Omi klettert auf einen Baum,
Ulmenblätter pflücken.
Ihre Schwägerin kann vor Hunger nicht klettern
und bittet Omi, sie raufzuziehen.
Omi sagt, das schaff ich nicht,
da fallen wir beide runter,
und die Familie ist verhungert.
30 Jahre nach der Revolution von 1911
scheint die Sonne auf Omi, zwölfjährig, mager,
und auf ihre Schwägerin, noch magerer.
Das Mädchen auf dem Baum greift aus ihrem Korb
eine Handvoll Blätter,
lässt auf die Schwägerin, der schwindlig ist,
einen Regen zum Essen niedergehen.
Mama Liu
lebt von Mindestsicherung,
sie kauft Kirschen,
nimmt eine nach der anderen in die Hand,
kauft 50g
Sonnenblumenkerne,
wählt jeden Kern
einzeln.
Sie streitet mit jemandem
ebenso gründlich,
stößt ein Wort
nach dem anderen
heraus.
Die junge Kassierin sagt,
seit Mama Lius
Sohn im Gefängnis ist,
ist seine Frau mit dem Enkel weg,
hat einen anderen geheiratet.
Onkel Liu ist
in den Fluss gesprungen.
Sie hat jetzt viel Zeit,
die kann sie sich
vertreiben.
Am Anfang des Mondjahres,
vor dem Laternenfest
hat Vater einen Abend verwendet,
für sein neues Kassenbuch
die Rechnungen vom alten Jahr abzuschreiben,
dann hat er mich alles durchlesen lassen.
Ich hab immer etwas gefunden, das rausgerutscht ist.
Manchmal hat es übersehen,
manchmal
hat er gesagt,
dieser Mensch ist nicht mehr da,
dann hat er gleich
im alten Buch,
was der geschuldet hat,
eingekreist und gestrichen.
meine mutter hat uns mit einem obststand durchgebracht.
sie sagt mir nichts, zeigt mir nur,
wie sie mit dem blitzenden messer
schlechte und faule stellen, narben
rausschneidet,
das süße fruchtfleisch freilegt.
Noch im alten Jahr
ist unsere Mama mit einem Schlag
ins Spital. Sie gibt bald den Geist auf,
hab ich mir gesagt. Könnt ich statt ihr
leiden! Ich möcht, dass sie Frieden hat.
Am 28. vor dem Mondneujahr
hab ich einen Schlaganfall,
muss ins Spital.
Am Neujahrstag
kommt die gute Nachricht
aus der alten Viererbande auf WeChat:
die Mama hats überstanden,
sie ist 87, das war eine Schwelle.
Aber später sagt mir meine kleine Schwester,
die Krankenpflegerin hat vor meiner Mama
gesagt, dass ich auch einen Schlag hab.
Dann ist es ihr wieder schlechter gegangen,
am Zwanzigsten des zweiten Monats
ist meine Mutter gestorben.
Mich haben sie am selben Tag
aus dem Spital entlassen.
Austrian poet Martin Winter
speaks eight different languages
(his wife Jackie speaks seven),
he is Translator Overlord.
I translate him English to Chinese,
striving to make his Chinese edition
even more poetic.
Today I discover
in the manuscript
of English poems he gave me,
there is one in Danish!
Danish knows me,
though I don’t know Danish.
Seems like he also thinks I am
Translator Overlord.
8/7/18
Translated by Martin Winter, 2021
Translator’s note: Actually she speaks in more tongues!
From childhood on
there was a dragonfly
going round in my brain:
three-dimensions,
beautiful
like a glittering
translucent blade of grass,
flying and flying
all the way
till I grew up.
Entering my middle age,
I began to worry,
that thing must be my fate,
why hasn’t it flown
out of my head?
2017
Translated by MW in 2021
Yi Sha THOUSAND-YEAR-RAIN
I come back from Japan
to a downpour in Chang’an,
finally got to use the umbrella
I hadn’t needed for the whole trip.
From under there
I size up the clouds
racing over the city,
it’s the same sky
the Tang dynasty envoy
must have spied
under his bamboo hat.
2018
Translated by MW in 2021
Yi Sha SANCTUARY
It has snowed hard all day, now it suddenly stops. At the end it snows while the sun is shining. Colored clouds are floating, until dusk finally falls, all over this deserted intersection in Space City …
The three of us are walking over the zebra crossing.
Five or six little restaurants along the road, not one person inside.
Maybe it is the snow, our son chooses northeast cuisine from the home of the winter, a steaming welcome.
“Into such a deserted restaurant, there comes a frustrated man, this is the begin of a movie, a movie with Ken Takakura. He orders rice wine, pork liver fried rice, and a few sticks of grilled meat. The landlady says, now that’s a real man, he can eat! And that’s how the story begins …”, I say to my son the film student.
This evening he eats a lot. My wife eats very little.
This night, because of the snow, we are stuck at our new apartment. It is the base I have prepared for my writing in my old age – my last sanctuary.
2018
Translated by MW in 2021
Yi Sha LONELY ISLAND
One year, the poet Shen Haobo and I came to a lonely island. We met a university student, a genius in expressing himself in colloquial language …
I predicted: He will become a good poet.
Xiaobo didn’t agree, said he loved money too much.
Both our predictions came true.
He went on to write very well, you can even say, not bad at all.
But his writing was short-lived, gone very fast.
2018
Translated by MW in 2021
Yi Sha COOL PROF
In times of yearning for classical learning, the poet teaches the nation.
In times of romance, the poet is a rebellious prince in self-exile.
In modernist times, the poet is the cultural elite, a detached philosopher.
In neo-modernist times, the poet doesn’t look like a poet, but like a next-door uncle.
This is how the image of the poet develops through history, it’s how the role of the poet changes as civilization moves forward.
For this here above, I award myself 100 points, you won’t hear this in a university lecture anywhere in China.
If you don’t take this down it’s your loss! Because I won’t say this twice, we don’t have time for it either.
Class dismissed!
2018
Translated by MW in 2021
Yi Sha LONELY FIGURE
The way I am going to think of Cambodia,
a lonely guy who has lost his whole family,
with broken teeth and a false leg,
who totters ahead to no-one knows where,
at least his future cannot get worse.
2019
Translated by MW in 2021
Yi Sha ARCTIC
The first
“Eskimo” kid,
who rode in a white man’s airplane, said:
“I have sat in the soul of a raven.”
Im letzten Sommer
hat sich meine Mutter den rechten Fuß gebrochen.
Ich war Tag und Nacht bei ihr im Krankenhaus.
Das erste Mal beim Urinieren
zieh ich ihr grad die Hose aus,
sie hält sie sich gleich mit der rechten Hand
wieder fest.
Ich sag, Mama,
du hast mich geboren,
wovor hast du Angst?
Dann erst lässt sie langsam die Hand los,
aber sie schämt sich,
legt sich hin, macht die Augen zu.
Vor vier Jahren
in derselben Jahreszeit
hat sie sich den linken Arm gebrochen.
Ich helf ihr duschen im Bad bei ihrem Krankenzimmer,
sie hält sich auf einmal die Brust zu mit der rechten Hand.
Ich sag, Mama,
da hab ich getrunken und bin groß geworden,
wovor hast du Angst?
Dann erst lässt sie langsam die Hand aus,
dreht sich auf einmal um
und drückt mich mit der rechten Hand,
legt ihren Kopf auf meine Brust.
In der Minute muss ich weinen.
Von da an, diese Szene dort in der Enge,
bleibt mir im Herzen immer
ein Denkmal.
2021-05-09, Muttertag am Vormittag in Jiangyou
Übersetzt von MW am 1. Juli 2021
Ein japanischer Soldat
hat einen Kohlenzug requiriert.
Er liegt auf der Lokomotive
mit einem schweren Maschinengewehr,
kreuz und quer durch die Zentralebene,
als wär das Land menschenleer.
Ich war klein.
Eines Tags hat es groß geschneit.
Ich hab draußen vor der Tür
einen Schneemann gebaut,
mit schwarzen Knöpfen
als Augen.
Am nächsten Tag in der Früh
bemerk ich ein Knopf ist weg,
als wär er ganz von selbst fortgeflogen.
Ich will grad rufen „Einäugiger Schneemann!“,
hab noch nicht „ein“ gesagt,
da halt ich mir schon
den Mund zu.
Denn neben mir
steht
groß und ernst
mein einäugiger Vater.
Es ist kein Tag zum Gräberbesuch,
am Friedhof sind nicht viele lebende Leute.
Niemand kommt wie ich mit leeren Händen,
hebt ein Gingkoblatt vom Boden auf
um eines Freundes zu gedenken.
Auf dem Grabstein ist sein Foto eingefasst,
da ist Zhang Baji in besten Jahren.
Baji war technisch auf höchstem Niveau.
Gib ihm ein Bruchstück von einem Zahnrad,
er findet ein neues, das passt.
Was nützt ihm das, gar nichts.
Tüchtige, untüchtige, alle hat man nach Haus geschickt,
die Fabrik geschlossen,
den Boden verscherbelt.
Essen, essen, schlafen, schlafen noch ein paar Jahre,
dann ist er hier eingezogen.
Zhang Baji,
du lebst jetzt drinnen in meiner Brust.
Eher links, nu, hier.
Ich verstreu ein paar Gingkoblätter,
zum Beispiel als Schild, dort oben
steht nämlich gar nichts.
Auf den Steinen sind nur große Namen.
Vielleicht hat sie ihren ein paar Mal verwendet,
ich weiß nur, alle nannten sie Fähige Zhou,
eine fähige Hand, ihre Füße waren entscheidend,
acht Stunden war sie auf ihren Füßen,
Webstühle kontrollieren, wer weiß wieviele Schritte sie geht
in ihrem Leben, wieviele Enden sie zusammendreht.
Das Große Shanghai braucht keine Baumwollfabriken mehr,
Webstühle zerbrochen,
Fabriken abgerissen.
Sie kehrt zurück ins Neue Baumwolldorf,
geht gar nicht mehr vor die Tür.
Auf dem Foto, ein armes Kindergesicht,
zwinkert und lacht.
Zhou Nengshou, fähige Zhou,
du lebst jetzt in meinen Rippen.
Rechte Seite, nu, hier.
Ich verstreu ein paar Gingkoblätter.
Kein einziges Zeichen bleibt über dich.
Was soll ich dir sagen!
Alles wär nicht genug.
Noch jemand, ein trotziges Gesicht.
Xiao Jiangbei von der Schiffswerft,
er baut auf dem Ofen ein hohes Gerüst,
ein Ruck mit der Zange, glühend rote Nieten
fahren zischend in Stahlplatten und in die kleinen Löcher am Kiel,
dann schwingt der große Hammer gleich nach.
Diese Arbeit, die gibt es nicht mehr.
Xiao Jiangbei, das war seine Spezialität,
Umschulung zahlt sich auch nicht mehr aus,
Wanderarbeiter sind billiger.
Er kann nur daheim mit zwei Walnüssen spielen,
im Traum schlägt und tritt er noch.
Xiao Jiangbei,
du wohnst jetzt in meinem Kopf auf der linken Seite,
nu, hier.
Die andere Seite bleibt für den ältesten Wang.
Er war der beste Maurer unter dem Himmel.
Die jetzigen Hochhäuser, warum
sind das nur lauter Glaspaläste?
Richtige Mauern und Fassaden,
die kriegen sie gar nicht mehr zusammen.
Zum Beispiel die Häuser am Bund in Shanghai,
die kriegen sie nicht mehr zusammen.
Tüchtige Maurer, gibts nicht mehr.
Wang Laoda ist nicht mehr da.
Du hast dich gemeldet beim Krematorium
jetzt lebst du in meiner rechten Kopfhälfte,
nu, hier.
Lauter Gingkoblätter, ein goldener Boden.
Wenn der Wind kommt, werdens gleich komische Zeichen.
Zurückgestellt, in Reserve, abgebaut,
potentielle Arbeitskraft, wieder einzugliedern, Plan 4050:
Frauen ab 40, Männer ab 50,
in Rente gehen, von der Wirtschaft in die Gesellschaft,
sozalisierte Menschen, ehrenwerte verdammte Gesellschaft,
früher hieß das Kandidaten fürs Arbeitslager.
Einen Ausdruck hasse ich am meisten,
das heißt, gesunden Leuten die Hand abhacken.
Warum hackst du nicht einfach deine eigene Hand ab,
was machst du mit meiner Hand?
Zhang Baji,
Zhou Nengshou,
Xiao Jiangbei,
Staub zu Staub,
Erde zu Erde.
Sie wohnen alle in meinem Körper,
in meinen Knochen,
im Blut,
in meinem Atem.
Mein Körper ist jetzt ihr Grab.
Sie können nichts sagen,
aber ich darf nicht schimpfen?
Eine Handvoll Gingkoblätter,
der Freunde gedenken.
Es ist kein Tag zum Gräberbesuch,
am Friedhof sind nicht viele lebende Leute.
Niemand kommt wie ich, mit leeren Händen,
greift in die Luft, als wollt er jemanden würgen.
In der Pandemiezeit hab ich was nachgeholt,
die Fernsehserie “Zaun, Frau und Hund“.
Da gibt es den alten Mao Yuan,
der tätschelt seinen Hennen den Hintern
und sagt, heute werden sechs Eier gelegt.
Er hat das Gefühl und die Erfahrung.
Meine Oma hat es genau so gemacht.
Wie viele Eier die Hennen jeden Tag legen,
sie hat es gewusst.
Wenn die Eier mehr waren,
hat sie gewusst, die kommen vom Nachbarn,
da hat die Henne ins falsche Nest gelegt.
Dann ist sie getrippelt mit kleinen Füßen
und hat das Ei hingebracht.
Fenstertag,
heute war Schule,
jedenfalls in Leos Schule.
Nächstes Schuljahr
gibt’s nicht mehr,
die Bildungsdirektion
der Stadt Wien,
der Stadtschulrat,
sagt, es gibt kein Geld
vom Ministerium,
um denen, die es brauchen,
noch Schule zu geben.
Das betrifft uns.
Und noch ein paar Eltern
und Kinder, Jugendliche.
Und Friederike Mayröcker
ist gestorben.
Und heute ist 4. Juni,
Gedenktag für 1989 in China,
nur nicht offiziell halt.
Offiziell hat der junge Oberdissident
von Belarus
alles zugegeben,
im Fernsehen.
Die Sonne strahlt,
die Vögel singen.
Mutter sagt,
ich war den ganzen Winter im Bett!
Er ist auch schon 70,
weiß genau, wovon sie redet.
Mit der Hand durch den Raps fahren im Wind,
Weizensprossen sehen im Feld,
die Erde riechen.
Also nimmt er sie auf den Rücken,
genau wie sie ihn, als er klein war,
so gehen sie hinaus.
Übersetzt von MW im Mai 2021
Yuancun Zhizi, Künstlername von Liu Changqian. Geb. in den 1970er Jahren im Kreis Feidong, Provinz Anhui. Mittelschullehrer auf dem Land, liest gerne, schreibt ein bisschen. Seit 2021 Mitglied der Aofu Poetry Society. 《新诗典》小档案:远村之子,本名刘昌前,男,70年出生,安徽省肥东县人,乡村中学教师,课余喜欢阅读,偶尔写一点。2021年元月加入傲夫诗社。
Meine Uroma
hat sechs Kinder geboren.
Bei jedem hat sie im Tempel
100 Teigtaschen geopfert,
für die Kinder gebetet,
langes Leben, Gesundheit.
Uroma war Pächterin,
Getreide war knapp,
die Teigtaschen waren
in Daumengröße.
Den Gottheiten waren
die Teigtaschen vielleicht zu klein.
Von den Kindern
ist eines 18 geworden,
das kleinste nur 6,
sie sind alle gestorben,
nur eines von ihnen
ist alt geworden,
meine Oma.
Nachdem Vater von uns gegangen ist,
nicht einmal zwei Jahre später ist Mama gegangen.
Beim Aufräumen von ihren Sachen,
im Kleiderkasten
entdeck ich eine Flasche Schlafmittel,
eine volle Flasche.
Weiß nicht wie lange sie gebraucht hat
um so viel zusammen zu kriegen.
Wär ich nur die paar Jahre
bei ihr eingezogen,
hätt ich bei ihr gewohnt,
vielleicht
wär sie jetzt noch da.
Feuer machen und Wasser kochen,
seit Opa am Feld nicht mehr arbeiten kann
macht er das jeden Tag.
Auch im Sommer,
der große Herd auf dem Hof
muss ordentlich brennen,
dann sitzt er am Tor, wo es kühl ist.
Ich frage Opa,
so ein heißer Tag,
wieso machst Du Feuer?
Opa lacht und sagt,
er ist es gewohnt.
Die Wohnstätte des Dichters Lu Xun,
an einem bedeckten Tag.
Ich betrete den Hof.
Um zu verstehen,
wo unser Lehrer der Moderne geschlafen hat,
frag ich einen Wächter:
„Wohin ist Süden?“
„Sag ich Ihnen nicht!“
„Wieso?“
„Ich bin Wächter, kein Führer!“
„Ich frag Sie ja nur
nach der Richtung!“
Der Wächter zeigt in eine Richtung:
„Ich sag Ihnen nur,
dort geht die Sonne auf!“
Meine Tochter und ich, wir stehen im Wind an der Station. Sie nimmt meine Hand, führt sie an ihre Nase, reibt hin und her, legt ihren Kopf schräg, sagt: „Du hast etwas von Omi geborgt.“ „Was hab ich geborgt?“ „Den Knoblauch, nach dem ihre Hand riecht.“ Ich streichle sie am Kopf. „Keine Sorge, wenn Omi zu uns kommt zum Frühlingsfest, geb ich ihr das zurück.“
Meine große Schwester und ihr Mann
kommen nach Chongqing zurück auf Besuch.
Bevor sie wieder abreisen, machen wir
zum ersten Mal mit Vater und Mutter
ein „offizielles“ Familienphoto.
Bei genauer Betrachtung fällt mir auf,
im Lächeln von Vater kann man deutlich sehen,
dass er gerade erst operiert worden ist.
Der Mann neben meiner Schwester
ist auch nicht ihr erster.
Meine kleine Schwester und ich,
wir sind nacheinander wieder Single geworden.
Von meinen kleinen Brüdern trägt der große schon Altersgläser,
der ganz kleine hat ein Bein verloren.
Auf unserem Weg weiter ins Alter
weiß ich nicht, ob der Freund meiner Tochter
und die Freundin von meinem Neffen
schließlich am Ende mit uns gemeinsam
zur Familie gehören.
The France I used to like has disappeared, Paris is thronged with people from places very far away from the outskirts of Gaul. The America I used to love has gone back into the movies. Many people who live there now are villains from fiction, Robert Penn Warren, William Styron, Faulkner and Steinbeck. Hemingway characters have been condensed into fairytales. And those bumpkins ridiculed by Thomas Wolfe, they would like to hold the world by its throat as a matter of course. I am thinking of Ellery Queen, Bogart, Jack Nicholson and all sorts of Pacino, standing between shadows and light, DeNiro people. I am not sure whether the lives described by the great Annie Proulx and Ring Lardner have really existed. If it really was like that, then Philip Roth and Salinger, those two masters, they didn’t have it any easier than Bernard Malamud or myself. The Britain I liked and also hated, the world of Dickens, Hardy, Emily Brontë, Evelyn Waugh, also the world of Guy Maddin. Chaplin and Hitchcock, they came from England, no matter if they thought of it as their grandmother‘s home or whatever, that kind of world is gone, no-one can go back to it. Italy, of Umberto Saba’s bitter poetry, of Tornatore’s splendor, Fellini’s ghosts and deities, a world has gone under but another world has not risen. Poor Barcelona, poor Spain, aside from Messi, what else can you make me think of? The bullets shot at Lorca? Thick smoke covers Cervantes and Unamuno. But you are singing, saying what does this have to do with you? As you go north, farther north, everywhere north in the world you’ll run into people drinking forever. They are crawling out of Ibsen, Hamsun, Dostoyevski’s White Nights, Crawling all the way till today until half of what Solzhenitsyn described is gone. I really don’t know if this is a good thing or not. Neither Tolstoy nor Maupassant nor the wisdom of Martin du Gard can advise me. Old Hesse stares into the distance with his Steppenwolf eyes and doesn’t speak. At this time everyone can understand a little why Stefan Zweig and Richard Strauss broke down. Bukowski didn’t care about any of this, he drank a bottle and went on writing. Pasternak screwed up his horse face and stared at a row of trees in the snow. Wandering souls drive their chariots, circling and circling, soundlessly crushing expectations and fear; crushing Nietzsche and Stephen Hawking, actually all of this can be seen to belong to Stephen King. But it’s ok, just be glad it’s still ok, food is eaten, television’s turned on. Ineffective dreams are about to start, about to start again. You will wake up, we will wake up, from utter sadness, wake up to enter indefinite nights, poisoned days. Yes, everything definitely indefinite. Let us clear away this forest, let us see the distance in the past. Not so we can see the past, but so we can see once more the distance we longed for.
Entering a compound, before the houses there is a big tree, they put a fence around it and installed a sign: Old mulberry tree, 150 years. Not many branches with leaves any more. Holes in the trunk are filled out with concrete. 150 years, that means in 1870, this tree was born. It has witnessed some desintegration, war and unrest. But it has kept on living all the way until I happened to come by its side, so it could have this little biography for me to write.
Er kommt frisch von der Uni,
hängt bei seinem Schreibtisch
ein Holzschnittporträt des Dichters Lu Xun auf.
Die Vizedirektorin
bemüht sich von Herzen,
belehrt ihn: Wir sind alle junge Menschen,
wenn, dann häng Wirtschaftsleute des Jahres,
wie kannst du deinen Opa
den ganzen Tag ausstellen?
Heute Nacht, Ürümqi; heute Nacht, Zentrum von Asien.
Heute Nacht, Bodgda-Gipfel; heute Nacht, Döngkövrük.
Heute Nacht, Sven Hedin; heute Nacht, Gao Shi und Cen Shen.
Heute Nacht, weiße Marillen, Granatapfelsaft; heute Nacht, Loulan und Xiaohe.
Heute Nacht, Schmelzwässer der Gletscher fluten deine Träime.
Heute Nacht, die Flammenden Berge sind nicht nur Flammende Berge.
Heute Nacht sind Kamelen Flügel gewachsen.
Heute Nacht fliegt der Konqi-Fluss bis zum Irtysch.
Heute Nacht, Kleines West-Tor, Fünf-Sterne-Straße, Jugend-Straße.
Heute Nacht, Glücksstraße, Südtor, Platz des Volkes.
Heute Nacht, wirbelnder Schnee wird unter Straßenlampen zu Glühwürmchen.
Heute Nacht wird der weite Westen die allerweiteste Tiefenschärfe der Linse.
20. Juli 2020 in Dongguan, Provinz Kanton
Übersetzt von MW im April 2021
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
NPC stands for New Poetry Canon, or New Century Poetry Canon 新世纪诗典, presented by Yi Sha 伊沙 in Chinese social media each day since spring 2011. NPC outside of poetry is National People’s Congress, China’s parliament that convenes in the Great Hall of the People in Beijing for two weeks each March. Yi Sha’s NPC poem of the day on Sina Weibo 新浪微博, Tencent WeChat 微信 and other platforms gets clicked, forwarded, commented 10,000 times or more, each day. Each year a book comes out, about every week there are events in Xi’an, Beijing and many, many places all over China and beyond. All produced independently from among the people 民间, not by any state organizations. This book contains poems by 81 poets listed below. This is the first volume (A-J) in a series of four books. Compiled and edited by Juliane Adler and Martin Winter, translated by Martin Winter.
NPC steht für New Poetry Canon, eigentlich New Century Poetry Canon, 新世纪诗典. Abgekürzt als NPC. NPC steht sonst für National People’s Congress, also der Nationale Volkskongress, Chinas Parlament, das allerdings nur einmal im Jahr im März zwei Wochen lang zusammentritt. Seit 2011 wird von Yi Sha 伊沙 im NPC-新世纪诗典 jeden Tag ein Gedicht vorgestellt, in mehreren chinesischen sozialen Medien zugleich. Oft wird ein einziges Gedicht schon in den ersten zwei Tagen zehntausende Male angeklickt, kommentiert und weitergeleitet. Ein nationaler Poesiekongress und eine umfangreiche Studie der heutigen Gesellschaft. Band 1 präsentiert 81 Autorinnen und Autoren. Wird fortgesetzt.
Cover/Umschlag etc: Neue Arche von Kuang Biao 邝飚 und 3 Grafiken von: An Qi 安琪
Autorinnen und Autoren:
A Ti 阿嚏, A Wen 阿文, A Wu 阿吾, A Yu 阿煜, AAA (3A) 三个A, Ai Hao 艾蒿, Ai Mi 艾米, An Qi 安琪, Ao Yuntao 敖运涛, Bai Diu 摆丢, Bai Li 白立, Bei Dao 北岛, Bei Lang 北浪, Benben S. K. 笨笨. S. K, Cai Xiyin 蔡喜印, Caiwong Namjack 才旺南杰, Caomu Xin 草木心, Cha Wenjin 查文瑾, Chang Yuchun 常遇春, Chao Hui 朝晖, Che Qianzi 车前子, Chen Moshi 陈默实, Chen Yanqiang 陈衍强, Chen Yulun 陈玉伦, Chen Yunfeng 陈云峰, Cheng Bei 成倍, Cheng Tao 程涛, Chun Sue 春树, Cong Rong 从容, Da Duo 大朵, Da You 大友, Dai Guanglei 代光磊, Dechen Pakme 德乾恒美, Denis Mair 梅丹理, Di Guanglong 第广龙, Dong Yue 东岳, Du Qin 独禽, Du Sishang 杜思尚, Du Zhongmin 杜中民, Duo Er 朵儿, Eryue Lan 二月蓝, Ezher 艾孜哈尔, Fa Xing 发星, Fei Qin 秦菲, Feng Xuan 冯谖, Gang Jumu 冈居木, Gao Ge 高歌, Geng Zhankun 耿占坤, Gong Zhijian 龚志坚, Gongzi Qin 公子琹, Gu Juxiu 谷驹休, Guangtou 光头, Gui Shi 鬼石, Hai An 海岸, Hai Jing 海菁, Hai Qing 海青, Han Dong 韩东, Han Jingyuan 韩敬源, Han Yongheng 韩永恒, Hong Junzhi 洪君植, Hou Ma 侯马,Houhou Jing 后后井, Hu Bo 胡泊, Hu Zanhui 胡赞辉, Huang Hai 黄海, Huang Kaibing 黄开兵, Huang Lihai 黃禮孩, Huang Xiang 黄翔, Hung Hung 鴻鴻, Huzi 虎子, Ji Yanfeng 纪彦峰, Jian Tianping 簡天平, Jiang Caiyun 蒋彩云, Jiang Erman 姜二嫚, Jiang Rui 江睿, Jiang Tao 蔣濤, Jiang Xinhe 姜馨贺, Jiang Xuefeng 蔣雪峰, Jianghu Hai 江湖海, Jin Shan 金山, Jun Er 君儿
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
Die chinesischen Gedichte sind hauptsächlich erschienen in:
NPC 新世纪诗典 1-6,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), Zhejiang People‘s Publishing 浙江人民出版社, Bände 1-6, herausgegeben von Yi Sha. Hangzhou 2012-2018
NPC 新世纪诗典 7,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), China Youth Publishing 中国青年出版社, Band 7, herausgegeben von Yi Sha. Beijing 2018
NPC 新世纪诗典 8,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), China Friendship Publishing 中国友谊出版公司, Band 8, herausgegeben von Yi Sha. Beijing 2020
Die restlichen Texte stammen aus Internetquellen (Soziale Medien: Sina Weibo, Tencent Weixin etc.) mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren. Die Texte aus 2019 und 2020-2021 werden in den Büchern NPC 9 und 10 erscheinen.
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
der frauentag
und mein geburtstag
ist derselbe feiertag
so viele jahre
frag ich mich schon
was ist dahinter
gibt es einen
geheimen zusammenhang
erst am 50. geburtstag
kapier ich es ist nichts
besonders hohes und tiefes
vor vielen jahren
am 8. märz
weltweiter feiertag
für alle frauen
vor dem freudigen hintergrund
hat meine mama nicht ausgehen können
sondern schmerzen gehabt
und mich geboren
sowas vergisst man nicht
bisschen nach sechs, noch dunkel, im traum
vom telefon aufgeschreckt. große schwester sagt, zu neujahr
kommen geschenke. meine alte mutter, mitten in der nacht,
steht auf, zieht sich ordentlich an, steckt geld in die taschen,
am arm ihrer zugehfrau die stiegen hinunter, im morgengrauen
schon auf dem weg. das ziel ist beijing,
den sohn besuchen. sie sagt, die großen straßen entlang,
so wird sie hinkommen. die große schwester hält die beiden auf,
zurück zu hause rät sie der mutter, zuerst mit dem sohn zu sprechen.
und so kommt es, ach, sie ist 88, ich bin 59;
eine neue reise hat schon begonnen.
Gestern war Ererba.
Das e ist ein Schwa -Laut.
Also eher wie ö.
Das r ist wie auf Englisch.
Ererba heißt 2-28.
28. Februar.
Ein Feiertag in Taiwan.
Vielleicht der wichtigste.
Es gibt nichts zu feiern,
aber es ist frei,
offizieller Feiertag.
Das Ererba -Massaker von 1947.
Ungefähr 30.000 Tote.
Schwer zu sagen wie viele genau.
Das Töten war nicht an einem Tag,
der 28. Februar war der Anfang.
In Taipei gibt es ein Ererba -Museum,
sehr zu empfehlen.
Ererba sagt man auf Chinesisch,
auf Hochchinesisch, Mandarin.
Es gibt noch zwei, drei andere
offizielle Sprachen, und viele andere
anerkannte einheimische Sprachen,
ungefähr 20 vielleicht insgesamt.
Die Insel ist weniger als
halb so groß wie Österreich,
ein paar kleine Inseln gehören dazu.
Höchster Berg ungefähr so hoch
wie der höchste in Österreich.
Bevölkerung ungefähr 23 Millionen,
das war vor ein paar Jahren,
also vielleicht mehr.
Aber nicht viel mehr,
kaum Bevölkerungswachstum
in den letzten 30 Jahren.
Mehr Gastarbeiter auf jeden Fall.
Also 25 Millionen Bewohner,
konservativ geschätzt.
Dicht besiedelt,
außer im Osten, dort ist es schön.
Überhaupt eine schöne Insel.
Ilha Formosa, das war
der portugiesische Name.
Das Ererba -Massaker,
das war die nationalchinesische Armee
und die Polizei und so weiter.
1947 war das Massaker,
und 1947-1987 war Kriegsrecht.
Strenge Ein-Parteienherrschaft.
Und viele amerikanische Soldaten,
vor allem während des Vietnam-Krieges.
Auch vorher, Korea-Krieg und dazwischen.
Anyway. Ererba. Feiertag.
Seit den 90er Jahren,
seit der Demokratisierung.
Oder seit 2000,
weiß nicht seit wann genau.
Langes Wochenende,
heuer zumindest.
Meine Mutter, als sie auf der Welt war,
sie hat sehr lang
auf dem Land gelebt.
Ein Zehntausend-Yuan-Hof, das wollte sie sein.
Sie hat lange gekämpft
und ihr Ziel nie erreicht.
Bis sie in die Stadt gezogen ist
und mit uns zusammen gewohnt hat.
Ich hab gesehen, sie hat viele Zähne verloren,
da hab ich zehntausend Yuan aufgewendet
und ihr im Mund alles neu machen lassen.
Als die neuen Zähne fertig waren, hab ich gesagt:
„Jetzt brauchst du niemanden mehr beneiden,
dein ganzer Mund
ist ein Zehntausend-Yuan-Hof!“
Grüne Kletterpflanze an der Straße rankt sich hinauf an roten Ziegeln durch einen Drahtzaun in einen völlig verstaubten Lüftungsventilator. Dort war der grüne Trieb unvorsichtig, ist zu lange geblieben, hat eine große Gurke gebildet, wollte noch raus und ist nicht mehr herausgekommen.
12. August 2020, 20 Uhr 25 Minuten Übersetzt von MW im September 2020
In den 1970er Jahren stand Andrej Sacharow Jahr für Jahr am 7. November am Puschkin-Platz vor dem Denkmal des Dichters im Schnee. Die Silhouetten von Sacharow und von Puschkin haben sich im Schnee überlagert.
Schnee, Schnee fällt am 7. November vor der Statue, eure Figuren, Puschkin und Du aufeinander im Schnee, endlose Stille. Du hörst auf dich selbst, auf den Schnee.
Du stehst im Frost, in der Weite des Schnees. Sonne friert im Wasser, Wasser friert im Licht. Vom Glitzern des ersten Strahls zum Waschen der ersten eisigen Welle.
Du stehst, von Schnee zu Schnee im tiefen Schnee, aus dem Du nicht heraussteigst. Obwohl Wege im Schnee nach Osten und Westen unter Deinen Füßen nicht enden, obwohl
Puschkins Augen wieder auf Deine treffen, sieht er Dich nicht im strahlenden Schneelicht. Was aus dem Schnee kommt, bleibt im Schnee. Im Schnee begraben, Dein Opfer im Schnee.
Von Wasser bleibt in der Sonne nichts über als brennender Glanz, Glitzern trifft aufeinander auf klaren Flächen bis in die Tiefe. Schnee im Licht unverdeckt, Schnee verdeckt nicht,
so wie die Sonne im Wasser jedes Sandkorn herauswäscht, das Licht, das läuft und stürzt aus dem Schnee nichts verschlingt und nicht untergeht im wogenden Strom bis ins Meer. Schnee strömt aus Schnee, Schnee ohne Ufer.
Reinheit am Ende ist auch Vernichtung am Anfang, reiner Schnee wird leicht zu Schneeresten, Schneescherben. Schneetrauer gewandelt und wiedergeboren in Schnee. Schnee flüstert weiter in endloser Stille.
So wie Wasser Sonne zurückbringt, die nicht verwelkt, so bringt Sonne Wasser zurück, das nicht verfließt. Ich hör Deine reine Schwermut im Schnee, ich hör dich, die Dämmerung im Sommer ist die Weiße Nacht.
Oma ist vor vielen Jahren von uns gegangen. Auf ihren hinterlassenen Dingen liegt dicker Staub. Ich frage Opa, warum er nicht sauber macht. Er sagt: „Das sind auch noch ein Dutzend Jahre von ihr.“
Gegen Abend jogg ich am Fluss. Unter einem dürren Zedrachbaum spielt ein weißhaariger Mann Saxophon. Ich setz mich neben ihn auf eine Steinbank, ein bisschen ausruhen. Hör ein Stück fertig, heb unwillkürlich meinen Daumen. „Sind Sie Künstler?“ Er nimmt einen Schluck Tee, „Nein. Als junger Mann war ich Signalhornist. Damals haben die Japsen von dort den Fluss überquert. Das Wasser war ganz rot …“ Ich bemerke, in dem Blumenbeet neben dem Etui für sein Instrument, stecken lauter Räucherstäbchen.
Your poetry’s tubes have been tied. I can tell, your loose tracts have been plugged with a metal ring. Actually, my poetry has cheated too. Before I went out I swallowed a few pills of Viagra. But however I tried, Poetry Periodical, state-owned flagship, you could never get pregnant. My poetry must be lonely for life.
Als er jung war hat er sich das Phoenix-Fahrrad im Brautpreis nicht leisten können und deshalb seine herzensgeliebte Xiao Fang nicht gekriegt. In mittleren Jahren hat sein Sohn als Mittelschüler mitgemacht beim Fahrraddiebstahl, wurde bei einer Großfahndung verhaftet, zu Gefängnis verurteilt. Als alter Mann lernt er, mit dem Smartphone den Barcode zu lesen, um ein Fahrrad zu leihen. Sieht Räder überall auf der Straße, lacht und lacht und weint.
Jemand postet für eine Ausstellung internationaler Gedichte im Viruskampf die Liste der eingeladenen AutorInnen. Der erste Kommentar unten ist die Frage: „Da ist Jian Ming dabei, der ist doch schon voriges Jahr gestorben?“ Noch ein Kommentar: „Wu An ist bald fünf Jahre tot, hast du ihn gefragt ob er mitmacht?“ Ich les weiter und sage nichts. Vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung hat eine Sprecherin der staatlichen Künstlervereinigung verkündet: „Der große Dicher Ai Qing [Vater von Ai Weiwei, 1910-1996] wird auch bei uns live davei sein!“ Als ich das gehört hab hab ich kalten Schweiß gespürt. Jetzt passiert mir das nicht mehr. Wenn du mir heute sagst, Konfuzius plant ein Buch der Lieder gegen Corona bin ich überhaupt nicht überrascht.
Corona ist ein Gedicht von Paul Celan. Es hat überhaupt nichts mit Krankheit zu tun, außer vielleicht mit der Krankheit der Liebe. Er hat es in Wien geschrieben, er war in Ingeborg Bachmann verliebt. Es ist ein schönes, ein stolzes Gedicht, ein Gesang an die Liebe. Manchmal helfen Gedichte in barbarischen Zeiten. Ruth Klüger hat Gedichte geschrieben, auch im KZ. Adorno war im Exil. Corona ist ein Gesang an die Liebe. Celan und Bachmann sind nicht sehr lange beisammen geblieben, aber die Zeit im Gedicht gilt noch und hilft solang du es liest.
Hör ihm zu, es gibt eine Aufnahme. Es ist Zeit, dass der Stein sich zum Blühen bequemt. Celan sagt „zum“. Es ist Zeit.
In my sights straight in the distance, a white dove goes through a fire up to the sky. Still it flies, changed into black. Maybe just its shadow, its soul flying. Maybe the ash can keep the shape of a dove sailing on.
The last one of the Flying Tigers is gone. I remember what they said: We fly along the Himalaya valleys and follow reflections from the debris of fallen comrades.
In der Früh wenn du noch den Frost spürst und schon die Wärme ist die beste Zeit um das Leben zu spüren.
MW 19. März 2020
JEDER TAG
jeder tag ist ein gedicht wenn du zeit hast im moment haben viele leute viel mehr zeit als sonst, wenn auch nicht unbedingt ruhe. haben sie einen moment? ist eine häufige frage im moment haben viele viele millionen in vielen erdteilen etwas gemeinsam. natürlich ist das auch sonst der fall aber normalerweise sagt niemand von dieser situation betroffene aller länder, lasst uns einander helfen, so gut wir nur können, oder was glaubst du?
every day is a poem if you have time at the moment there are many people who have more time although you still might not have peace and quiet enough. do you have a moment? is an everyday question. at the moment many many millions in many parts of the earth have something in common. actually that was the case long before, but nobody said affected people of all nations, let’s help each other as best as we can or did they? or did we?
vorige woche ist noch einer durchgeturnt so wie wir vorher fast jeden tag durch den motorikpark bevor sie ihn abgesperrt haben ich hab ihn gesehen vielleicht genau vor einer woche am sonntag in der früh heute gibt es wieder virtuellen gottesdienst nehm ich an vielleicht mach ich eh mit wir machen jeden tag ein gedicht im literadio mach mit wenn du willst
MW 22. März 2020
VÖGEL
vögel singen wie früher wieder ein strahlender märztag im vogelleben kommt glaub ich unsere seuche nicht vor vögel haben keine versicherung vogelfrei was hat das bedeutet menschenfrei manche straßen ein paar wochen lang in wien noch nicht wirklich glaub ich menschenfrei wien war judenfrei haben sie verkündet als der himmel frei für die bomben war und vögel singen wie früher und österreich ist frei nicht wahr
MW 23. März 2020
„Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. … Jeder ist in seinen Käfig eingesperrt, jeder an seinem Fenster, bei Nennung seines Namens antwortend und zeigend, worum man ihn fragt – das ist die große Parade der Lebenden und der Toten. … Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen. Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor: kraft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt – bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht. Gegen die Pest, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung. Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten und anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt. Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. Hier geht es nicht um Masken, die man anlegt oder fallen lässt, sondern um den »wahren« Namen, den »wahren” Platz, den »wahren« Körper und die »wahre« Krankheit, die man einem jeden zuweist. Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den »Ansteckungen«, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“
Coming out of People’s Park I run into a shower and hide in the guardhouse at the gate. The grandpa on duty asks for my age and tells me his. He picks up a peanut, chews with a sigh: Today’s society is a good one. In the times of the First Emperor, 66 years, if you’re not dead you’d get buried alive.
Old Uncle, my mother’s brother cancelled his ticket, says last few days he dreamt of Big-Character-Posters all over the earth and the sky. So many people have the sky on their heads, blue mask, they catch them everywhere. I am an eighty-year-old, guess I should stay in America.
„Hauptsache es gibt kein Getreideproblem, dann geht es gut weiter in China.“ Diesen Kommentar les ich auf meinem Handy beim Einkaufen auf dem Gemüsemarkt. Ich schlag mir auf den Schenkel, schrei laut: „Genau!“ und der Schweinemetzger springt gleich vor Schreck.
Ältere Leute haben gesagt,
mein Onkel
hat von Natur aus gute Hände.
Als er ein Jahr war
hat der Wahrsager seine kleine Hand
gedrückt und hat nichts gesagt.
Mit 19 hat mein Onkel bereits
einen Ruf in gewissen Kreisen gehabt.
Er ist einer der besten Taschendiebe des Landes geworden.
Mein Onkel hat mir gesagt,
alle drei Male im Gefängnis,
das war jedesmal Absicht,
er wollte sich von seiner Sucht kurieren.
Aber jedesmal nach der Entlassung
auf dem Heimweg hat er weitergemacht.
Mein achtzigjähriger Onkel
hat vor einem Monat ein Feuer entfacht,
um sich zu wärmen,
hat sich als ganzer zu Kohle verbrannt,
nur seine Hände
waren noch unversehrt.
Heute ist der 138. Geburtstag
des modernen Autors Lu Xun.
Eine ehemalige Schülerin
schreibt unter ein diesbezügliches Posting
„Heute ist auch der Geburtstag
des Kaisers Qian Long.“
Ich frag überhaupt nicht höflich:
„Ein Kaiser von deinem örtlichen Häuptling
und du gedenkst seines Geburtstags
wofür
wofür
wofür?“
Ich hör alle eintausendvierhundert fruchtbare Flecken
in meiner Provinz
widerhallen
von dieser Frage.
Oma flüchtet,
lässt Song-Porzellan und Jade zurück,
hat meinen Onkel in ihrer Hand.
Die Flüchtlinge drängen sich oben am Berg,
halten den Atem an.
Jemand steckt den Kopf raus und fragt:
Was ist wenn das Kind weint?
Die ganze Gruppe will Oma und das Kind weghaben.
“Wenn es weint, drück ich es tot,
eure Sicherheit ist nicht in Gefahr!”
Sechzig Jahre später frag ich sie,
und wenn der Onkel geweint hätt?
“Dann hätt ich ihn totdrücken müssen.”
Im Fernsehen bombardieren die Japaner Chongqing, 1939.
In einer Szene sieht man die Bomben ganz nah.
Meine Mutter zeigt hin und fragt,
schaut das nicht aus wie Gaskartuschen?
Wirklich ziemlich ähnlich.
Sie starrt den Fernseher an,
sagt langsam, wenn die Kartuschen aus sind,
verwenden wir Strom.
and people take photos
and look for demons in their phones
the sun is on the erlauf
and on the boulders
from the last ice age
or from another one,
Toni would know
crushed together sediments
something harder below
darker
something the river couldn’t cut through
paths, basically one secured path
including semi-caves
in the big one we told each other tales
of highway people, robbing
innocent tourists
don’t know if Anton writes anymore
sure hope he does
in his one published story
his class goes through a portal
and there is a wonderful female hero
from another planet
or galaxy or dimension
he’s in a different school now
there was a little bit of rain
in the beginning, when we came down
and started climbing
up on the boulders over the river
in the summer you can work up a sweat, just a little later
there is a cove
with real sand, there are several places
quite good for swimming
if you go in fast, it isn’t cold
you hardly notice once you are pulled
down by the current
not very fast, but once you’re in
you are in, you can come out
at the next little beach.
How old is Austria? .
How do they know, when the plough sends up shards
and they look at them, people were buried not in the war, not from
the prison camps from the First World War
onwards,
one thousand two hundred years ago roughly,
and they were Slavs, from their language. Nothing written
there in the field. They just know,
from one written document saying
the people round a new monastery
one thousand two hundred years ago roughly
were Slavs. Different language
from the bishop and maybe heathens
but there was some sort of arrangement and recognition.
Kingdoms, but not a nation
around one language, not at that time.
Austria isn’t Germany.
We aren’t German, we speak the language but we are Austrians.
History. Baggage. We were born later, all of us, but there are stories.
There was a shop owned by Jews,
in every little town, part of town,
roughly.
Erlauf gorge is a wonderful walk
for almost anyone,
anyone who walks,
it is a different world down below
through the portal
not far from the highway.
MW August 2019
ERLAUFSCHLUCHT
– für Paula, Anton & Toni
Oben Bundesstraße
unten Mittelalter
bis auf die Leute die fotografieren
und Dämonen suchen
in ihren Handys.
Die Sonne liegt
auf der Erlauf
und auf den Felsen
aus der letzten Eiszeit
oder aus einer anderen,
Toni weiß es.
Zusammengepresste Sedimente,
und unterm Wasser
liegt etwas Härteres,
Dunkleres,
wo der Fluss nicht durchkommt.
Pfade, ein befestigter Pfad
mit halben Höhlen.
In der großen Höhle
haben wir uns erzählt
wir sind Räuber
und überfallen
unschuldige Touristen.
Weiß nicht, ob Anton noch schreibt,
hoffentlich tut ers.
In seiner großen Geschichte,
in seinem Buch
geht seine Klasse durch ein Portal
und da ist eine ganz große Heldin
von einem anderen Planeten,
aus einer anderen Dimension
oder so.
Jetzt geht er in eine andere Schule.
Am Anfang war ein bisschen Regen,
wir sind runtergestiegen
und gleich hinaufgeklettert
über die Felsen mitten im Fluss.
Im Sommer wird dir ein bisschen warm,
und in der Nähe
ist eine Bucht mit gutem Sand,
ideal zum Schwimmen.
Wenn du schnell reingehst,
ist es nicht kalt,
du merkst es gar nicht
weil es dich zieht,
hinein und hinunter.
Nicht wirklich schnell,
aber wenn du drin bist
bist du wirklich drin,
du kannst heraus
bei der nächsten Bucht.
Wie alt ist dieses Land?
Wie wissen sie, wenn der Pflug
Scherben aufwirbelt,
und sie schauen einmal hin,
von wann die sind,
nicht aus den Gefangenenlagern
vom Ersten Weltkrieg und später,
sondern tausendzweihundert Jahre früher ungefähr, und dass sie Slawen waren,
von ihrer Sprache. Obwohl keine Inschrift dort ist.
Sie wissen es einfach, von einem
einzigen Dokument, da steht die Leute
rund um ein Kloster vor tausendzweihundert Jahren ungefähr
waren Slawen. Andere Sprache als
der Bischof und vielleicht Heiden,
aber man hat sich irgendwie respektiert
und zusammengelebt für eine Weile.
Awarenreich, Frankenreich und so weiter, aber keine Nation von der Sprache her, nicht zu der Zeit.
Österreich ist nicht Deutschland.
Wir sind keine Deutschen.
Wir sprechen die Sprache, aber
wir sind Österreicher. Geschichte.
Was man herumschleppt.
Wir sind alle Nachgeborene,
oder zugezogen,
aber es gibt die Geschichten.
In jedem Ort war ein Geschäft
das einem Juden gehört hat,
in jedem Ortsteil, ungefähr.
Erlaufschlucht ist eine wunderschöne
Wanderung für groß und klein,
eine andere Welt
gleich dort unten durch das Portal
ganz in der Nähe von der Bundesstraße.
the danube flows
in the evening people sit in the sun
on the southwestern side
in the summer months
there are concerts on the main square
and in the cafés
the views are great from the castle
and from the liberation monument
and cemetery further up
some of the soldiers buried are women
in the summer months
the synagogue is open
as a museum
they have a nice garden
it is a functioning synagogue
all year round
the only one left
they had bigger ones
even after the war
after the holocaust
now this is the only one left
they built a freeway
interstate quality
right through the old city
it’s a functioning freeway
it’s a beautiful city
shabby in places, but proud
somehow still healing
the danube flows
In den Städten wo Panzer parken,
gestern. Ziehe ich drei
Intellektuellen die Haut ab. Auf dem Land
röst & verzehr ich Lebern & Nieren von sechs starken Bauern.
Blutspringbrunnen
verschönern die grünen Verkehrsinseln. Spatzen
fliegen über sonnige Dreschplätze
und sehen Statuen aus Fleisch.
Und Gedichte. Wie Kugeln
die Menschenmädchen erschießen.
Himmelslaternen. Eins zwei drei
Menschenwürste
zum letzten Abendmahl.
Das ist ein Befehl: Applaudiert mir!
In Friedenszeiten
kennt ihr keine Schmerzen.
Bei Nachkriegsprozessen stehen wir ganz vorne,
ich und meine Kunst
ausgezeichnet belohnt.
1991
Übersetzt von MW im Juni 2019
Yi Sha FASCIST ART
I order you: Applaud me!
In the city where tanks are parking,
yesterday. I peel off three hides
from intellectuals. In the country,
I roast and eat entrails of six sturdy peasants.
Fountains of blood
adorn the gardens dividing the roads. Sparrows
fly over the sunlight on threshing grounds
and see statues of flesh.
Also poems. Like bullets.
Mow down human sisters.
Sky lanterns up high, one after the other,
human sausages
for a last supper.
I order you: Applaud me!
In times of peace
you don’t know suffering.
At post-war trials, first-tier war criminals,
me and my outstanding art
receive their rewards.
auf der chinesischen erde
unter allen reisezielen
hierher hab ich mich bis jetzt nicht getraut
aber als chinese
muss ich es mir
einmal anschauen
wenn ich ein großer dichter sein will
muss ich mit großen augen
hinstarren bis mir die augen rot werden
an der chinesischen klagemauer
lass mich weinen
2018
Übersetzt von MW im Dezember 2018
南京大屠杀遇难同胞纪念馆
伊沙
在中国的哭墙下
让我哭
这是华夏大地上
所有景点中
我最不敢看的
但是身为中国人
一生必须
看一次
身为中国大诗人
必须双目圆睁
直至双目淌血
在中国的哭墙下
让我哭
Yi Sha NANJING-MASSAKER
als chinese
geschichtlichen fakten gegenüber
bring ich sie von geburt mit
und in den genen
also halt ich mich vorsichtig
fern von diesen sachen.
fotos, filme, memoiren;
ich bin ein feigling mit gebrochenem herzen.
Was ich am schwersten schlucken kann:
Zweihundert japanische Teufel führen
fünfzigtausend chinesische Kriegsgefangene
ans Jangtse-Ufer und schlachten sie ab.
Fünfzigtausend Tauben trotten mit gesenktem Blick,
nicht einer wird Falke und fliegt ins Nirvana.
Hui Lin ist 1942 geboren.
Liang Bo ist 1944 geboren.
Mein ältester Bruder ist 1946 geboren.
Der zweite Bruder ist 1949 geboren.
Der kleinste Bruder ist 1958 geboren.
Mein ältester Bruder ist mit 71 gestorben.
Der zweite Bruder ist mit 59 gestorben.
Der jüngste ist nicht einmal ein Jahr alt geworden.
Ich schmeichle Hui Lin und Liang Bo, sie seien jung.
Liang Bo setzt neckisch seine Schirmkappe auf,
deckt sein weißes Haar zu, ist gleich noch jünger.
“Ich bin vom Affenjahr,
geboren in Chungking im Widerstandskrieg gegen Japan,
wir habens nicht leicht gehabt.
Aber in Taiwan und in Amerika
waren kein Hunger und keine Kampfsitzungen.”
what does it mean to be human?
what does it mean to be alive?
means you’re not dead yet.
means you can ask superfluous questions.
goddammit, every animal knows
what it means to be an animal.
right?
our children are growing up
discovering love
they always had love, but
any animal knows this is different.
they are bewildered by their own bodies.
again, this has gone on for a while,
it just grows more acute,
and again, every animal knows.
goddammit,
what a luxury question.
what does it mean
to be mean?
not the golden mean.
everyone knows what it means to be mean.
he’s in the news
and on the news every day.
to be human
means to have rights.
doesn’t it?
1947, UN-declaration,
two people from China
worked on it.
Animal rights.
Post about dying whales,
you’ll get 1000s of likes,
about people, oh well.
I want to call this poem
stupid question.
Thank you!
Now go forth and profligate,
or whatever.
MW April 3, 2019
ALWAYS ONLY THE CULTURE
always
always only
always only the
always only the culture
always only the culture
always only the cultural
revolution
always only the cultural
revolution
since 1966
always only the cultural
revolution
always only the cultural
revolution
always only the culture
always only the culture
always only the
always only
always
not the famine
but
but still
but still also
the tens of millions
starved to death
but
but still
but still also
but still also
the terror
the totalitarian
terror
“totalitarian” is in dictionaries
and in chinese search engines
china is hardly
mentioned at all
as neighbor of the soviet union
and in art
in the art
of the cultural revolution
always only the culture
always only the culture
hannah arendt
died in 1975
before the end
of the cultural revolution
in the last edition she saw
of her seminal work
origins of totalitarianism
at least in the german edition
she mentioned china
in the cultural revolution
hardly anyone mentioned the famine
always only the culture
always only the culture
but
but still
but still also
the terror
the terror
pinochet
pol pot
kissinger
who downed more
who did more
who bombed more
1979, democracy wall
in beijing
since 1979
capitalism
reigns supreme
the party reigns supreme
through capitalism
or the other way
through kaputalism
or the other way
everything demolished developed
and demolished again
or the other way
of course only in china
but
but still
but still also
always only the culture
always only the culture
always only the
always only
always
always
MW March-April 2019
IMMER NUR DIE KULTUR
immer
immer nur
immer nur die
immer nur die kultur
immer nur die kultur
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur-
revolution
seit 1966
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur
immer nur die kultur
immer nur die
immer nur
immer
nicht die hungersnot
oder
oder doch
oder doch auch
die zig millionen
hungertoten
oder
oder doch
oder doch auch
der terror
der terror der
totalitären herrschaft
“totalitär” gibt es in wörterbüchern
und in chinesischen suchmaschinen
china wird dabei höchstens
ganz wenig gestreift
als nachbarstaat der sowjetunion
und in der kunst
der bildenden kunst
der kulturrevolution
immer nur die kultur
immer nur die kultur
hannah arendt
ist 1975 gestorben
also vor dem ende
der kulturrevolution
in der letzten auflage ihres hauptwerks
ursprünge und elemente totalitärer herrschaft
erwähnt sie china
in der kulturrevolution
kaum jemand sprach damals von hungersnot
immer nur die kultur
immer nur die kultur
oder
oder doch
oder doch auch
der terror
der terror
pinochet
pol pot
kissinger
wer hat mehr
wer hat mehr
wer hat mehr bombadiert
1979 war die mauer der demokratie
in peking
seit 1979
regiert der kapitalismus
die partei regiert
mithilfe des kapitalismus
und umgekehrt
mithilfe des kaputtalismus
und umgekehrt
es wird kaputt gemacht und neu gebaut
und wieder kaputt gemacht
und umgekehrt
Mama ist aus den 1940er Jahren
in den 1970er Jahren hat sie meinen kleinen Bruder geboren
dann haben sie ihr zwangsweise
die Sprirale eingesetzt
2014
als sie 70 geworden ist
ist es nass durchgebrochen und hat sich entzündet
dann erst haben sies ihr im Spital rausgenommen
Sie hat geglaubt der kleine Metallring
würd im Fleisch verschwinden
und hat nie erwartet dass das Entfernen
des staatlichen Geräts
noch einmal kostet
5000 Yuan
our son wakes up with the light
he’s 14 now
that’s our problem
we need a school
where he learns enough
to get a job
and so on and so on
our son wakes up with the light
MW March 2019
NOTHING
there is nothing
there is nothing
there is nothing more
there is nothing more
there is nothing more beautiful
there is nothing more beautiful
there is nothing more beautiful than light
there is nothing more beautiful than light
in the morning
MW March 2019
KOSICE
Kosice has several synagogues.
They razed the oldest one in 1960.
One is active, across the street
is a café called The Smelly Cat,
live jazz in the evening.
The biggest synagogue
is the concert hall
of the city.
1100 seats.
12,000 people deported in 1944.
There are many churches.
Elisabeth Cathedral
has a mural for Sára Salkaházi, 1899-1944.
She saved about 100 Jews.
2013-2019
OLOMOUC ART MUSEUM COLLECTION
we look very young,
you look very young
among the statues,
must be main square.
a surrealist flair.
astronomy clock plays with its bells
at noon. shows happy members
of working classes.
very nice college town,
behind the australian hostel
is a square hussite church.
2013-2019
IMMER NUR DIE KULTUR
immer
immer nur
immer nur die
immer nur die kultur
immer nur die kultur
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur-
revolution
seit 1966
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur-
revolution
immer nur die kultur
immer nur die kultur
immer nur die
immer nur
immer
nicht die hungersnot
oder
oder doch
oder doch auch
die zig millionen
hungertoten
oder
oder doch
oder doch auch
der terror
der terror der
totalitären herrschaft
“totalitär” gibt es in wörterbüchern
und in chinesischen suchmaschinen
china wird dabei höchstens
ganz wenig gestreift
als nachbarstaat der sowjetunion
und in der kunst
der bildenden kunst
der kulturrevolution
immer nur die kultur
immer nur die kultur
hannah arendt
ist 1975 gestorben
also vor dem ende
der kulturrevolution
in der letzten auflage ihres hauptwerks
ursprünge und elemente totalitärer herrschaft
erwähnt sie china
in der kulturrevolution
kaum jemand sprach damals von hungersnot
immer nur die kultur
immer nur die kultur
oder
oder doch
oder doch auch
der terror
der terror
pinochet
pol pot
kissinger
wer hat mehr
wer hat mehr
wer hat mehr bombadiert
1979 war die mauer der demokratie
in peking
seit 1979
regiert der kapitalismus
die partei regiert
mithilfe des kapitalismus
und umgekehrt
mithilfe des kaputtalismus
und umgekehrt
es wird kaputt gemacht und neu gebaut
und wieder kaputt gemacht
und umgekehrt
20 years ago I wrote my first Chinese poem.
It was in Chongqing. “Wanbao, wanbao!”
That’s what they cry, all over China. Every afternoon.
“Evening news, evening news!”
Evening paper, every town has one.
Some have morning papers, those are called Zaobao,
most of them.
“Get your evening paper!”
Anyway, “wanbao, wanbao!”
could mean late retribution. Bào, what comes back, gets back,
a report. Wan, late. Zao, early.
“Wanbao, wanbao!”
Chongqing was the wartime capital.
Jiefang bei, liberation monument, is the city center.
It’s not from 1945 or 1949,
it’s from the 1930s or so.
Most people don’t know exactly.
Emancipation column. One of my students called it that.
Kang Di, think it was her.
Emancipation in German means women’s lib.
“Emanzipationssäule”.
I was teaching German.
Women’s Liberation Monument.
Women’s Rights Monument.
She didn’t know emancipation means many things.
Didn’t want to correct her.
Another essay was about marriage.
Were they really so conservative, our elders,
when they married a stranger,
when they slept with a stranger they had never seen before?
Good question.
Good essays, especially the girls, the young women.
“Wanbao, wanbao!”
In Beijing it sounded more like “wanbo!”, although Beijing supposedly
is where Mandarin comes from.
“Wanbao, wanbao!”
Chongqing is a hilly city. No bicycles. What did they do, back in the 1960s,
1970s, ’80s, when no-one had a car?
They had porters, for the steep slopes with the stairs,
I guess they’re still there.
“Bang-bang”, people for hire.
They bang on their tools, bang their tools together.
Bang-bang are men, but there are women porters.
Hong Ying’s mother carried sand, rocks and gravel.
Daughter of Hunger, her most famous book.
Daughter of the River in English, it was a bestseller.
Hungry Daughter, Ji’e de nü’er.
That’s right, they have a “ü”, just like in German,
and like in Turkish. Ürümqi, city in China,
nowadays governed like North Korea.
Many re-education camps. They had prisons in Chongqing,
Liao Yiwu was in there,
another famous writer from China.
Didn’t know him then. But Chongqing is about war and imprisonment.
Lieshimu, that’s the address
of our university. We taught German and English.
Two universities, one foreign languages,
the other law and police. Law and politics. Yes, they are not separated.
“Wanbao, wanbao!” No zaobao in Chongqing,
although I’m not sure now.
Lie-shi-mu, Martyr’s Grave.
Geleshan, Gele Mountain, right behind our college,
other side of the train tracks.
Someone was murdered there, some gambling debt.
Students died, one or two every few months.
Nice walks on Geleshan, very peaceful, really.
“Wanbao, wanbao!” Every city in China.
Nowadays people have cell phones,
but there are printed newspapers and magazines.
And printed books, there is no crisis.
“Wanbao, wanbao!” Late reports, late reports.
From the guns. Or whatever.
Karma. Shan means good, doing good.
A Buddhist word. Shan you shanbao,
doing good has good returns.
Wouldn’t that be nice?
But teachers believe it, teachers and parents,
again and again, otherwise you go crazy.
They went crazy too, war and famine,
all the way till 1961, ’62. When Hong Ying was born.
No, also 1969,
Cultural Revolution, like civil war.
Shan you shan-bao,
good deeds, good returns.
“Shan you shanbao, e you e-bao.”
E like in Urgh! Like something disgusting, that’s what it means.
Ur yow ur-pow, something like that. But more like b.
Eh yow e-bao. Yes, “e” like ur. “You” like yo-uw.
Shàn you shànbào, è you èbao.
Do good for good returns, do bad stuff for bad returns.
Not that it doesn’t come back, time isn’t ripe.
That’s how it goes on.
You throw the boomerang, boomerang doesn’t come back,
they tell you wait, it’ll come back.
Karma.
And so I wrote a Buddhist newspaper poem.
Bu shì bu bào, shíhou wei dào.
Wei like in Ai Weiwei, “ei” like in Beijing.
Wei means not yet, that’s his name. Really.
“Wei” like the future.
His father was the most famous Communist poet
of the People’s Republic. Imprisoned in the 1930s,
maybe in Chongqing. Then again under Mao.
Exiled to Xinjiang, North Korea today, re-education camps.
Desert, somewhere between Dunhuang and Ürümqi,
what was the town? It’s a big city now.
Ai Weiwei grew up in a hole in the ground, with his brother.
They are both artists. Anyway, where was I?
Bu shì bu bào, shíhou wei dào.
Not that it doesn’t come back, time isn’t ripe.
Emancipation monument.
MLK day, I have a dream.
They had to memorize the whole speech,
in schools in China, 1970s.
Maybe earlier too, maybe till now.
Good deeds, good returns.
Bad deeds, bad returns.
The Chinese Dream.
Not that it doesn’t come back.
Zao you zaobao, wan you wanbao.
Morning has morning papers, evening has evening news.
Early deeds, early returns.
Late deeds, late returns.
Late returns after gambling.
Famous party secretary, famous police chief,
they are in prison now. Or one is dead?
Killed a British guy, now they imprison Canadians.
Anyway, my poem.
Wanbao, wanbao!
Wanbao, wanbao!
Zao you zaobao,
wan you wanbao.
Bushi bu bao, shihou wei dao.
Actually the saying goes on, the Buddhist Karma.
Once time is ripe, everything comes back.
You don’t need to say that. People know.
mit drahtlosen kopfhörern
tret ich in das schweigende museum
eindringlich hör ich im rechten ohr
frau Bao
als wär sie direkt neben mir
sie ist unsre junge führerin
in wirklichkeit ist sie manchmal vorn
manchmal hinten
manchmal nah dann weiter weg
aber sie hat tränen in ihren augen
das hat sich nicht geändert
Welt, bleib wach
sagt meine Werbung für Thalia.at
Ich mag Buchhandlungen
Maybe they have Mary and the Witch’s Flower
or we’ll get it in China
Thalia is big enough
the main one at Wien Mitte
to have stuff in English and DVDs
and other languages maybe
I dream of a bookstore
with Turkish Arabic Czech and Hungarian
Slovac Italian Hebrew Slovenian
and many other books
in Vienna
a chain store
maybe Thalia even
that would be something
to stem the tide
of people glued to their smartphones
or screens with ebooks
from Thalia.at
maybe just a little
MW September 2018
I HATE UTUBE TUTORIALS
i hate my tube tutorials
i hate your tube tutorials
i hate his tube tutorials
i hate her tube tutorials
i hate its tube tutorials
i hate our tube tutorials
i hate your tube tutorials
i hate their tube tutorials
maybe we should have our tubes tied
just kiddin’
is there a tutorial for poetry?
MW September 2018
SOMEONE SAYS THERE ARE MORE EMOTIONS THAN THERE ARE EMOJIS
In a quick ad they say that very quickly
in German they are so excited
there is an extra r
Es gibtr mehr Gefühle als Emojis
Who cares
people ain’t gonna read any more books
if you tell them books are cooler than movies
or things on a screen
which could be books
or poetry
Anyway
sell your books
more power to you
Your campaign in German is rather retro
Welt, bleib wach
sounds like something from 1932
Afterwards
everyone knows
world didn’t stay awake, not enough
Racism
Fascism
Stalinism
Maoism
Neoliberalism
ILLIBERAL DEMOCRATIC
STRONGMANISM
Just how long would you have to stay awake
with a nice book
from the chain store
with this nice ad
to prevent
anything
I have a poem about emojis
no, it’s not written in emojis
it’s in Chinese
I translated it into German
its a very nice poem
They have it up in the streetcars
and buses in Stuttgart
Maybe two more months
I still don’t have a photograph
They sent me two posters
they also sent two posters to China
and a very nice letter
Poetry doesn’t prevent anything
Mao wrote poetry
Stalin wrote poetry
Don’t know if Mussolini
wrote poetry
or Tojo or Franco
or that fucking German Austrian fart
Emojis are nice
Emojis are not competing with books
The poem is by Jiang Xinhe
she was 14
when she wrote it in 2017
The poem is called USELESS CHINESE
that’s a short version
MY CHINESE IN SCHOOL IS USELESS SOMETIMES
On a train through the desert
I add
an Uighur boy on my WeChat
When I’m back in Shenzhen we say hello
but I don’t understand Uighur
and he doesn’t understand Chinese writing
Talking doesn’t work out either
so we can only send emojis
We have used every emoji available
all the way down
now
we are starting again
from the top
7/8/2017
So what’s your emotion
after reading this poem?
Do you know
what’s going on about Uighurs
in China?
Right now, in 2018?
The camps
must have been there
in 2017, last year,
some of them.
Hundreds of thousands, some say one million
mostly men and boys
caught up in camps
for re-education.
Women, too.
So where is that boy now?
I am afraid
to ask the poet.
MW September 2018
SCHADE
schade um kern
schade um die spö
schade um österreich
schade um wien
aber hauptsache
die u6
wird steril
MW September 2018
HEIMATLAND
schwiegersohn und sicher kein nazi
aber ein rechter mann für die wirtschaft
koaliert mit
abgehalftertem ex-neonazi
und konsorten
und die machen zusammen
die entsprechende politik.
oder soll ich’s vielleicht
netter sagen?
naja, es gibt noch den präsidenten
und lokal gibt’s auch noch ganz viel
und lokale gibt’s auch noch ganz viele.
MW September 2018
HEIMATLAND II
das kinderfreibad in wien ist sehr schön
ich mein das im dritten bezirk
über den gürtel
also vielleicht schon im zehnten
nicht weit vom elften
im schweizergarten
nicht weit von der welt
nämlich von der autobahn
vom hauptbahnhof sowieso
alte bäume
ein schönes gelände
heuer haben sie modernisiert
neue klos
alles größer
dort hinten war früher ein basketballring
jetzt im september sind keine leute
endlich hat es richtig geregnet
aber die sonne ist noch genug
MW September 2018
HEIMATLAND III: MARILLENKNÖDEL
marillenknödel
marillenknödel
noch einen
marillenknödel
noch einen
marillenknödel
noch einen
marillenknödel
noch einen
marillenknödel
noch einen
marillenknödel
sind es schon acht
noch einen
ich weiß ich hab
mindestens acht vertragen
Sometimes you can go back in time.
You go back to a house,
you go back to a beach,
you go back to picking blueberries.
You used to find many other small berries,
behind the house left from Soviet times.
They used to spy on the whole town from that house.
Not tall, rather long,
converted for tourists.
That house is gone now,
hope they left the woods alone.
Sometimes you can go back in time.
Trees would have swayed,
wind would have blown
almost the same in grandmother’s time.
I’m sure the sunset was just as beautiful
through war and holocaust and deportation.
Sometimes you can go back in time.
Grandmother’s house is here,
you sang the songs from grandmother’s time
on the big stage with thousands and thousands.
Zile is here,
your relatives will always be here.
Sometimes you can go back in time.
We were here five years ago
and before,
when the kids were small
and fit in a bicycle carrier.
We rode rented bikes and walked through the woods
to the tip of the peninsula.
Very nice there,
hope they preserve it.
Housing from the 70s maybe,
other historical memories
including 1990.
Independence,
rediscovery of your inheritance.
A precarious future.
Sometimes you can
go back in time.
alle menschen sind f
alle menschen sind ff
alle menschen sind fff
alle menschen sind fffr
alle menschen sind fffrr
alle menschen sind fffrrr
ei!!!
geboren
als vogel,
als wild.
alle haben dieselben würdenträger
und die gleichen rechten
von geburt an. nicht wahr?
alle sind mit vernunft begabt
und mit gewissen,
außer dem innenminister.
sie sollen einander begegnen
in brüderlichkeit. ach ja. 1948.
nach dem krieg
nach der shoah
auch zwei chinesen waren dabei.
muss man die menschenrechte erklären?
muss man oder frau die menschen erklären?
wahrscheinlich schon immer in jeder familie
in jedem dorf oder haushalt
jeder und jedem
an jedem sonn-und feiertag,
an jedem werktag.
Der offene Brief von der Sprachkunst ist sehr gut. Gestern hab ich ihn gelesen und gedacht, jetzt möcht ich doch etwas schreiben. Vorgestern hab ich mir die Rede das erste Mal herausgesucht, angeschaut, angehört. Sehr, sehr sehr gut. Sehr, sehr wichtig. Selten. Nicht feig, wie er selbst sagt. Das ist in Österreich schon viel.
Er wollte nicht reden, das glaube ich ihm. Weiß nicht, wer das auswählt. Aber wenn er redet, sagt er, macht er es sich nicht einfach. Das glaub ich ihm auch. Österreich hat ein unheilvolles Bedürfnis nach Harmonie. Klingt mir selbst zu pathetisch, wenn ich das sage. Oder ist es auch Kalkül? Es ist vielleicht beides. Sag etwas Positives. Etwas Konstruktives, Aufbauendes. Das hat Köhlmeier dann im Interview auf ORF2 gemacht. Ich glaube schon, dass er glaubt, was er sagt. Er will es tun. Er will Herrn Schrecken beim Wort nehmen. Natürlich, das sollten wir alle, Politiker beim Wort nehmen.
Wenn du es ernst meinst, bin ich bei dir. Sagt Köhlmeier. Ich will dir erst einmal vertrauen, sagt er. Wenn du sagst, die Partei muss sich ändern. Soll ich mir jetzt die Rede von Herrn Schrecken bei diesem Deutschnationalen Ball heraussuchen? Ich mag keine Videos. Ich mag auch keine Podcasts. Youtube ist etwas Tolles, auch etwas Demokratisches, aber ich mag es nicht. Ich mag Musik auf Platten. Kassetten. Filme im Kino. Reden live, ab und zu. Trete gern selber auf. Genommen werden, ausgewählt werden. Wer hat Köhlmeier ausgewählt? Danke! Tausend Dank! Ich könnte nicht sagen, ich vertraue Herrn Schrecken. Ist das eine Schwäche von Köhlmeier, wenn er sagt, dass er vertrauen will? Vielleicht nicht. Es ist nur im Interview. Die Rede war und ist sehr, sehr, sehr wichtig.
Bei Youtube kommt man vom Hundersten ins Tausendste, auch wenn man sagt, Herrn Schrecken hör ich mir sicher nicht freiwillig an. Aber gleich neben der Köhlmeier-Rede ist die von Arik Brauer. Auch schön. Auch sehr persönlich. Wenn er sich erinnert, an das Kriegsende in Wien. Am Flötzersteig. Hinauf zum Steinhof. Schrebergärten, wo sich Arik Brauer versteckt hat. Als sechzehnjähriger Jude. Noch ein Kind, vom Aussehen und von der Stimme. Ein schöner Sopran, sagt er. Sehr, sehr sympathisch. Das ist Österreich. Wien. Diese Sprache. Jüdisch gefärbtes Wienerisch. Selten. Sehr sehr kostbar, unsere Sprache. Es tut weh. Das Erinnern. Es ist sehr schön. Auch dass er gleich sagt, die meisten Leute haben sich nicht befreit gefühlt. Die Frauen. Die Leute in den Trümmern.
Die Demokratie. Ein zartes Pflänzchen. Man passt auf die anderen auf. In Europa. In der EU. Die Ironie, mit der er das sagt, ist auch sehr schön.
Die Einwanderung, sagt er, sei schuld. Am Rechtsruck. Die Einwanderung aus arabischen Ländern, wo so viele Leute die Juden zurück ins Meer werfen wollen. Da fühlt er sich bedroht. Sagt er. Von der Einwanderung. Die Einwanderung sei schuld am Rechtsruck, auch in Polen, Ungarn und so weiter. Das sagt er dann im Interview. Und Ex-Bundespräsident Ernst Fischer sitzt konsterniert dabei. Fischer war Flüchtling, im Zweiten Weltkrieg. Es tut weh. Die Kameras zeigen, wie die Politiker schauen. Das ist sehr gut.
Arik Brauer wird ganz besonders geliebt und bejubelt. Auch von der Regierung. Und Arik Brauer verbeugt sich mehrmals und schüttelt Herrn Schrecken freudig die Hand.
Welche Einwanderung? Es gibt nach wie vor keine Araber in Polen. Oder in Ungarn.
Welche Einwanderung? In Polen gibt es viele ukrainische Gastarbeiter. Stalin hat ja die Ukraine und Polen nach Westen verschoben. Also dort, wo die ukrainischen Gastarbeitern teilweise herkommen, war vorher Polen.
Wandern die Gastarbeiter ein? Manche, wenn sie können. Glaube ich.
Noch einmal, es gibt keine Einwanderung aus arabischen Ländern in Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei. Überhaupt keine. Vielleicht ein paar ganz wenige SyrerInnen, die es doch irgendwie geschaftt haben. Arbeit. Heirat. Wenige. In Polen ganz sicher noch viel weniger als in Ungarn. Geographie.
Warum sagt Arik Brauer so einen Blödsinn?
Soll ich es analysieren? Warum fallen die Leute auf Schrecken herein?
Es ist alles sehr kompliziert. Sagte Sinowatz, sagt Arik Brauer. In der Demokratie, in Europa. Das ist ja das, was so weh tut. Dass er so gut redet. Bis auf den Blödsinn, bis auf den Schrecken.
Jetzt könnte ich aufhören. Warum fällt jemand auf Schrecken herein?
Moslems gibt es mehr als früher. Muslime. In Österreich. Türken. Tschetschenen. Innen. Frauen. Frauen, Männer, Kinder. Viel mehr Muslime als Juden. Dass es beides gibt, Muslime und Juden, in Österreich, ist sehr, sehr wichtig. Musliminnen, Jüdinnen. Identität. Gehört zu uns, seit über hundert Jahren. Seit ewig. Seit immer. Österreich ist Europa.
Unlängst war im Standard ein Kommentar, der an das Arabische im Römischen Reich erinnert hat. Einige Kaiser, aus Syrien und so weiter. Lukian. Etwas bei Lukian. Europa gabs nie ohne Araber.
Harmonie. Hab ich jetzt auch Harmoniebedürfnis?
Moschee und Kasino. Eines meiner besten Gedichte. Chinesisch, ursprünglich. Geschrieben in Malaysia. Handelt auch von Singapur. Da gibt es Fotos. Wie ich Moslem spiele. Sozusagen. Es war sehr schön.
Jetzt hab ich doch sehr viel geschrieben. Kein Gedicht. Einmal. Friede sei mit Euch, mit uns. Amen.
Shi Ran WIR RENNEN NOCH IMMER VATERS ERWARTUNGEN NACH
beim blättern in vaters manuskripten
fällt mir ein wie enttäuscht
er uns angeschaut hat
kein dichter darunter
als mein kleiner bruder, der jüngste
an die uni gekommen ist
hat vater geseufzt
so viele kinder
keiner wird arzt
heute schreib ich
aus interesse
doch noch gedichte
meine kleine schwester die lange bei medien war
steigt plötzlich um auf chinesische medizin
aber jetzt hat uns vater
schon zehn jahre verlassen
Texte von Li Jingrui 李静睿, Qiao Ye 乔叶, Xi Chuan 西川 und vielen NPC 新诗典 – AutorInnen (siehe unten).
Übersetzungen von Marc Hermann, Julia Buddeberg, Cornelia Travnicek (Erzählungen) und Martin Winter (Gedichte: 新世纪诗典 -NPC)
Im Herbst erscheint bei fabrik.transit in Wien eine zweisprachige 新世纪诗典 NPC -Anthologie.
NPC steht für New Poetry Canon, eigentlich New Century Poetry Canon, 新世纪诗典. Abgekürzt als NPC. NPC steht sonst für National People’s Congress, also der Nationale Volkskongress, Chinas Parlament, das allerdings nur einmal im Jahr im März zwei Wochen lang zusammentritt. Seit 2011 wird von Yi Sha 伊沙 im NPC-新世纪诗典 jeden Tag ein Gedicht vorgestellt, in mehreren chinesischen sozialen Medien zugleich. Oft wird ein einziges Gedicht schon in den ersten zwei Tagen zehntausende Male angeklickt, kommentiert und weitergeleitet. Ein nationaler Poesiekongress.
AAA (3A) 三个A, geb. in den 70er Jahren in Laibin, Provinz Guangxi. Dichter, Schriftsteller, Herausgeber. Erhielt 2015 den Li-Bai-Förderpreis. An Qi 安琪, eigentl. Huang Jiangpin, geb. im Februar 1969 in Zhangzhou, Provinz Fujian. Dichterin, Schriftstellerin, Herausgeberin. Lebt in Peking. A Wu 阿吾, “Dichter und Denker”. 1965 in Chongqing geboren. 1988 Mag. phil. Journalist und Redakteur bei Tageszeitungen, 1994 bis 2005 beim TCL-Konzern. Bei Dao 北岛, eigentl. Zhao Zhenkai. Geb. am 2.8. 1949 in Peking. Gründete Ende 1978 mit Mang Ke die Zeitschrift Jintian (Heute), zur Zeit der Demokratie-Mauer in Peking. Nach dem Massaker von 1989 im Exil. Seit 2007 Professor in Hongkong. Cai Xiyin 蔡喜印, geboren 1966, Hochschulabschluss 1989. Lebt in Hefei, Prov. Anhui. Büroangestellter. Poesieliebhaber über 50. Caiwong Namjack 才旺南杰, männlich, kommt aus Naqu in Tibet. Chun Sue 椿树, geb. 1983 in Beijing, stammt aus Shandong. Nach dem Welterfolg ihres Romans “Beijing Doll” war sie auf dem Cover von Time Magazine. Lebt mit Mann und Kind in Berlin. Eryue Lan 二月蓝, weibl., 1967 in Chongqing geboren. Lokale Regierungsbeamtin. Veröffentlicht seit 1989 in Zeitungen, Zeitschriften etc. Gao Ge 高歌, männl., eigentl. Zhang Chao, im Juni 1980 geb. in Tengzhou, Prov. Shandong. Gehört zum Kreis um die Zeitschrift “Kui” 葵 (‘Sonnenblume’) in Tianjin. Geng Zhankun 耿占坤, geb. im Chaidar-Becken in Qinghai, aufgewachsen in der nordwestlichen Hochebene, stammt aus Zhezhou in Henan. Lebt als Schriftsteller und Verleger in Qinghai. Huang Hai 黄海, geb in den 70er Jahren. Veröffentlichte Essays, Kurzgeschichten, Erzählungen und Gedichte. Lyrik-Preise und Auszeichnungen. Lebt in Xi’an. Huang Xiang 黄翔, geb. 1941 in Guidong, Prov. Hunan. Dichter und Kalligraph, führender Repräsentant der Guizhou-Schule. Ab 1978 Aktionen an der Demokratiemauer in Peking. Immer wieder inhaftiert, lebt seit 1995 im Exil in den USA. Huzi 虎子, eigentl. Zhou Haitao. 1962 geb. in Henan, lebt in Zhengzhou. Zuerst Soldat, später Regierungsbeamter. Publizierte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Jian Tianping 简天平, weiblich, Angestellte in Beijing. Jiang Erman 姜二嫚, weibl., geb. am 26.12.2007 in Shenzhen. Jiang Xinhe 姜馨贺, weibl., geb. am 31.5.2003 in Shenzhen. Betreibt mit ihrer kleinen Schwester Jiang Erman zusammen eine Internet-Plattform für ab 2000 geborene AutorInnen. Jiang Xuefeng 蒋雪峰, männlich, geb. 1965 in Jiangyou, Provinz Sichuan. Lebt dort. Leitet den örtlichen Schriftstellerverband. Jun Er 君儿, geb. 1968 im Dorf Yunjiazhuang im Kreis Baochi unter der Stadt Tianjin. Reporterin. Mitarbeit bei der Poesiezeitschrift Kui (Sonnenblume). Lebt in Tianjin. Li Liuyang 李柳楊, weibl., geb. 1994 in Anhui. Schreibt Gedichte und Erzählungen, Veröffentlichungen in vielen Zeitschriften. Mitarbeit in und Betreiberin von Internet-Plattformen. Lebt in Peking. Li Qi 李琦, 1956 geb. in Harbin. Wurde als Jugendliche aufs Land geschickt, später Universitätslehrkraft und Redakteurin. Veröffentlicht seit 1977. Erhielt den Lu-Xun-Literaturpreis, den Ai-Qing-Lyrikpreis etc. Li Xiaoxi 李小溪 (Shanghai), weibl, geb. am 28.7.2008. Li Xunyang 李勋阳, geb. 1980 in Danfeng, Prov. Shaanxi. Lebt in Lijiang, Prov. Yunnan. Lyriker und Erzähler. Liu Chang 刘昶, geb. im Juli 1965 in Yudu, Provinz Jiangxi. Lebt in Zhuhai.Bauer, Arbeiter, Journalist, Angestellter. “Schreibt Gedichte und sucht nach einem Wert seiner Existenz.” Mo Shanghua 陌上花, weibl., geb. in den 1970er Jahren in Xinxian, Prov. Henan. Lebt in Huizhou, Prov. Guangdong. Qin Yuangu 秦原姑, eigentl. Qin Yuanyuan, 1989 in Lantian, Provinz Shaanxi geboren. Aspirantin an der Xi’an International Studies University. Kunstpreis der Baoshang-Bank in der Kategorie Lyrik. Qizi 起子, geb. 1974, eigentl. Huang Shunliang.Veröffentlichte in Zeitschriften und Anthologien, sowie den Gedichtband “Weiche Zunge”. Sa Dmar Grags Pa 沙冒智化, Tibeter. Freiberufler und Schriftsteller. Schreibt auf Tibetisch und Chinesisch. Geboren in den 80er Jahren in Gansu, lebt in Lhasa. Shen Haobo 沈浩波, geb. 1976 in Taixing, Provinz Jiangsu. 1999 Studienabschluss an der Beijing Normal University. Dichter, Schriftsteller, Verleger. Song Yu 宋雨, weiblich, geb. in den 80er Jahren, kommt aus Altay in Xinjiang. Gehört zur muslimischen Volksgruppe der Hui. “Wohnt in Gebieten, wo keine Pakete zugestellt werden.” Tu Ya 图雅, geboren 1964, lebt in Tianjin. Bekanntestes Gedicht: “Mutter ist in meinem Bauch”. Wang Qingrang 王清让, männlich, geboren im August 1976. Wohnt in Xinxiang, Provinz Henan. Xi Wa 西娃, weibl., 1972 geb. in Jiangyou, Provinz Sichuan. Teilweise tibetische Familie. Erhielt den Li-Bai-Preis in Gold, Silber und Bronze. Xiang Lianzi 湘莲子, weibl., eigentl. Xiao Gonglian, geb. im Februar 1963 in Hengyang, Prov. Hunan. Lebt in Humen, Provinz Guangzhou. Psychotherapeutin in Krankenhäusern. Xie Xiaodan 谢小丹, weiblich, geb. 1991. Xing Hao 邢昊 kommt aus Xiangtan, Provinz Shanxi. Schreibt und veröffentlicht seit den 80er Jahren. “Die Umgangssprache ist ein guter Löffel, um damit einigen Leuten den alten Grind aus ihren Ohren zu kratzen.” Xu Lizhi 许立志, geb. 18.7.1990, gest. 30.9.2014 (Suizid). Geboren in einem Dorf nahe Jieyang, Provinz Guangdong. Arbeitsmigrant bei Foxconn in Shenzhen, Dichter und Blogger. Yang Yan 杨艳, geboren im Oktober 1982 im Kreis Yourong, Provinz Fujian. Lebt in Ningde. Statistikerin. “Poesie ist meine Religion.” Yi Sha 伊沙, eigentl. Wu Wenjian. Geb. 1966 in Chengdu, seit 1968 in Xi’an. 1989 Studienabschluss an der Beijing Normal University. Veröffentlichungen seit den 80er Jahren, über 100 Bücher. Unterrichtet an der Xi’an International Studies University. Yu Zhen 余榛, weiblich, lebt in der Provinz Guangdong. Redakteurin der Zeitschrift “Huiyang Arts & Literature “. Mitglied des Schriftstellerverbandes von Huizhou. Zeng Rulong 曾入龙, geb, 1994 in Anshun, Provinz Guizhou. Gehört zur Volksgruppe der Buyi. Zhao Siyun 赵思运, geb. 1967. Professor an mehreren Universitäten. In der Jury für Literaturpreise in Südchina und Hongkong. Zheng Xiaoqiong 郑小琼, geb. 1980 in Nanchong, Prov. Sichuan. Ab 2001 Arbeitsmigrantin in Dongguan, Prov. Guangdong. Heute Redakteurin in Guangzhou. Zhou Tongkuan 周统宽, männl., gehört zur Volksgruppe der Zhuang. Geb. 1966 im Kreis Rong’an in Liuzhou, Prov. Guangxi. Vize-Chefredakteur der Zeitschrift “Spatzen” (Maque) in Guangxi.
the view
from the little window
in the staircase
is like a camera.
It’s a little cold.
The picture is magnificent,
but you feel the draft.
You can’t take it with you
wherever you’ll go,
but why would you want to?
MW April 2018, Florence
MARIA
maria is really very young
at least in the one adoration
and in her coronation by Lippi
14, 15
that’s why the whole story is so preposterous
and so pure and so holy
she doesn’t know what happened at all.
MW April 2018
FROM FLORENCE
the wine from Florence tastes very good
not a famous wine
just from the organic farmers’ market
in front of Santo Spirito
no label
but just as real as the whole town
and the province
earthy
although this is the city
where modernity comes from
arguably
I wonder if they use wine
in Jewish services
I’m pretty sure they had wine
at the big wedding
commemorated in stone
at the synagogue
a recent wedding
two people from England
they must have local weddings too
a synagogue in full working order
big beautiful free-standing dome
not as big as the Duomo
but standing proud to be seen
from afar
Moorish style,
Byzantine probably
you could say
in the 19th century
of Christian reckoning
it was thought to be safe
to build such a large house of God
in the open
it was the age
of emancipation
modernity failed
Christianity failed
to prevent anything
although some were hidden
although some survived
most synagogues in Europe are gone
discussing religion
atheism whatever
the future of manunkind not
is all very idle
this is where we come from
if there is any we
this building
this city
this country
this wine
if there is
or was any we
this farmer’s wine
this countryside
this city
among many others
is where we are going
you don’t need machines
or hardly any
for this kind of history
you don’t need computers
not really
if there has been
if there can be any we
it is here.
cheers!
one person
in his 27 years in power
with his own hands
set in motion 55
big and small political campaigns
plunged his country in misery
made his people suffer to death
when I get to know this information
my mouth stands open
I want to cry: “grandpa!”
I want to cry: “grandma!”
I want to cry: “papa!”
I want to cry: “mama!
I want to cry: “uncle! aunt!”
I need to cry out
for all my relatives
all my seniors in my relatives
I want to tell them:
you had it so hard
in your generation
I forgive you everything
May 2016
Tr. MW, Feb. 2018
Yi Sha ICH MUSS EUCH RUFEN
ein mensch
hat in 27 jahren seiner herrschaft
mit eigener hand
55 kleinere und größere
politische kampagnen in gang gesetzt
sein land ins elend gestürzt
sein volk auf den tod zugerichtet
als ich diese nachricht erfahr
bleibt mein mund offen stehen
ich will rufen: “opa!”
will rufen: “oma!”
will rufen: “papa!”
will rufen: “mama!”
will rufen: “onkel! tanten!”
ich muss alle rufen
alle meine verwandten
alle älteren verwandten
ich will ihnen sagen
ihr habt es viel zu schwer,
viel zu schwer gehabt
ich verzeihe euch alles
In Luang Prabang im Menghe-Hotel abgestiegen,
dann Abendessen im Sichuan-Laden.
Kellner sind hautsächlich Teenagerinnen.
Die Chefin aus Yibing erklärt:
In Laos gibt es überhaupt keine Altersbeschränkung,
also sei das keine
Kinderarbeit.
International Poetry Week in Xichang.
At Zhaojue Center,
main auditorium,
Qinglang Lihan holds his speech.
Speaks of Akhmatova
and her tragic fate,
as when her first husband
Gumilev was shot
for “counterrevolution”.
Right after this
a high school student
from the Yi nationality
in modern dress
jumps on the stage.
He stands there contorted,
staring with rage,
spitting his words:
“You fart-head poets,
faced with the people’s misery
you are unable to raise your pens
and demand justice!
Then you run away
to a small place
to talk about counterrevolution…”
We are all baffled,
don’t know what to do
or what just happened.
Later
when our bus
drives through the town on our way out
I see that high school student
alone
on the street,
still foaming
and puffing.
Like a lonely
walking bomb.
October 2017
Translated by MW, 12/31/17
Yi Sha EINSAME BOMBE
Xichang, Internationale Woche der Poesie.
Im Zhaojue-Center
im großen Saal
Qinglang Lihan trägt vor
über Anna Achmatowas
bitteres Schicksal.
Ihr erster Ehemann
Nikolai Gumiljow
wird wegen “Konterrevolution”
erschossen.
Gleich nachher springt
ein Mittelschüler
aus dem Volk der Yi
in moderner Kleidung
auf die Bühne.
In verzerrter Haltung,
mit zornig aufgerissenen Augen
gibt er spuckend von sich:
“Ihr Hundefurz-Poeten,
könnt keinen Stift gerade halten,
vor dem Elend der Leute
verlangt ihr keine Gerechtigkeit!
Dann kommt ihr in die Kleinstadt
und redet von Konterrevolution …”
Wir sind alle baff,
völlig ratlos.
Nachher
fährt unser Bus
durch die Kreisstadt davon,
und ich seh den Schüler
allein auf der Straße,
immer noch zornig
gehen und schnauben.
Wie eine einsame
wandelnde Bombe.
ein freund vom volk der yi
erzählt mir sie wählen
chinesische namen
aus modischen wörten
und so war da ein kind
das nannten sie
sozialismus
wenn essenszeit war
hörte der ganze ort
eine mama rufen
die schrie und schrie:
sozialismus!
komm heim zum essen!
die japaner sind gekommen
auf ihrem kriegsschiff
die japaner sind weggefahren
auf ihrem kriegsschiff
aber einen hund
haben sie hier gelassen
der hund war herumgelaufen
vor verschiedenen imbisständen
hatte seine pfoten gefaltet
und wie ein mensch um fressen gebettelt
dann ist er zum hafen gerannt
um auf die japaner zu warten
die japaner sind nicht zurückgekommen
mein patenopa
hat den hund aufgenommen
viele jahre später
während einer politischen kampagne
hat ihn jemand angezeigt
und der hund war der beweis
für seinen landesverrat
18. September 2017
Übersetzt von MW im Dezember 2017
I was a teacher in Zhuozhou,
took the whole class to Zhoukoudian
to see Upper Cave Man.
On our way back by bicycle,
I sang a song,
Zhang Chu’s “Yellow Earth”.
When I was finished,
my students applauded me,
raising their hands.
And so they fell in a heap
on the road.
Don’t be a teacher!
Kids are just way too pure at heart.
The only war I know
to be called great
is not the Trojan War
nor the Soviet Union’s Great Patriotic War
nor our eight-year Resistance Against Japan
but rather that recent thing between China and India
induced by border friction.
Like children play house, they throw rocks at each other,
fall down a few times,
then just call it quits.
Zero casualties on both sides.
2017
Translated by MW, November 2017
Ma Fei GROSSER KRIEG
Der einzige große Krieg
den ich kenne
ist weder der Trojanische Krieg
noch der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion
noch unser achtjähriger Verteidigungskrieg gegen Japan
sondern unlängst der Streit zwischen China und Indien,
verursacht von Spannungen an der Grenze.
Wie Kinder, die spielen und Steine werfen,
ein paarmal hinfallen, dann einfach heimgehen.
Verluste auf beiden Seiten sind null.
5oo jahre glauben
500 jahre reformation
sieben jahre gar nichts mehr glauben
jedenfalls in österreich
jedenfalls an österreich
außer im widerstand
im kz
im himmel
also 493
oder was
aber
evangelisch
ist so minderheit in österreich
dass man/frau/kind
sowieso gedenkt
oder nicht
vater hat noch gegen japaner gekämpft
und einen granatsplitter behalten
wir haben ihn nicht operieren lassen
als er noch auf der welt war
jedesmal auf dem friedhof
verbrennen wir für vater
ein schmerzmittelrezept
der regenbogen von dem du erzählst
wie schön ist der am ende?
ich hab eine landesfahne gesehen
die sah wie ein urinstreifen aus
in dem schach das sich grad noch ausgeht
in meinem leben
hab ich dir geholfen
meine türme zu schlagen
ah!
du sagst mich quälen die farben
du sagst ich kenn nur den glanz
von licht und finsternis
ich sterb unter bunten lichtern
der großstadt
und starr immer noch auf wahr und falsch
ewig unverständlich
im vorbestimmten schicksal
fällt mein letzter blick
auf meinen großvater
ein farbenblinder bauer
der hat in seinem leben
blutrotes korn eingefahren
ein gedicht von martin
das ich übersetzt hab SEPTEMBER MORNING
hat die All-Seasons-Hotelkette gekauft
jeder gast bekommt eins
bei mir gegenüber
haben sie auch so ein hotel
soll ich vielleicht
dort übernachten
um das gedicht abzuholen
oder gleich wieder auschecken
nachdem ich das gedicht hab
oder noch einfacher
sagen ich will ein zimmer besichtigen
und das gedicht mitgehen lassen
22.September 2017
Übersetzt von Martin Winter, September 2017
“jeden tag euch bedienen
irgenwann hat euer diener genug!”
arger streit mit fahrgast
busfahrer schießt den ganzen wagen
zurück in die zeit vor der befreiung
September 2017
Übersetzt von MW im September 2017
《点射》
"天天伺候你们
老子已经伺候够了!"
与乘客恶吵
巴士司机爆出一语
把一车人喷回解放前
Yi Sha OHNE TITEL
in einer doku hab ich gesehen
george w. bush hatte vier ghostwriter
der von der rede nach 9/11
war ein dicker mann über dreissig
großer fan von hemingway
wollte immer so klingen
er sitzt im café beim weißen haus
im halbstock allein an einem tisch
hat in vier stunden
die herrliche rede fertig geschrieben
16 jahre später
die rede von trump vor der uno
die war auch so herrlich
wessen feder war das
und wen verehrt er oder sie
On Day of National Shame
sirens sounding three times
under my balcony
in the neighboring courtyard
a small car starts to wail
– acupuncture reaction?
wailing and howling
hasn’t stopped yet
New semester has started,
teachers in our department
first have a meeting for everyone,
then one for party members.
In between,
four get kicked out:
one democratic party person,
one Christian,
one Buddhist,
one me.
The Christian one is not very serious
(many Christians in China
aren’t),
so he makes fun of me:
“Only you
have no faith …”
I look askance at him
and tell him slowly:
“What do you think
poetry does for me?”
September 2017
Tr. MW, Sept. 2017
Yi Sha GLAUBE
zum beginn des neuen semesters
haben die lehrenden im institut
zuerst eine sitzung für alle
dann eine parteisitzung
dazwischen werden vier rausgeschmissen:
einer: demokratische partei,
ein christ,
ein buddhist,
ein ich.
der christ ist nicht ernsthaft
(christen in china
sind oft nicht ernsthaft)
und sagt mir zum spass:
“nur du
hast keinen glauben.”
ich schau ihn schief an,
geb in ruhe zurück:
“was glaubst du,
was poesie für mich ist?”
ich geh zur volksschule auf der volksstrasse und hol meinen sohn ab.
geh vorbei am volkskrankenhaus nr. 1, volkskrankenhaus nr. 2,
volkskrankenhaus nr. 4. an der volksregierung, dem volksgericht, der volksstaatsanwaltschaft. 9 wachtposten sind auf dem weg, ich treffe x volkspolizisten.
jetzt geh ich auf der volksstraße
aber ein volksgefühl hab ich nicht
2cv in unserem hof
es ist kein auto
2 cv
jedenfalls 2 burschenschafter
soll man sich aufregen
es ist fronleichnam
katholische kirche
2 cv
im hof hier in wien
jedenfalls sehr wahrscheinlich
relativ harmlos
When granddad was small,
herding cattle and sheep was in fashion.
When papa was small,
the fashion was playing war games.
Charge!
Peng peng peng!
Our fashion now
is raising hamsters
and raising turtles.
In our class,
every boy has a turtle,
every girl has a hamster.
Me, I have both.
I like hamsters and turtles.
할아버지께서 어렸을 때
소나 양을 방목하는 것이 유행이었고
아빠가 어렸을 때
전쟁놀이를 즐기는 것이 유행이었다
돌격
따따따따
우리는 현재
햄스터나 거북이를 기르는 것이 유행이다
우리 반에서
남자애들은 대부분 거북이를 키우고
여자애들은 햄스터를 기른다
난
햄스터도 기르고
거북이도 키운다
actually the US
won the Vietnam war.
the good kind of US
those against those
who wanted the war.
against nixon and kissinger.
how many people wanted the war?
which war at which time
against whom?
is there a good kind of US
[spoken like not capitalized
from now on]
including people like me
people in other countries
people who aren’t even American
or slanted American
American slash something else
many not even English speaking
most of the time
just people who thought something good would be nice
for a change
we won that war
no-one thinks the vietnam war was good
or the war against saddam hussein
in retrospect
the way the war against nazis was good.
anyway we won in the end
although kissinger is still undead
and there is another nixon in office
put in by putin,
just the way putin was put in by putin
or erdowahn by erdowahnsinn
or brexit by little small-minded people
with generous help
even from some of US
every Left for themselves
so they won against US
US who think another four years
of Obama
or another eight years
would have brought peace
to manunkind not
but we always win in retrospect
against the forces of pigheadedness
although pigs are smart
pigs on the wing
the war against nazis was good
although there are nazis in government now
or almost in government
in austro-hungary
and other places.
anyway we are winning
seriously please believe US
amen
wo waren damals die normalen leute?
fragt ein kleines kind
bei stephan eibel erzberg
als der vater kz-namen vorliest
mein großvater war bei der partei
fahrdienstleiter im waldviertel
möglichst weit weg vom krieg
er hat einen freund versteckt
einen roten
samt seiner familie
mein anderer großvater war in wien bei der feuerwehr
wurde deshalb spät eingezogen
ausgebildet als polizist
an die front geschickt
in gefangenschaft an krankheit gestorben
mein vater weiß nicht viel mehr
wird nicht viel mehr wissen
obwohl er weiß was die deutsche armee
und polizei an der ostfront gemacht hat
der großonkel ging nach australien
wer immer konnte aus der familie
einer musste leute erschießen
in der nähe von wien
der war später gaga
fuchsgasse hinter dem westbahnhof
dort ist mein vater geboren
die wohnung war von einem juden
meine oma ist fast verhungert
1945
als verrückt eingeliefert
dort waren alle normalen leute
an all diesen orten
waldviertel, bahnhof, ostfront, kz
erschießungskommando
in gigritzpatschen
dort waren alle normalen leute
(English version and explanations see China Change)
STRESS!
Morgens hass ich die USA,
zu Mittag Südkorea,
am Abend Japan.
Ich bin sehr beschäftigt mit Taiwan und Singapur.
Dann träum ich von Vietnam und den Philippinen.
Montag gegen Südkorea,
Dienstag gegen Japan,
Mittwoch USA,
Donnerstag unabhängiges Taiwan,
Freitag aufmüpfiges Hongkong,
Samstag undankbares Tibet,
Sonntag fromme Uighuren.
Picture by Andreas Luf, inspired by Thelonious Monk’s “Underground”
REPORT
every report
every detailed incisive report
kind that makes powerful people squirm
is just as important
as any art
any poem
any church, temple
that makes you pause
think
feel
every report
MW February 2017
POETRY
poetry
is impo
rtant
truth
is impo
tent
or is it
or are you
sie haben ein altes theater abgerissen
sie haben einen ahnentempel demoliert
sie haben den hof ausradiert, wo der urgroßvater geboren wurde
wo sein urenkel hochzeit halten wollte
sie haben das ganze dorf abgerissen mit dreihundert haushalten
und stammbäumen von 400 jahren
und die alten gräber die keiner mehr kennt
sie wollen ein vergnügungsviertel errichten
sie wollen ein kaufhaus erbauen
und noble wohnhäuser
das kann ich verstehen
was ich nicht verstehe
tut was ihr halt tut
aber dass ihr hier wo das dorf der familie shen war
ein großes schild hinstellt
“slumviertel-umgestaltung”
ihr stößt leute nieder
und spuckt auch noch drauf
strongman, he is not a bird
strongman, he is not a plane
what is strongman all about?
strongman makes it strong for you
strongman, he makes all the shots
strongman, he makes all the drinks
strongman, he makes every sauce
strongman, chairman get along
strongman makes you extra strong
makes you swallow his strongsong
don’t tell me you didn’t know
NICHT ÜBERRASCHT – 江湖海 Jianghu Hai
5月 24, 2020Jiang Huhai
NICHT ÜBERRASCHT
Jemand postet für eine Ausstellung internationaler Gedichte
im Viruskampf die Liste der eingeladenen AutorInnen.
Der erste Kommentar unten ist die Frage:
„Da ist Jian Ming dabei,
der ist doch schon voriges Jahr gestorben?“
Noch ein Kommentar:
„Wu An ist bald fünf Jahre tot,
hast du ihn gefragt ob er mitmacht?“
Ich les weiter und sage nichts.
Vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung
hat eine Sprecherin der staatlichen Künstlervereinigung
verkündet: „Der große Dicher Ai Qing [Vater von Ai Weiwei, 1910-1996]
wird auch bei uns live davei sein!“
Als ich das gehört hab
hab ich kalten Schweiß gespürt.
Jetzt passiert mir das nicht mehr.
Wenn du mir heute sagst,
Konfuzius plant ein Buch der Lieder
gegen Corona bin ich überhaupt nicht überrascht.
März 2020
Übersetzt von MW im Mai 2020
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标签:anthology, art, artists, classics, comments, disease, exhibition, history, internet, Jianghu Hai, list, memory, NPC, people, poetry, 新世纪詩典, 江湖海
发表在 1910s, 1920s, 1930s, 1940s, 1950s, 1960s, 1970s, 1980s, 1990s, 1996, 2000s, 2010s, 2019, 2020, 20th century, 21st century, April 2020, February 2020, January 2020, March 2020, May 2020, Middle Ages, NPC, poetry, Translations, Uncategorized, 新世纪诗典, 江湖海 | Leave a Comment »