the mourning hall for my aunt,
in four days she will be buried, he says.
I say oh,
then I feel a little like crying.
“I broke up with that guy!”
My father hesitates,
“Can’t talk now,
full of people here.”
Volunteering at the social services station,
kids climbing into my lap,
hanging onto me
like stray cats at the rescue service.
One child keeps to himself,
sits motionless.
I go and ask him,
“Don’t want to play together?”
“No, you will leave soon anyway,
when you are gone, we get to eat.”
These three poems are typical for “colloquial poetry”, they talk of daily life, they speak directly of personal experience. Speaking directly, up to a point where the speaker, the “I” in the poem, may feel uncomfortable, not very happy about it, but it has to come out. The person inthere has ambiguous feelings, and this ambiguity is where the poetry comes from. Fang Miaohong writes all the time, every day, recording life, her feelings, her dad comes up often, for example. One poem is called My Bicycle, and it is really just about a bicycle, but the feelings and the ambiguity are plainly there. Two weeks later there is a poem called Going Back To Look For the Lock, about the same bicycle, but now there is another person. You can read these together, or each one alone, or one month of poems, or one whole year, it will be like reading a story or reading a novel. I was reading the poems from January 2023. There are poems called Volunteers, Love, Puberty, Very Fast, Knowing Silence, Washed By The Sea, you are drawn into a world. There is no pretence at all, just this direct voice. The poems are short, the story becomes more detailed when you read on, but you can stop any time and still feel the poetry.
Als wir noch nicht zusammen schrieben
waren wir Freundinnen, jahrelang.
Als wir zusammen schrieben, schrien wir
einander an wie auf der Straße.
So grob wie zu dir
war ich zu niemand im Leben.
Jetzt bist du ganz auf einmal gegangen.
Weiß nicht, hast du mir verziehen?
Du sagst, wenn du aus Japan zurück kommst,
müssen wir reden.
Als ich dazu komm, dich anzurufen,
bist du nicht mehr dort.
Als du eine Beamtin warst
gab ich dir die inoffizielle Zeitschrift.
Du musstest die Untergrundzeitschrift
verstecken.
Aber als du in Avantgarde-Zirkel tratst,
war Poesie dein Leben.
Kaum jemand war engagierter als du,
du hast nach deinen Worten gehandelt.
Für ein Gedicht sein Leben geben,
jeder, der solche Texte schreibt,
hat so einen Wunsch.
Aus dem Herzen zu schreiben, was bleibt.
Du hast mit deinem Tod diese Zeile vollendet.
Das zieht mich wirklich hinunter!
Wie kann unser Streit wirklicher sein?
Ich würd gern noch jahrelang mit dir streiten!
Hab jetzt erst erfahren, du warst 59,
vielleicht sind wir alle heimlich Schlangen
im Horoskop. Und sagen es niemand.
Dann lass uns in Zeilen länger leben!
Du hast daran geglaubt,
nur gute Gedichte werden bleiben.
Endloser Himmel und grünes Gras
werden deinen Namen bewahren.
30. 3. 2024, in der Nacht
Übersetzt von MW am 1. September 2024
Beim Anstellen zum Coronatest
hab ich eine Frau kennengelernt.
Ich hab sie Große Schwester genannt.
Seit wir davon befreit sind, über ein Jahr,
hab ich sie im Wohnblock nicht mehr gesehen.
Vielleicht, vielleicht …
Sollt ich sie eines Tages treffen,
was kann ich da sagen?
Eigentlich gar nichts.
Aber ich frag sie nach ihrem Namen.
Mit einer durchsichtigen Angelschnur
zieht er mich raus
aus dem durchsichtigen Meer.
Mit einem durchsichtigen Messer
trennt er mich auf am feinen Spalt.
Er bewegt sich leicht und flink,
schluckt meinen weichen Körper,
kaut mich langsam durch.
In dem Moment denk ich,
als ich frei war,
hat er mich angeschaut,
unschuldige Neugier
in den Seehundaugen.
2022
Übersetzt von MW im Dez. 2023
Hu Qiang ORANG-UTAN STARRT IN ORANGEN HIMMEL
Nimmt einen Zweig
wie einen Stift,
macht einen Affen
aus jedem Stern:
An der linken Seite
drei Striche dazu.
Maybe ten years ago,
we were drinking & talking,
he said though we are living
in a prison,
there is quite a bit of exercise.
You young guys have to learn
to seek joy in sorrow.
Today he sings praises
of his native country,
for sure doesn’t think
he’s in a prison.
No,
he would never admit
he ever said
anything like that.
Wang Youwei PASSING THROUGH THE NORTH GATE WITH A MOUTH FULL OF VINEGAR
Got off the bus,
into the supermarket,
didn’t know what to buy,
bought a bottle of cheap vinegar.
Paid,
opened the bottle,
drank a sip,
wanting to swallow.
Then I remembered,
holding white vinegar in your mouth
can clean up the gums
and stains on the teeth.
So with that sip
in my mouth,
I walked back home
through the north gate of our compound.
The guard over there
likes to greet me and say a few words.
He saw
I looked strange,
so he asked what was wrong.
But I still had
my mouth full of vinegar,
so I didn’t explain
any
thing.
die fünf leute im wagen
sind in schweigen verfallen
niemand weiss mehr
wohin er fahren wird
wann wir wieder halten
vorher haben wir
noch debattiert
um drei uhr hat jemand gesagt
vielleicht haben wir uns verfahren
aber er hat entschieden erwidert
keine sorge, kein problem
um vier war es dann schon ein streit
aber er hat sich mit beiden händen
festgehalten am lenkrad
dadurch ist unser streiten
völlig sinnlos geworden
jetzt ist es fuenf
es wird schon dunkel
die dichten wälder
machen die bergstrassen
sowieso nicht heller
wir vier wissen alle
er hat sich verfahren
wir wissen auch
dass er es schon weiss
und er weiss auch sicher
dass wir es wissen
niemand macht mehr den mund auf
es bleibt still im wagen
wie wenn es gar keinen fahrer gäbe
und wir fahren weiter
The pandemic has brought original problems out for all to see very clearly War has brought original problems out for all to see very clearly and even faster economy problems society problems relationship problems ordinary people what can they do? we need to help each other that’s clear for all to see what else can we do? we thought society as it was economy as it was relations as they were would go on like that nothing could stop it well, we were wrong
MW April 2022
PROBLEME, DIE DA WAREN
Die Pandemie bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus. Der Krieg bringt die Probleme, die da waren, ganz klar heraus, und zwar noch schneller. Die Wirtschaft, die da war. Die Gesellschaft, die da war. Die Beziehungen, die da waren. Was können die Leute da tun? Wir müssen einander helfen, das ist auch ganz klar. Was kann man noch tun? Früher haben wir geglaubt, die Gesellschaft, die da war, die Wirtschaft, die da war, die Beziehungen, die da waren, das geht immer so weiter, das hält niemand auf. Das ist gar nicht so, da kommt man halt drauf.
Nach dem Abendessen sagt Zhao Meimei [unsere Tochter],
Zhao Keqiang, nimm mich mit zum Zahnarzt,
ich glaub meine Karies sind schon eine Wohnung mit mindestens drei Schlafzimmern,
wenns auf eine Villa hinauskommt,
wirds noch viel teurer.
Eines Tages hat eine jüngere Schwester
ein leuchtend grünes Kostüm getragen,
grün wie eine Melone. Ich frag warum,
sie sagt, mein Mann hat mich betrogen,
und ich geh so zu seiner Familie,
ich will, dass das allen bei ihnen auffällt,
was er aus mir gemacht hat.
Neujahr Da sollt man was schreiben
Aber Was eigentlich Der Heimatort ist
von Mikroben erobert Was soll ich reden
Das ist schwer zu sagen Und die großen Länder – Beziehungssorgen
Die schauen nicht so schlimm aus
Wie die von den Nachbarn Die über
90jährige Tante seufzt Schon so lang
war nichts mehr da das einen freut Auf
einmal im WeChat sagt einer Warum
nicht tanzen? Hm, gute Frage Stimmt
Eine gute Antwort Warum nicht tanzen
Also Probiert man Die alten Glieder
zum Tanzen zu bringen Aber die Tochter
sagt dazu Das ist richtig schrecklich
Aus dem Team hör ich,
der alte Lu schwindelt.
Mit diesem Sportler sollte man nicht mehr verkehren.
Ein paar Jahre später hat der alte Lu
geborgtes Geld nicht zurückgezahlt,
er kommt gerichtlich auf die schwarze Liste,
er darf nicht fliegen und nicht in den Hochgeschwindigkeitszug.
Gestern ruft er mich an,
ich soll beantragen,
dass das Gericht seine Beschränkungen aufhebt.
Ich antworte ihm,
Anstand wäre ein unbeschränkter
grüner Pass.
Eine Freundin
hat mir
eine Gesamtausgabe
von Lu Xuns Werken geschenkt.
Schön gebunden,
ich war sehr froh.
Es war das erste Mal,
dass mir ein weibliches Wesen
Schriftwerke verehrt hat.
Später hab ich erfahren,
dass sie die gleiche Ausgabe
auch einem anderen Freund geschenkt hat.
Da wars mir dann
nicht mehr so kostbar.
Und ich hab mir gedacht,
wahrscheinlich war das Geschenk
zum Ausgleich,
weil ich damals
mit ihr Essen einkaufen war
und für uns beide bezahlt hab.
Nachher hat sie mir gesagt,
sie hat fünf Gesamtausgaben
an fünf Freunde verschenkt.
Dann hat sie mir ernsthaft erklärt,
„Mir fehlt es nicht an Männern.“
Ich bin niemandes Mutter,
mein Bauch hat keinen Namen,
aber sobald Licht auf mich fällt,
bin ich eine durchsichtige Frau.
Übersetzt von MW im Dezember 2020
Li Liuyang, geboren in den 1990er Jahren in Anhui. Schreibt Gedichte und Geschichten, arbeitet als Fotomodell und bei Xiron Books. In den letzten Jahren hat sie mehrere Bücher herausgegeben und Ausstellungen organisiert. 《新诗典》小档案:李柳杨,90后,出生于安徽,诗人、小说家、模特。幼时学习过音乐、民族舞蹈和油画,喜欢读童话故事,作品入选多本重要的选本,部分诗歌被翻译成德语、西班牙语、英语发表在海外。模特作品入围“在地映像节”等多个摄影节。
2017年在磨铁读诗会开设“宝宝读诗”专栏,推荐了一大批当代优秀的90后、00后诗人。
2018年出版小说集《对着天空散漫射击》。
2019年在安徽鼎城美术馆策划并举办“非少女与情绪影展”
2020年主编并出版诗集《正在写诗的年轻人》。
Ein Dichter hat sich umgebracht,
ein Haufen Dichter diskutieren den Selbstmord.
Eine Dichterin zitiert umfassend und sagt
es sei die psychische Resilienz,
es seien Beziehungen zu kalt geworden,
jeder Mensch habe schon mal dran gedacht,
ein 4jähriger Bub habe sich mit Insektengift…
Ich sage im Scherz
da streng dich schnell an
und rette die Menschheit, es liegt an dir.
Sie redet weiter
als hätt sie nichts gehört
man müsse verstehen
man könne das Leben schließlich nicht wählen
also haben die Leute auch das Recht zu sterben.
Jemand liked, was sie schreibt,
jemand kommentiert
reden wir nicht mehr von Suizid,
reden wir lieber
über die Liebe.
Übersetzt von MW im Dezember 2020
Yi Sha: Ich habe in einem Gedicht gesagt, die Dichterin Juliane Adler, Herausgeberin meiner beiden Gedichtbände auf Deutsch, schätze an Poesie in Alltagssprache etwas wie den “letzten Angriff”, die Gegner der Alltagssprache-Fraktion nennen es “panisches Denken um die Kurve” – was man auch sagt, wir haben diese besonderen Punkte, nicht nur den Angriff am Schluss, sondern auch das Aufatmen am Ende. Bei diesem Gedicht ist es eine letzte Wendung, sehr schön gewendet, der ganze Text wird noch besser. Lei Ji kennt mich schon neun Jahre, aber wie man unter fahrenden Dichtern sagt: Er hat mich nicht gut ausgenützt. 伊沙推荐语:我在诗里写过:我两部德译诗集的责编、德国女诗人朱鹰最欣赏中国口语诗的"最后一击",口语诗反对派讥之为"脑筋急转弯"-不管怎么说,中国口语诗有特点,不光有"最后一击",还有"最后一吸",本诗是"最后一转",转得漂亮,全诗提神。雷激认识我己经9年了,说句很江湖义气的话:他没有把我利用好。
The cemetery is up on the hill
not far from the madhouse and worse
in the war but a beautiful park.
The cemetery has a beautiful view
on western Vienna, where I grew up
and half of the city.
Cemeteries are beautiful places
cultures of memory. Beautiful stones;
what happens if no-one pays?
Who has a flag, who has an eagle;
which fatherland did he fly and die for
in 1938?
We have two graves, with my mother or father
we visit three. Two years ago my grandmother died,
we were very close.
Who is and who isn’t down in our grave?
The one with our name,
every family has several names;
places and sites, countries and questions.
Up on the hill close to the entrance,
down and secluded not very far.
Vienna has many beautiful hills
and a beautiful river
and many waters and many souls.
Rest in peace. Thank you.
we sat on a bench before a small store
Beijing back then is not the one I understand anymore
very strange
but everything is unremarkable
I cannot express it today
just like you threw the language away
I don’t get anything out now
what should I say
what should I do
maybe me back then is the one who should know
it was never so completely confusing, but it’s not what you did,
please don’t apologize, you have not made me sad
if you had a soul
it would hurt you double
6/20/16
Tr. MW, July 2016
Chun Sue HALLO
in der 5 minuten pause
fällt es mir ein
wir sitzen vor vielen jahren auf einer bank vorm kleinen laden sehen zu wie sie eine straße planieren
das peking von damals ist nicht mehr die stadt die ich verstehe
es ist sehr fremd
aber gar nichts ist seltsam
ich kann nichts mehr sagen
genau wie du die sprache wegwirfst
ich bring überhaupt nichts mehr heraus
was soll ich denn sagen
was soll ich denn tun
mein ich von damals
würd es vielleicht wissen
ich war noch nie so verwirrt, aber das warst nicht du,
sag nicht entschuldigung, es ist nicht deine schuld,
du hast nichts getan das mich traurig gemacht hat
hättest du eine seele
würd es dir doppelt wehtun
20. Juni 2016
Hallo
在五分钟的小憩中
我想起了多年前
当我们坐在便利店前的长椅上看施工队正在修路
那时候的北京已经不再是我所了解的那个
那么陌生
但一切并不奇怪
我无法再言语
正如你抛弃了语言
我也再说不出来什么话
我该说什么呢
又该做什么呢
是不是以前的我会知道呢
从来没有像现在一切迷茫,但这不是你造成的,所以不要说对不起,对不起我的并不是你,你也并没有让我伤心
如同你是有灵魂的
你会备受折磨
2016,6,20
Chun Sue KINDERGARTEN
im kindergarten neben uns
ein pädagoge spricht mit den kindern
in einer sprache die ich nicht verstehe
freundlich, sanft, tolerant
sicher die beste seite von deutschland
ich sitz im zimmer
als spräch er mit mir in meiner kindheit
er ist ein photograph
wirft lang schon die sprache weg
kauft bilderbroschüren und t-shirts
er sagt er kann keine zeichen mehr lesen
ich sag ich kauf bücher
wenn ich keine kauf
wer soll welche kaufen
ich geh mit einem stapel zur kassa
aber dann bleib ich stehen
zu schwer wie bring ichs nach deutschland
muss ich halt die schrift im herzen bewahren
ich will ja noch ein buch davon schreiben
one plate
two plates
three plates
four plates
sometimes in a pile
sometimes crowded against each other
sometimes ringing
mostly sticking together
without any sound
2013
Tr. MW, 2016
Ma Jinshan TELLERLEBEN
ein teller
zwei teller
drei teller
vier teller
manchmal aufeinandergestapelt
manchmal gegeneinandergepresst
manchmal klirrend
meistens schweigsam beisammen
ohne jeden mucks.
Glaubst du, du bist eine Intellektuelle?
Glaubst du, du bist eine Existenzialistin?
Glaubst du, du magst Zhajiang-Nudeln?
Glaubst du, du sammelst Antiquitäten?
Glaubst du, du gehst mit der Zeit?
Glaubst du, du bist vorwärts gekommen?
Glaubst du, du hast deine Ideale verwirklicht?
Glaubst du, du liebst dein Land?
Glaubst, du liebst die Wahrheit?
Glaubst du, du wagst es, die Wahrheit zu sagen?
Glaubst du, du fürchtest keine Vergeltung?
Glaubst du, du bist eine gute Schriftstellerin?
Glaubst, du bist eine Dichterin?
Glaubst du, du bist eine gute Mutter?
Glaubst du, du bist ein guter Vater?
Glaubst du, du hast schon mal geliebt?
Glaubst du, du hast Anstand?
Glaubst du, Microblogging bringt China voran?
Frage, Frage, Fragezeichen
Glaubst du, man sollte sie anbeten?
Glaubst du, du bist ein Fangirl?
Glaubst du, es gibt Sachen, die darf man nicht sagen?
Glaubst du, manche Leute darf man nicht provozieren?
Glaubst du, deine Romane sind deine Memoiren?
Glaubst du, du bist begabt?
Glaubst du, deine Dinge werden bleiben?
Glaubst du, du hast ein Geheimnis?
Glaubst du, du hast ein großes Herz?
Glaubst du, du bist jedem gerecht geworden?
Glaubst du, du hast Verantwortung übernommen?
Glaubst du, du hast nach den Regeln gehandelt?
Glaubst du, du findest keine Scham in deinem Herzen?
Glaubst du, du hältst dich für unfehlbar?
Glaubst du, du möchtest dich rächen?
Glaubst du, du fürchtest den Tod?
Glaubst du, du kannst sie um den Finger wickeln?
Glaubst du, du wirst ihnen lästig?
Glaubst du, du hast noch ein Morgen?
Glaubst du, du bist schon zurückgeblieben?
Glaubst du, du bist allein?
Glaubst du, was du da schreibst, ist ein Gedicht?
Der Mensch macht einen verrückt
Lass sie sich doch
selber fragen
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek und Martin Winter im Jänner 2015
untertags bilder schießen
und nachts schlaflos sein
im traum mit einem feind
von liebe sprechen
mit einem spion
mit jemandem gleichen geschlechts
zusammen mit dem, der mich streichelt
zusammen mit dem, der mich grapscht
in einem traum da kann kein großes feuer sein
kein schwerer schnee
gefühle besprechen, menschen morden
manchmal stolpert das herz, manchmal bricht‘s
kleider in schreienden farben tragen
schäumender überschwang
und heißes blut
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek & Martin Winter im Jänner 2015
Chun Sue
DREAMING OF LIVING INSIDE A DREAM
taking pictures by day
then sleepless at night
in a dream with a foe
talking love
with a spy
talking love
in a dream, same-sex love
in a dream with the one who caressed me
in a dream with the one who harassed me
talking love, can’t be no big fire
can’t be no great snow
in a dream, making love, shoot to kill
panicking, heart-broken
showing colourful clothes
going round gushing feelings
or gushing blood
2012
Tr. MW, 2014-2015
Chun Sue MORGENS ÜBER DIE CHANG‘AN-STRASSE
Mein kleiner Bruder sagt: Vater, wir sind auf der Chang’an
schau sie dir gut an
Das ist genau die Chang‘an, die du über zwanzig Jahre lang gegangen bist
Ich sitze beim Vater, beim kleinen Bruder
Fast beginn ich zu weinen
Jetzt erst weiß ich
warum ich diese Straße des ewigen Friedens mag
Langsam, langsam fährt das Auto am Militärmuseum vorbei
an den roten Mauern von Zhongnanhai
am Xinhuamen
Papa ist klein jetzt, er ist eine Urne
die steht zwischen uns
die braucht nicht viel Platz
Das Auto fährt am Tian’anmen vorbei
und ich sehe
wie er auf dem Platz steht
und uns zusieht, wie wir vorbei fahren
Wie soll ich nur über dich schreiben
Du Sohn eines Bauern
Auch ich bin in einem Dorf geboren
Auch ich bin das Kind eines Bauern
Ich lege für dich eine Nacht lang Armeelieder auf
schluchzend und schreiend –
das mag ich auch.
2012
Übersetzt von Cornelia Travnicek & Martin Winter im Jänner 2015
du you think you are an existentialist?
do you think you like to eat zha jiang mian?
do you think you are collecting antiques?
do you think you are following fashion?
do you think you have improved since you started?
do you think you have fulfilled your ideals?
do you think you’re a patriot?
do you think you love the truth?
do you think you dare to say it?
do you think you don’t fear retribution?
do you think you’re a good writer?
do you think you’re a poet?
do you think you’re a good mother?
do you think you’re a good father?
do you think you have loved?
do you think you are moral?
do you think microblogging makes China improve?
question mark mark mark
do you think they are prophets?
do you think you’re a groupie?
do you think there are things you don’t talk about?
do you think there are people you cannot offend?
do you think this novel is your autobiography?
do you think you have talent?
do you think your stuff is going to last?
do you think you have secrets?
do you think you have a big heart?
do you think you are fair to everyone?
do you think you’re responsible?
do you think you play by the rules?
do you think you have nothing to be ashamed of?
do you think you are self-important?
do you think you want revenge?
do you think you are scared of dying?
do you think you make people like you?
do you think you make people hate you?
do you think you have a future?
do you think you are falling behind?
do you think you are lonely?
do you think you are writing a poem?
this girl makes you crazy
let her go on babbling
asking herself
Tr. MW, June 2014
Chun Sue DREAMING OF LIVING INSIDE A DREAM
Tr. MW, June 2014
Published in EPIPHANY magazine, fall 2014. Go on, look for this great Chinese Dream! I spent October 2014 at Vermont Studio Center with Yi Sha, editor of the daily New Century Poetry series 新世纪诗典. Chun Sue is one of the most well-known figures within this huge independent circle of poets.
Chun Sue MORNING, AVENUE OF ETERNAL PEACE
Little Brother says: dad, Avenue of Eternal Peace
take a good look
This is the road you walked for over 20 years
I am sitting with Papa and Little Brother
I am almost crying
Finally I know
why I like the Avenue of Eternal Peace
Slowly the car passes the Military Museum
and the red walls of Zhongnanhai
and Xinhua Gate
Papa is small now he fits in an ash box
sitting between us
doesn’t take up much space
We pass the Gate of Heavenly Peace
and I see him
He stands on the square
watching us while we’re passing
Why was it so hard to write about you
You’re the son of a peasant
I was born in a village
I am also the child of a peasant
I put on army songs for you all night
Crying my heart out —
I like all that too.