Xiang Lianzi MEINE MAMA SAGT ICH SING NICHT NUR FALSCH
Am Muttertag im Altersheim
singt sie allein “Rote Pflaumen blühen”.
Sie hat nicht die Kraft für hohe Töne.
Aber wenn ich mitsing,
sagt sie “falsch gesungen!”
Dann zählt sie auf, bei meiner Geburt,
da hab ich auch nicht richtig geklungen.
Und als ich verliebt war,
und bei meiner Hochzeit,
überhaupt sei es mir nie gut
gelungen.
The plane is half asleep, towards dusk in the west.
I carry dark Yunnan in my heart.
You cannot check in that kind of luggage.
Cannot extricate it.
Lonely highlands. Deep lakes. Clouds just stand there.
Exhausted eucalyptus trees, at sunset in the middle of Wu Cheng’en street.
You spread out your sparkling emperor’s banquet. Gaudy old buildings.
My grandmother’s rattan chair is in the chief’s position at the window upstairs.
A witch in a green headscarf, standing down there.
After everyone’s gone, she jumps into the moon on the canal.
Ah, endless skies! Weightless journey.
Please let me sleep this time! Stars are rising over my home.
Mama hat uns nie geküsst,
sie sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
Papa hat uns nie umarmt,
er sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
Mama hat uns gehalten, aber nicht umarmt.
Sie sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
Papa hat gebrüllt, er konnte nur brüllen.
Er sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
Mama hat sich die Kehle heiser geschrien.
Sie sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
Papa hat zugeschlagen, darin war er gut.
Er sagt, die Zeit war hart, es gab nicht einmal genug zu essen.
That boy in sixth grade,
first day of school, at night
he jumped
from the 20th floor.
We saw the camera video,
when he hit the bottom, that instant,
the light, sensitive to the sound,
that moment the whole building
went on.
I wrote a poem titled What in June 2024, when they had almost finished demolishing Shangyuan Art Museum in a village near Huairou outside of Beijing. I was there as a resident artist. Poetry is important at this place. Some of the founders of Shangyuan Art Museum were poets, including Cheng Xiaobei, the most prominent representative of the museum in China. I was invited for my poetry, this and last year. Mostly for poetry in Chinese. The poem What is 我 in Chinese. 我 doesn’t mean ‘what’, but the two words sound somewhat similar. The Chinese poem came first.
The poem is rather repetitive. Wo daodi shi shenme ren, zenmeyang the ren? This is the first two lines in the official Romanization for Mandarin Chinese. Romanization means using an equivalent to the characters in Latin letters, more or less. Letters of European languages with diacritical lines for the tones. There are four tones in Mandarin Chinese, plus the absence of a tone in some syllables. I am not using the diacritical marks here for now. ‘Wo’ in this poem is in the third tone. It is a little drawn out, so ‘wo’ sounds rather like ‘woah’. ‘Woah’, what is this?
Guo daodi shi shenme rén, zenmeyang de rén? I started to write ‘the’ in front of ‘rén’ just now. Rén means human or person. The tone in rén goes up, a bit like a question. Zenmeyang means ‘how is it’, it can be a greeting. The ‘z’ is not a voiced ‘s’, it’s rather like saying ‘tsih tsih’ when you imitate a bird or a cricket, a chirping sound. Tsen meh yang, three syllables. How, in what way, how is it, what kind of? The ‘of’ in ‘what kind of’ is ‘de’ in Chinese. Written d-e, but it sounds very similar to ‘the’, like in What the flower are you talking about?
Guo and ‘wo’ are both one-character words. Each character is one syllable in Chinese. Guo is pot. A pot for cooking, or a pan. A wok. Guo daodi shi shenme ren? Shenme is ‘what’. Daodi is something like ‘actually’, literally ‘at the bottom’ or ‘in the end’. Shi is pronounced without a vowel, or rather like ‘ugh’ after a ‘shsh’. Shi means ‘to be’, ‘is’. Pot actually is what person? What kind of person?
WHAT
What person
what kind of person
what kind of person
am I in the end
What person
what kind of person
what kind of person
is pot in the end
What person
what kind of person
what kind of person
is snail in the end
What person
what kind of person
what kind of person
is moth in the end
What person
what kind of person
what kind of person
is ant in the end
What person
what kind of person
what kind of person
lies down in the end
What person
what kind of person
what kind of person
stands up in the end
What person
what kind of person
what kind of person
crawls in the end
Can I please
take a rest first
Can I please
wait until tomorrow
Can I please
wait till next week
Can I please
just wait a little
Please can I
wait
MW June 23rd, 2024
There is a lot of repetition. Maybe that’s the main drawback. I just haven’t figured out how to make something with less repetition and the same effect otherwise.
What is this about? Why is this person asking these questions? Why the request for being allowed to wait in the end? What does it have to do with the demolition of the museum?
I am glad there is no obvious direct connection. No, there is no specific hidden explanation either, none that I am aware of. I wrote many poems at the time, one per day on average. They are all rather different. More realist, less strange. More directly connected to my reality. But I think there is a strong connection.
WOAH?
Das chinesische Gedicht war zuerst da.
维马丁 ist mein chinesischer Name. Weh Mahding, so klingt es ungefähr. Martin Winter auf Deutsch oder Englisch.
Alles andere geht so:
Wo 我
Wo daodi shi shenme ren
zenmeyang de ren
Guo 锅 daodi shi shenme ren
zenmeyang de ren
Woniu daodi
shi shenme ren
zenmeyang de ren
….
Auf Chinesisch ist jedes Zeichen eine Silbe. Zwischen den Wörtern in einem Satz gibt es Abstände, auf Deutsch oder auf Englisch etc., aber nicht auf Chinesisch, außer hier oben in der Umschrift. 我 wo bedeutet ‘ich’. 我到底是什么人, das ist die erste Zeile auf Chinesisch. 锅到底是什么人, das ist die dritte Zeile. Statt 我 ‘wo’ steht am Anfang 锅 ‘guo’.
Wo, oder eher ‘Woah’ von der Aussprache her, klingt ähnlich wie “guo”, oder auch “wok”, in der kantonesischen Aussprache. Ein Topf oder eine große hohle ostasiatische Pfanne. So ist das Gedicht entstanden, aus diesem Klang.
Woah, was ist das für ein Mensch,
was für eine Art?
Wok, was ist das für ein Mensch,
was für eine Art?
Woniu 蜗牛, oder ungefähr ‘Woahniuu’, ist eine Schnecke.
Woaniuu, was ist das für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Schnecke, was bist du für ein Mensch,
welche Art bist du?
Und so weiter!
Dann kommt auf Englisch “moth”, da ist auch dieses “o” oder “oah”. Nein, noch kein “sch” dazu… 🙂
Auf Chinesisch hab ich an diesem Punkt umgeschaltet. Hudie 蝴蝶, ungefähr ‘huuhdi-eh’, sind Schmetterlinge. Nichts mit ‘oah’, aber eben kleine Tiere wie Schnecken.
Chinesisch war zuerst da, Englisch auch schon am selben Tag.
Motte, was ist das für ein Mann,
welche Art von Mann?
Dann kommt die Ameise. Mayi 蚂蚁, ungefähr ‘maah-iih’.
Ameisen, was sind das für Menschen,
auf welche Art?
Nach der Ameise kommt schon ‘liegen’, oder im Liegen: Tangzhe 躺着, ungefähr tahng-dschöah.
Liegen, was sind das für Menschen, auf welche Art?
Nach liegen kommt stehen.
Stehen, das sind welche Menschen, auf welche Art?
Nach stehen kommt kriechen.
Kriechen, was sind das für Menschen, was für eine Art?
Kann ich mich bitte zuerst ausruhen?
Kann ich es bitte morgen sagen?
Oder nächste Woche?
Kann ich bitte ein bisschen warten,
ein bisschen
warten?
ICH
Was bin ich für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Was ist der Topf für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Was ist die Schnecke für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Was ist der Schmetterling für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Was ist die Ameise für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Im Liegen, was bin ich für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Im Stehen, was bin ich für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Im Kriechen, was bin ich für ein Mensch,
welche Art von Mensch?
Kann ich mich bitte zuerst ausruhen?
Kann ich es bitte morgen sagen?
Oder nächste Woche?
Kann ich ein bisschen warten,
bitte ein bisschen
warten?
I think I don’t
want to say anything.
The pot doesn’t want
to say anything.
A snail doesn’t want
to say anything.
A moth doesn’t want
to say anything.
The ants, they don’t want
to say anything.
Lying down I don’t
want to say anything.
Standing up I do not
want to say anything.
Crawling I don’t
want to say anything.
Maybe the ant
could take a break?
Wait until tomorrow?
Wait until next week?
Maybe just wait?
Während wir Gedichte besprechen,
steht die Tür offen.
Als wir auf Politisches kommen,
sorgt irgendwer dafür,
dass wir leiser reden
und macht die Tür vorsichtig zu.
in der früh renn ich und fluch
durch den hauptbahnhof
mein zug geht nicht ab wien
linz ist auch ok
steht halt nicht auf dem papier
das überall hängt
auch nicht auf dem das ich hab
nicht so schlimm
eine stunde später in frankfurt
oder so ähnlich
es gibt schlimmeres
auch die rückfahrt war dann ok
einfach so zur buchmesse fahren
keine pandemie
kein kleiner diktator
die überschwemmung war schon recht arg
wie arg muss es werden
wie in der ukraine
wie im hurrikan
damit die leute endlich kapieren
was eh jeder weiss
es gibt noch viel viel schlimmeres
Nach der Wahl
geht die alte Regierung
zum Bundespräsidenten
und tritt zurück.
Der Bundespräsident nickt
und bittet sie zu warten,
auf die neue Regierung.
Bitte weiter Nehammern!
Bitte weiter Gewesslern!
Nach der Überschwemmung
kommt eh nichts Besseres nach,
kommt eh nichts Besseres nach.
Heute ist Dein Geburtstag,
ich hab schon wieder keine Karte,
aber vielleicht ein Gedicht.
Was soll ich Dir schreiben?
Leo malt etwas mit Blumen,
draußen ist ein schöner Tag.
Danke für alles.
So viele Jahre,
Du hast so viel gegeben.
Was soll ich Dir sagen?
Noch einmal danke!
Noch viele Male,
mindestens halt
solang ich lebe.
MW Oktober 2024
GEDICHT
ein gedicht
stimmt im klang
oder nicht
stimmt irritiert
geht natürlich auch
oder künstlich
mehrere stimmen
was immer
hauptsache
du bleibst stehen
oder auch nicht
irgendwas bewegt sich
du spürst etwas
schwingt
Von der Plattform
oben am Berg
sieht man Ruinen
des Kunstmuseums,
am besten mit Fernglas.
Abrissklang
hallt durchs Tal.
Was für eine große Fabrik!
Es gibt keine größere Industrie
als Abriss
im Dorf Shayukou,
Gemeinde Qiaozi
im Bezirk Huairou
nördlich von Peking.
From the platform
up on the mountain
you can see the ruins
of the art museum,
best bring field glasses.
Sounds of demolition
reverbrate through the valley.
What a big factory!
There is no bigger industry
than demolition
in Shayukou village
in Qiaozi town
in Huairou district,
north of Beijing.
Last night someone
put down many candles
on the ruins.
Then they stood there,
played a violin
and recited a Psalm.
Mother and daughter.
At the end two poets
did some of their stuff.
The candles are fine,
like the moon, don’t be scared,
the candles are fine in the ruins.
You can play your violin,
you can sing,
you can recite
whatever you like.
Ein grauer Tag,
unter der hohen Betonbrücke
ist es noch dunkler.
Ein knallroter Ballon
mitten auf der Straße
ist ein lauter Ruf,
dass ich hinrenne
und ihn zertrete
bevor ein Auto kommt.
Am Nachmittag ist es schön,
ich verabrede mich mit Yang Li
in der „Bar zum Alten Bai“ am Hinteren See
auf einen Tee,
hauptsächlich um
in die Sonne zu kommen.
Ich war schon 2001 am Hinteren See,
aber nie beim Alten Bai.
Ich weiß schon, die Bar ist nicht schlecht,
wer Erfahrung hat, sagt,
sehr gemütlich.
Aber ich bin nicht hingegangen,
und zwar deshalb,
die Bar hat den Beinamen
„Paradies für Kleinkapitalisten.“
Die suchen sich – Scheiße – die Kunden aus,
nicht jeder kann rein.
Ausländer waren
besonders willkommen.
Deshalb war mir die Bar zuwider.
Aber heute geh ich trotzdem,
denn ich will in die Sonne,
und da passt mir der Alte Bai.
Wir setzen uns hin,
trinken Tee,
blasen Ochsen, also wir prahlen
als wären wir allein.
Mein alter Yang Li macht auf einmal
ein raspelndes Geräusch,
spuckt aus seiner Kehle
eine Mundvoll Speichel
auf den Boden.
Den ganzen Nachmittag,
nach meiner Zählung,
hat Yang Li neben mir
zwölf Mal auf den Boden gespuckt,
der Ausländer schräg gegenüber von uns
hat nur noch gestarrt.
2007-02-02
Übersetzt von MW am 29. Februar 2024
Shen Haobo FRAU IM MOND
Silbergraue Wolken
besetzen den Himmel von Shenzhen.
In einem kristallblau glänzenden See
spiegelt sich der Mond.
Ich schau zum Mond hinauf
und denk an Chang’e, die Frau im Mond.
Und zwar wirklich nicht
an den Satelliten,
der Chang’e heißt.
Den haben sie am selben Abend
hinauf geschossen.
Ich hab das erst am nächsten Tag gewusst.
Als ich davon hör,
möcht ich sehr gern
dorthin zurück, wo ich am Abend war.
Ich will Chang’e sagen, der Frau im Mond,
in meinem Herzen
gibt es nur dich.
2007-10-27
Übersetzt von MW am 29. Februar 2024
Shen Haobo SCHÖNHEIT UND HUNDESCHEISSE
In allen schönen Dingen
muss Hundescheiße enthalten sein.
Wenn wir wegen dem bisschen Scheiße
das Schöne nicht genießen,
dann leben wir
viel zu beschissen.
Wenn ich mich unaufhaltsam
in die Schönheit verliebt hab,
dann ist die Hundescheiße darin
ein richtiger Brocken Hundescheiße.
Ich hab mich schon entschieden,
ich werde die Hundescheiße fressen.
Denn hab ich die Scheiße gefressen,
dann kann ich die Schönheit erlangen.
Denn, also denn,
muss ich mir einreden,
hab ich die ganze Scheiße gefressen,
dann ist der Rest einfach nur schön.
2006-10-14
Übers. v. MW am 28. 2. 2024
Shen Haobo ES IST DAS ZEITALTER DER HUNDESCHEISSE
Es ist das Zeitalter der Hundescheiße,
der Satz ist mir heute in der Früh um 2 Uhr fünfundfünfzig,
als ich noch nicht geschlafen hab, eingefallen. Vorher
hab ich so viel online gelesen, Texte von unzähligen Leuten,
wie unzählige Haufen Scheiße, die Hitze abstrahlen, Erderwärmung!
Es ist das Zeitalter der Hundescheiße, beschissener als alle früheren.
Ich fürchte, die folgenden sind noch beschissener.
Willst du nicht weggeworfen werden, musst du ein Haufen Scheiße werden.
Ich hab deswegen ein bisschen Angst, denn obwohl ich die Anlage zur Scheiße habe,
hab ich mich verzweifelt gesträubt und davon geträumt, was Anderes zu werden.
Es ist das Zeitalter der Hundescheiße, das hab ich ja schon früher gedacht,
aber immer gezweifelt, was, wenn es doch nicht Hundescheiße ist?
Man könnte sagen, welche Zeit sei keine Hundescheiße? Aber heut hab ich bemerkt,
andere Zeiten sind vielleicht Hühnerkot, Rinderkot, Schweinekot, nicht Hundekot.
Das macht einen traurig, ich lebe in einem riesigen Scheißhaufen
und träume davon, keine Hundescheiße zu sein – und halte noch daran fest.
On the seventh day
she spread ash from wood and grass
at the gate
to see if father would leave a trace.
At one in the morning,
there really was a trace in the ash,
it was jumbled
imprints of hoofs.
She had never thought,
her father would come back as a horse.
She stood there alone,
hugging his portrait, and cried.
Under the pale moonlight,
everyone heard
“clip-clop, clip-clop”,
Old Horse running back and forth
out in the yard.
Shanghai, February 10, 2023
Translated by MW in August 2023
Auf jedem dunkelgrauen Baum
wachsen lauter schwarze Augen.
Starke Linien oben und unten,
drinnen sind die Pupillen.
Manche sind ganz regelmäßig,
ein stiller, fester Blick
durchschaut den Baum gegenüber.
Manche sind aufgesperrte Münder,
rufen ein dunkles
“Ah!”
Dreieckig oder Fischbauch-förmig,
schauen sie dich an, überrascht.
Wenn die Säge kommt,
frisst sich der Ton durch das Gesicht.
Jeder Schnitt hat seinen Verlauf,
jede Narbe
ist anders.
Krach! Wieder bricht ein Zahn!
Krach! Krach!
Mama mag diesen Holzkamm am liebsten,
ich zieh ihm die Zähne, bis er kahl ist.
In der schwülen Sommernacht,
von der Physikübung schwillt mir der Kopf,
wenn die Holzzähne krachen,
kann ich mich entspannen,
vor Schadenfreude.
Mama hat nicht geschimpft,
nur gesagt, schade,
wenn mir der Kamm die Kopfhaut massiert,
das hör ich nicht mehr.
Viele Jahre sind vergangen, Mama ist nicht mehr auf der Welt.
Die Lust an böser Versuchung,
das Krachen der Zähne,
es erinnert mich noch.
Später war alles anders als an diesem Abend.
9. März 2022,
Endfassung 8. März 2023
Übersetzt von MW im Juni 2023
Sein Vater hat sein ganzes Leben
Bienen gezüchtet
um damit ihm und seinem Bruder
das Studium zu finanzieren.
Nachher ist er dement geworden.
Sein Sohn denkt sich die ganze Zeit,
die Demenz kommt davon,
wenn er den Bienenstock aufmacht,
dieses Summen, niedrige Frequenzen,
das hat ihn
sein ganzes Leben begleitet.
Und eines Tages sind ihm die Bienen
praktisch in den Schädel geflogen
um dem Honig zu holen.
Meine Frau liegt auf dem Bett und stillt Shuyan.
Mir fällt ein:
Unter der Achsel.
Unter der Flüssigkeit.
Unten auf der Seite.
Klingt alles völlig gleich auf Chinesisch, klingt wie: Blätter unten.
Eine Schafherde sucht Futter am Dorfrand. Dort sind lauter sehr üppig gewachsene Maulbeerbäume, die ihre langen Zweige ausstrecken. Die Schafe knabbern mit ihren kleinen Mäulern und Zähnen an den unteren Blättern. Sie fressen völlig ohne Hemmung, das ist für sie einfach natürliche Nahrung!
Jedes Paar Mutter-Tochter ist eine Bestimmung, ein Schicksal.
gehen unterm mond
gehen auf dem glitzernden reif des lebens
gehen unter den lampen
gehen in der unsicherheit des schicksals
die flöte verklingt, der schatten des schmetterlings
die schritte können nicht innehalten
die nacht wird kürzer und kürzer
der glanz wird größer und größer
Eine alte Frau
kniet vor der Guanyin und weint,
und heult laut auf,
das erschreckt eine Frau daneben,
die freiwillig sauber macht.
“Heute ist eine Boddhisattva-Feier,
alle freuen sich, seien Sie leise!
Oben in der Halle rezitieren die Mönche.”
Die alte Frau sagt, ich wein um meine Eltern,
kann nicht rezitieren, nur weinen,
was gehts dich an?
Im WeChat vom Wohnblock
klagt der untere Stock
über den oberen.
“Können Sie oben bitte nicht
jeden Tag mit Stöckelschuhen
hin- und hergehen?
Ich hör es jeden Tag,
auf meinem Kopf
macht es dingding dongdong,
manchmal glaub ich,
das Dach stürzt gleich ein.”
Ich denk mir,
obwohl ichs nicht hör
und auch nicht spür,
aber ich weiß, jeden Tag
gehen ganz viele Füße
über mir,
über meinem Kopf
hin und her.
Im Junggesellenwohnheim hab ich oft
gewartet, dass es an der Tür klopft. Zwei Mal
kurz trocken ist sicher ein Freund.
Manchmal macht einer einfach die Tür auf.
Lautes, scharfes Poltern, das sind
die Wächter, die Aufpasser, meistens
nichts Gutes. Einmal war scheinbar
ein ganz leichtes Pochen an der Tür.
Ich war nicht sicher. Es war wie ein Test
für mein Hörvermögen. Zum Glück
waren meine Nervenenden noch empfindlich.
Ich mach die Tür auf. Es ist meine Freundin!
Vorher bin ich zu ihr gegangen. Diesmal
hat sie mich zum ersten Mal besucht. Tolle
Überraschung. Nachher wurde sie meine Frau.
Auf manche Fragen,
wenn sie dich fragen,
kannst du nicht ja sagen,
kannst auch nicht nein sagen,
du kannst nur stammeln,
sagst einfach Hm!
Aber sagst du die ganze Zeit
Hm Hm Hm Hm Hm Hm Hm Hm,
dann klingt das wie
grunzende Schweine.
You know
on this world
who is nice to you
more than anyone?
Mosquitoes,
must be mosquitoes.
From when you’re small
they leave red packages, so many!
Small package big package
they don’t take no
for an answer.
They come up right to your ear,
dancing, singing,
make you so happy you can’t sleep at all,
you have to get up
and clap your hands.
Translated by MW in Oct. 2022
Li Weiran APPLAUS
Weißt du, wer
auf dieser Welt
am nettesten
zu dir ist?
Moskitos.
Auf jeden Fall Moskitos.
Von klein auf kriegst du von ihnen
die meisten roten Geschenkpackete.
Große Packete kleine Packete,
ablehnen geht nicht,
sie drängens dir auf.
Sie kommen ganz nah zu deinen Ohren,
sie tanzen und singen,
du wirst so froh, du kannst gar nicht schlafen,
du musst einfach aufstehen
und applaudieren.
Fahrkisten im Osten?
Nein, er verflucht
gern Faschisten im Westen.
Aber was wenn
Fapisste im Süden
Fakiffte im Norden
auch noch dazu kommen?
Dann muss er kämpfen
mit seinen Faschisten
als ganz großes Stichwort
ganz oben zu bleiben.
Oben ohne
knallt Tante Zhi ihren Nudelteig.
Ihre flachen trockenen Hängebrüste
schaukeln und schlenkern,
manchmal nehmen sie ihr die Sicht. Sie flippt die Brüste auf ihre Schulter, knetet und zieht,
dann fallen sie wieder herunter.
Vom Radio schallt
Ma Jinfeng in der Henan-Oper Hua Mulan
durch die klebrige Luft.
Tante Zhis Pobacken krachen gewaltig im Takt.
Im großen Tempel im Dorf
liegt ein langer Buddha.
Eine Hand ist verschwunden.
Die andere grüßt vor der Brust,
da stecken Kinder Blumen hinein.
Buddha sagt nichts,
Buddha bleibt still.
Unter den milden Kurven der Brauen
hängen die Ohren bis auf die Schultern.
Mit Obstkernen drin, damit spielen die Kinder.
Sie hören
die Glocke.
In den Seitengebäuden
haben sie Unterricht,
lernen
schreiben,
nehmen Kultur auf.
Ich liebe das Meer
hab aber nicht genug Mut
mich bedenkenlos hineinzuwerfen.
Die Wellen branden
und brüllen,
wollen mich zerreißen.
Ich verbeug mich vorm Meer,
dreh mich um und renn zu dir,
und wenn es mich umbringt.
Obwohl ich nichts höre,
möcht ich manchmal
in stiller Nacht
weil ich allein bin
und auch weil
ich fürchte, dass Gott
mich vergisst
in der leeren Wohnung
ein paar Geräusche
machen.
Zum Beispiel Stampfen und Trippeln,
zum Beispiel erfundenes Summen im Ohr,
Geräusche von Knochen, von Eisen mit Funken,
von Körpern, die sich reiben im Bett.
Snow has fallen,
the compound is clean and still.
A cat slinks out
along the wall
looking for something.
It is very light,
but the sound-sensitive lamp
above the door
goes on.
Du Hua WARTEN AUF DEN BUS AN DER KREUZUNG BEIM DORF GAOCHENG ZHAI IN KREIS JINGNING
Mit Frau
und Kind
auf Besuch im Heimatort.
Fertig besucht,
nachher
warten wir auf den Bus.
Ein Bauernhof hat ein einziges Schaf
in einem Pferch.
Das Schaf blökt
monoton und verzweifelt.
Der Rufer hat keine Absicht,
der Hörer hört etwas
und weint bitterlich.
Ich such einen Hintergrund für ein paar Blumen
und hör ein Klopfen, bamm bamm bamm –
von einem Schachtisch, Chinesisches Schach.
Oh, ein kleines Kind!
Ein dickes Händchen
schlägt fest auf das eiskalte Metall.
Die Tante bei ihm sagt, er ist erst eins,
er klopft bis zur Grenze der Han,
wenn er ein bisschen größer ist,
kommt er bis zum Fluss Chu.
mein schwiegervater ist fast 80.
benachrichtigung kritischer zustand,
vormund über seine schwere krankheit,
dann normales krankenzimmer,
wir habens geschafft,
heute kommt er
nach hause.
er liegt im schlafzimmer im bett.
manchmal mit offenen augen, manchmal döst er.
meine schwiegermutter sitzt neben ihm,
ruft ihn Jiang Sancai,
Jiang Sancai,
ich bin deine Alte…
ich hör sie von draußen, ganz erstaunt
es ist das erste mal
dass ich hör wie ihn jemand so nennt
es klingt fast wie in der peking-oper,
die junge frau mit dem jungen mann
hör ich auch nur einen ganz kleinen ton
einen winzigen schlag
auch nur einen moment
hab ich gleich die illusion
die nächste minute
die nächste sekunde
ich kann sofort hören!
das ist das licht des lebens
das aus einer anderen welt
einen feinen spalt heraus bohrt
für
mich
Last night the birds
have all slept in.
They were watching
the opening of the Tokyo olympics.
Not to partake in the humans’ carnival
after their great calamity,
but to help the origami pigeons
they folded for peace
with their songs.
Translated by MW on August 31st, 2021
Yi Sha VÖGEL WOLLEN SINGEN
Diese Nacht haben die Vögel
alle lange geschlafen.
Sie haben sich die Eröffnung
der Olympischen Spiele in Tokio angeschaut.
Nicht um teilzunehmen an diesem Karneval
nach dem großen Unheil unter den Menschen.
Aber um für die Papiertauben,
die für den Frieden gefaltet wurden,
zu singen.
Juli 2021
Übersetzt von MW am 30. August 2021
Yi Sha VOGELRUF
Gott sagte, es werde Klang!
Und es war Klang,
und die Vögel sangen.
Kleine Wege im Wald sind kompliziert.
Alle gehören zu ihrem Teil im All.
Ich glaub, was ich gesagt und getan hab,
bringt sicher viele Arten von Echo.
Darunter sind auf jeden Fall
Parolen, Gebete und Heulen,
aufsteigend und niederfallend.
Apropos Echo,
jedesmal, wenn die Menschen metaphysisch
Vorfrühling als Idee ans Jahr übergeben,
kommt hehres Rezitieren von Versen zurück.
Es ist nur,
der physische Stein, den sie vor unserer Zeitrechnung
in die Tiefe geworfen haben,
ist 2021 noch ohne Echo.
2021-03-21, Internationaler Tag der Poesie
Übersetzt von Martin Winter am 29. August 2021
wolken haben
ein flüchtiges leben
wolken schweben
schweigend im himmel
manche können noch traurig sein
lärm machen wenn sie runter fallen
manche lösen sich gleich wieder auf
als hätt es sie nie auf der welt gegeben
Übersetzt von MW um August 2021
Zhou Xian, geb. in den 1960ern. Vater von Xiao Ye. Studierte Chinesisch an der Universität Sichuan, lernte ein Jahr bei Prof. Qian Liqun an der Peking-Universität. Unterrichtet an einer Hochschule. Publiziert Gedichte online am liebsten bei Yi Shas NPC.
Meine Mutter hat nie das Gebirge verlassen, also natürlich auch nie das Meer gesehen. Dieses Mal ist sie wegen ihres schweren Augenleidens nach Xiamen gekommen.
In der Nacht vor der Operation, obwohl ich genau weiß, dass sie gar nichts sieht, besteh ich darauf, bring Mutter zum Strand. Wellen hören, Wind blasen lassen.
Übersetzt von MW im Mai 2021
Ou Desi, geb. in den 1970er Jahren, kommt aus Sanming, Provinz Fujian. Mitglied der Aofu Poetry Society. Einfacher Volkspolizist, dauernd beschäftigt, schreibt, wenn er kann. 《新诗典》小档案:藕的丝,男,福建三明人,傲夫诗社成员,70后基层公安民警,平常工作琐碎、繁忙,闲暇之余写写诗。
Die Nacht wird immer finsterer.
Ingenieur Guo sagt zu Ingenieur Gao,
ich möchte nicht mehr rauchen.
Ingenieur Gao sagt, nichts leichter als das.
Zieht Lederhandsschuhe an,
geht in die Werkstatt,
bringt einen halben Becher Flüssigsauerstoff,
minus 183 Grad Celsius, blasses Blau,
nimmt die Zigarettenschachtel von Guo,
taucht sie ein,
holt sie mit der Grillzange raus,
wirft ein brennendes Zündholz hin.
Bumm!
Ein weißer Blitz
und die ganze Packung ist weg.
Zwei Mäuse, zwei Ratten!
Eine auf der Kommode,
eine unter der Kommode.
Sie schauen vom Fell her
beide nicht gut aus,
wie nass vom Regen,
oder sie haben
was Schlechtes gefressen.
Hocken da, rennen nicht weg.
Hab noch nie eine totgeschlagen,
aber
dieses Mal,
die schaut krank aus,
fürchte, die wird nicht entkommen.
Nehm einen Stock,
erwisch die eine,
jag die andere,
aber
die kanns noch,
kann immer ausweichen.
Ich schlag mich ganz wach,
aber sie krieg ich nicht.
0 Uhr,
Feuerwerk prasselt von weitem
wie kochende Suppe,
Abschiedsfeier
der Ratte.
고양이가 고양이라면, 일상 말하는 고양이가 아니고
울림이 울림이라면, 일상 말하는 울림이 아니다
울림이 없으면, 지하의 시작이고
울림이 있다면, 모든 쥐들의 어미이다
그러므로 항상 독이 없어, 그 신묘한 모습을 관찰하고
항상 독이 있어, 그 포악함을 관찰한다
이 둘은, 똑같으나 이름이 달라
이를 위험이라 한다
위험하고 더 위험함이, 뭇 쥐들의 문이다
음식이 변변치 못하여, 미식은 먹지 않는다
착한 쥐는 변하지 않고, 변한 쥐는 착하지 않다
먹는 자는 박하지 않고, 박한 자는 먹지 않는다
나머지 쥐는 쌓이지 않고, 쥐로 되었으니 더 많이 챙기고
기왕에 쥐로 되었으니 더욱 가까워진다
하늘의 고양이는, 해로우나 이롭고
남은 쥐의 고양이는, 애는 쓰지만 다투지는 않는다
2020년12월31일 목요일
Es wird dunkel,
Kraut zieht in der Schüssel,
die Küche ist still.
Licht kommt auf die Erde, still.
Ein Prophet auf langem Weg, still.
Er sagt mir,
nach dieser Tasse Tee
soll ich Nachtmahl kochen.
Dein Vers bricht ab, du hast nur das Wasser rauschen gehört,
das war dein Ideal,
aber es hat furchtbar deutlich gerauscht.
Kein steter Tropfen, der den Stein höhlt,
keine klingende Quelle,
kein gewundener Bach, in dem ein Becher schwimmt.
Wenn der nächste Vers auftaucht,
wird das Wasser abgedreht.
Du kannst nicht mehr zu diesem Rauschen zurück.
Das heißt, es schneit auf die Verbotene Stadt,
das heißt, so floss deine Jugend,
das heißt, Jahre vergehen, dann kannst du es sagen.
21. November 2020
Übersetzt von MW im Dezember 2020
Yao Bin, geb. 1972 in Fuling bei Chongqing. Gemeines Volk, lebt in Chongqing. Schreibt jahrelang, hat ein paar Bücher. Schreibt weiter, weil er immer meint, er sei noch nicht zufrieden. 《新诗典》小档案:姚彬,1972年出生,重庆涪陵人,俗人,现居重庆。写诗数年,有集子几册。继续在写,因为总觉得没写出自己最满意的作品。
Es war Mamas Mitgift,
sie hat es mir geschenkt.
Ich leg es aufs Dach, um den Regen zu hören.
In regenlosen Nächten
füll ich das Becken mit klarem Wasser,
lass den Mond darin wachsen.
Der Rasenmäher von Jim, dem Mann meiner Tante passt zufällig zu der Popmusik aus den Lautsprechern hier in Amerika. Es wirkt wie im Chor, ein langgezogenes „Scheren schleifen!“ — Ohne zu denken schrei ich unwillkürlich mit: „Gemüsemesser schleifen!“ — Plötzlich stoppt der Rasenmäher des Onkels, mein chinesisches „Messer“ kommt noch halb raus. Ich schau mich erschreckt um, niemand hat mich gehört.
Alle warten. Aber auf dem Handy sehen sie Martin Winter, der seine eigene Stimme nicht hört. Martin Winter wird verrückt in Österreich in seiner Wohnung und alle in China fühlen mit ihm. In einem Moment ist der Empfang schlecht, das Bild bleibt stecken. Martin Winter auf dem Bildschirm ist Lakoon in Marmor, die Pythonschlange hat ihn schon erwischt.
From the foot of the mountain all the way to the top no trace of a person, no sound of a bird. Mighty snow made the world very silent. Sky and earth deserted. I hoped to find a companion, even a stranger. But in the season for fires, no furnace was lit. Alone going up, alone coming down, I could only trace my own footprints.
12/3/19 Translated by MW, May 2020
Lan Bing, orig. name Zhao Ruili, from Tianshui in Gansu. Teacher, member of the Half Past Five Poetry Society. 《新诗典》小档案:蓝冰,本名赵瑞丽,甘肃天水人,教师,五点半诗群成员。
Over ten thousand green parakeets land on a big tree, they fly up again in a great sound and on the tree there are still ten thousand green parakeets but these are its own leaves.
in der u-bahn in xi-an
hör ich mit kopfhörern musik
auf einmal
ein blatt papier vor meiner nase
darauf steht
ein herz für taubstumme menschen
heb ich den kopf
ein sehr gesunder junger mann
zeigt auf einen qr-code
schaut mich an
ich sag entschuldigung
er geht weiter
und zeigt mir noch seinen mittelfinger
Auf der Fahrt mit dem Bus Nr. 18
bin ich tief im Schlaf
niemand kümmert sich
aber irgend jemandem
kommt ein Wasserglas aus
ich schreck aus meinem Traum —
“Gefängnis Dezhou”, nächste Station.
mit drahtlosen kopfhörern
tret ich in das schweigende museum
eindringlich hör ich im rechten ohr
frau Bao
als wär sie direkt neben mir
sie ist unsre junge führerin
in wirklichkeit ist sie manchmal vorn
manchmal hinten
manchmal nah dann weiter weg
aber sie hat tränen in ihren augen
das hat sich nicht geändert
tang dynasty horse
fat
sturdy legs
big behind
tail like a whip
leaps into the sky
flies through the heavens
one long neigh
bloody neck
and no head
2017
Translated by MW in June 2018
Yi Sha PFERD AIS DER TANG-ZEIT
pferd aus der tang-zeit
wohlgenährt
dicke beine
großer hintern
peitschenschwanz
steigt in die luft
fliegt durch den himmel
ein langes wiehern
blutiger hals
und kein kopf
Frischen Mais,
Kartoffeln,
Süßkartoffeln
und drei Rindsaugen-Melanzani
geb ich in einen Topf.
Dampf steigt auf, dann
kommt der Deckel drauf.
Ein Pfeifen,
ein paar mal.
Wenn ich genau zuhör,
ist es wie
bei der Großtante in Qinghai die Kusine,
13 Jahre alt,
bei der Hochzeit geweint hat.
1) Do not read it out or memorize it, do not recite!
2) Only one poem per person!
3) Only one person reading one poem!
4) Do not recite like a professional!
5) No special cell phone status is required while reading poetry.
6) While reading poetry, it is forbidden to kiss, to undress or to munch popcorn.
7) After drinking alcohol, you can read poetry as long as you make out the characters.
8) Besides Chinese Mandarin, please read the characters in any sort of language or dialect!
9) Sexy women with a little bit of perfume are welcome to read!
10) Light music accompaniment is also encouraged.
11) It is strictly forbidden to ask any author to explain any poem in any way!
“Wan bao!” is the cry of newspaper-sellers that begins every afternoon in every city.
This poem has only five or six lines.
The last four lines are very close to a popular Buddhist saying.
The last two lines are the same.
shan you shan bao,
e you e bao
bu shi bu bao,
shihou wei dao!
Shan means good, e means bad, evil. I have substituted shan with zao, e with wan. Benevolent becomes early, evil late.
WANBAO
Wan bao! Wan bao!
Zao you zaobao,
wan you wanbao.
Bu shi bu bao,
shi hou wei dao!
In meinem Buch und auf meinem Blog gibt es sehr viele verschiedene chinesische Gedichte. Dieses erste Gedicht auf Chinesisch habe ich ungefähr 1999 oder früher geschrieben. Ich glaube, es ist unübersetzbar. Sehr chinesische Stimmung. Es ist sehr kurz.
Ao = au. Das “bao” hier wird sehr kurz und entschieden ausgesprochen. Y = deutsches j. Chinesisches J ist wie auf Englisch. Das i bei “shi” ist wie das türkische i ohne Punkt. Also eigentlich kein i.
“Wan bao!” rufen Zeitungsverkäufer am Nachmittag und Abend in chinesischen Städten. Wanbao ist Abendzeitung, zaobao Morgenzeitung; z.B. Shanghai Zaobao. You (jo-u) bedeutet ‘gibt es’. Zao bedeutet früh, aber auch ‘Morgen’ im Sinn von Guten Morgen. Ich stehe jeden Tag um halb sieben auf, das ist jetzt Sonnenaufgang. Da mache ich ein Foto vom Balkon aus. Manchmal auch von meinem Sohn oder meiner Tochter beim Frühstück. So ein Foto kommt dann ins chinesische Internet, mit diesem Zeichen: 早. Zao!
Photos and video recording: Beate Maria Wörz
《晚报》
晚报!晚报!
早有早报,
晚有晚报。
不是不报,
时侯未到!
WANBAO
Wan bao! Wan bao!
Zao you zaobao,
wan you wanbao.
Bu shi bu bao,
shi hou wei dao!
Vielleicht habt ihr den Reim auf -ao schon bemerkt. Ao = au. Wanbao, Abendzeitung. Aber dieses “bao” bedeutet nicht nur Bericht, Meldung etc, sondern auch das Karma, das von einer guten oder schlechten Tat zurückkommt. Achtung, sehr spezifisch chinesische und asiatische Stimmung! Wirklich. Zao you zaobao, wan you wanbao. Morgens kommt die Morgenzeitung, abends gibt es Abendblatt. Soweit so banal. Aber da gibt es ein sehr bekanntes buddhistisches Sprichwort. Shan you shan bao, e you e bao. Bu shi bu bao, shi hou wei dao! Die letzten zwei Zeilen sind genau dieselben wie in meinem Gedicht. Bu shi bu bao, shi hou wei dao.
善有善报,
恶有恶报。
不是不报,
时候未到!
Gutes hat gute Folgen, Böses böse. Shan you shan bao, e you e bao. Das “e” hier ist ein kurzes, entschiedenes Schwa, eher wie ein ö als wie ein deutsches “e”. Bitte versucht einmal, das ganze Sprichwort laut auszusprechen. Y = deutsches j, ou = ou. Sh wie auf Englisch. Shan you shanbao, e you ebao. Bu shi bu bao, shi hou wei dao! Bu bedeutet hier nein, nicht. Bu shi = ist nicht, das ist nicht so. Nicht, dass es kein Karma gibt, nur die Zeit ist noch nicht da. Shi-hou heißt Zeit. Wei heißt noch nicht. Ei wie bei Beijing (Peking), also kein deutsches “ei”. Ai Weiwei heißt wörtlich Ai Nochnicht Nochnicht. Ai Zukunft Zukunft. Ai ist der Familienname. Siehe auch die Wikipedia-Einträge zu Ai Qing und zu seinem Sohn Ai Weiwei. Aber zurück zu meinem Gedicht. Bu shi bu bao, shi hou wei dao. 不是不报,时候未到。Diese beiden Zeilen sind genau gleich wie in dem alten buddhistischen Sprichwort. Und auch in den Zeilen davor habe ich nur “gut” (shan 善) mit “früh“ (zao 早 frühmorgens etc.) ersetzt und ”böse” (e 恶) mit “spät” (wan 晚, spät und abends) ersetzt. Schaut bitte noch einmal hin. Das meiste ist gleich, nicht wahr? Deshalb ist mein Gedicht unübersetzbar. Es wirkt nur, wenn man das Sprichwort schon kennt. Jede und jeder kennt es in China, Taiwan etc. Aber was haben Morgen- und Abendzeitungen mit Karma zu tun? Nicht, dass da kein Karma kommt, nur die Zeit ist noch nicht da. Nicht, dass nicht berichtet wird, nur die Zeit ist noch nicht reif. Diese beiden Sätze sind auf Chinesisch dasselbe.
In meinem neuen Gedichtband ist dieses Gedicht auf Seite 67, unter 晚报.
an einem morgen mit sanftem wind an den wangen
beginnt ein tischlerlehrling sein handwerk
der meister zeigt ihm persönlich
wie man einen sarg macht
warum denn? warum denn?
fragt mit großen augen der fleißige lehrling
darum! sagt der meister
särge sind einfach
1992
Übersetzt von MW im September 2016
《拜师学艺》
在这清风拂面的早晨
小木匠学手艺
手把手的师傅
教他打棺材
为什么?为什么?
瞪大双眼勤学好问
什么也不为!师傅说
棺材——简单
(1992)
Yi Sha 《法拉奇如是说》 EIN AUSSPRUCH VON ORIANA FALLACI
der schönste moment für respekt vor der menschheit
das war für mich der einfachste anblick
es war keine statue
es war keine fahne
es war ein erhobener menschlicher hintern
das geräusch das herauskam
das hieß nämlich: “nein!”
alle mann in die wirtschaft
wirtschaft auf dem campus
bambustriebe sprießen im regen
so viele studierende
grenzenlose inspiration
ich verkaufe kondome
um zwei in der nacht
klopf ich an die tür im jungmännerwohnheim
ich komm nicht nach vor lauter nachfrage
ich werde der reichste mann auf dem campus
bei diesem einfachen handel
hab ich eine simple wahrheit gelernt
was die leute wollen
musst du ihnen geben
du musst den höchsten glauben verbreiten:
alle mann in die wirtschaft
jeder auf seinen posten
in letzter zeit brechen sich viele die beine
in der familie unter den freunden
die waren alle nicht gut ernährt
unter mao
ich möchte eine kur für sie finden
beim hühnerhalten als ich ein kind war
kalziumkur für die hühner
das waren zerstoßene eierschalen
im hühnerfutter
schaum sind wir, rollender schaum
wirbelnde blasen, fliegende gischt
tanzende falter, blinkende blüten
wiegende gräser, flüsterndes laub
wind sind wir, schäumender wind
fahrende wolken, brodelndes licht
wehende steine, brennende sterne
knirschende kinder, flackernde nacht
ton sind wir, grollender ton
MW August 2016
LETZTER TAG
am schönsten war
der letzte tag
der letzte abend
licht noch am strand
kam eine frau
mit einem kind
wahrscheinlich aus fremdem land
hoffentlich haben sie
unterkunft
wir gingen weiter
zu unsern muscheln
im letzten licht
3 whales in austria
wales played much better
in german whale sounds the same as election
any choice
president is like english
trump started to smell long ago
in 2000 there was a problem
but
no-one had three votes in half a year.
the na in nazi means nation
national socialism
democratic whales are still good
the best whale is still socialism
but in brexit times
we have ever more ranking
president wales
one plate
two plates
three plates
four plates
sometimes in a pile
sometimes crowded against each other
sometimes ringing
mostly sticking together
without any sound
2013
Tr. MW, 2016
Ma Jinshan TELLERLEBEN
ein teller
zwei teller
drei teller
vier teller
manchmal aufeinandergestapelt
manchmal gegeneinandergepresst
manchmal klirrend
meistens schweigsam beisammen
ohne jeden mucks.
Night of continuous rain.
Rain digging a well
in winter quite a few years ago.
Many years after,
temple bells of Nagoya in whirling snow
dig up the rain in my ears from the well
from that winter.
Then cherry trees bloom.
Then far away in China
fallen leaves wake up in front of a temple.
Zuo You ICH WILL DEN VERDAMMTEN KLANG ENDLICH HÖREN
20 Jahre gehörlos.
Nie Hörgeräte verwendet.
Vor ein paar Tagen geh ich mit meiner Schwester
zum Institut für traditionelle Musik und Akustik,
die machen Versuche mit Hörgeräten.
Ich bin so lange taub,
weiß gar nicht was ein Klang ist.
Auf einmal macht das Gerät ein ganz schrilles Geräusch.
Ich hab geglaubt, ich hör einen Ton.
Ich umarm meine Schwester.
“Nicht so schnell”, sagt der Mann,
“das ist nur die Erschütterung.”
ich hör meinen heimatort kuckuck schreien.
der teich schreit kuckuck.
kahle bäume schreien kuckuck.
gemüsefelder schreien kuckuck.
frösche hocken stumm in der erde,
mit großen augen vom halluzinieren.
stumm liegt ein kleines kind auf der schwelle,
er stellt sich tot,
wartet nur bis ich näher komm.
er springt mich an und wirft mich um.
EINE KLEINE NACHTMUSIK – 伊沙 – DREI GEDICHTE VON 2002
Yi Sha 《傍晚的一個瞬间》 EINE SZENE AM ABEND
eine gruppe von teenagern
umringen und schlagen
eine schöne junge frau
mit fäusten und füßen
mit steinen
das war auf einer landstraße
im süden von frankreich
oder auf sizilien
das hab ich auf einmal im fernsehen gesehen
eine szene am abend
ich hab gewusst es war ein film
ich hatte noch etwas anderes zu tun
konnte nicht weiter schauen
ich fühlte mich ein bisschen schlecht
nicht nur ein bisschen schlecht
sondern selten schlecht
ich weiß schon
das hat mit der handlung konkret nichts zu tun
da kommt nur ein gefühl hoch
weil ich keinen bestimmten grund finden kann
häng ich in der luft
und find keinen halt
eine frau
mit einer stahlsäge
sägt meine nerven
sie weiß
meine nerven
halten gar keine säge aus
sie weiß
was am meisten weh tut
das ist der klang
wenn eine stahlsäge
nerven durchschneidet
ihr guten menschen
hört
eine kleine nachmusik
euch wird weit ums herz und leicht um den sinn
ein sehr schönes gefühl
die nerven sind schon durchgesägt
aber nachher
sieht man kein blut
euch guten menschen
tut es unerträglich weh
ich hab noch das herz
euch zu sagen
ich hab ein herz aus stahlbeton
dass ich nicht gerührt bin
das kommt von einem einfachen grund
einem ganz banalen
ich möchte leben
mitten unter den leuten
Yi Sha DIE GROSSE WILDGANSPAGODE BEHALT ICH, HIER IST EINE KLEINE PAGODE FÜR DICH
meine reisegefährten sind aufgestiegen
auf die wildganspagode
ich streck meine glieder
tief hinten im garten am alten tempel
hab ich mich so angenehm angelehnt
zitherklang aus der oper liang zhu
und die alte glocke an die ich gestoßen bin
lassen mich in den schlaf sinken
ein tausendjähriger mittagsschlummer
kurz und traumlos
schwarz vor den augen
beim aufwachen
sind meine wangen ganz feucht
mein gesicht ist noch immer
im weinen befangen
ich hab doch keinen grund
es muss etwas sein
etwas größeres
höheres
etwas kleineres
niedrigeres
das mich gebraucht hat
um sich auszuweinen
Zhang Hongping from Nanchenzan village,
from the family of Wu Zhanlei,
when she was pregnant the second time,
the time period between the two pregnancies
did not meet national regulations.
After the late-term abortion,
they threw that ball of flesh
into a dirty plastic bucket.
Her mom prodded one or two times into the bucket with fire tongs,
That piece of flesh twitched one or two times without a sound
Her mom’s fingers shook one or two times.
”It’s a girl,“
said her mom.
Every time she talks about it,
Zhang Hongping makes a pause at this moment.
“After that,” she says,
“‘cause it was a girl I cried not so hard.”
you don’t have money
but you’ve got to buy an apartment
in the end you choose a unit
next to an army factory
national territory
should be a good deal
and rather safe
when you move in you realize
they have test explosions
every day at irregular intervals
it’s like you’re in a war zone
first you hear the roar
then your family members
start screaming
they keep shooting until
one day
artillery shells shatter your windows
your aluminum ceiling panels
your furniture
then they hit you
lying in hospital
you’re a real casualty
funny thing is
you don’t get a medal
and you can’t leave the army
ein mensch allein
schau rechts hinauf im dreissig grad winkel
seufz ein tiefes “ah”
dort schwebt eine wolke
allein dreh den kopf
schau links hinunter fünfzehn grad
tiefgefühltes “ah”
dort ist publikum dunkel dunkel schwarz
ein mensch allein heb langsam den kopf
schau nach vorn
streck deine arme aus breit deine schwingen
ein tiefer atemzug
ein langgezogenes ausatmen:
ah ————————-
der kameraarm kommt heran
der lange hals einer giraffe
ein mensch allein mach ah ah ah
verbeug dich dreimal
ab
stiller
wind vom meer streichelt die nacht
breite
menschenleere straße
eine schnecke
kriecht gemächlich
ein motorrad
in seinem brausen
in seinem heulen
hör ich
ein knacksen
13. Juni 2015
Übersetzt von MW am 1. Sept. 2015
Shen Haobo NIGHT IN HUALIEN
a quiet wind
from the sea touching the night
wide
is the road, no-one about.
a snail
crawling slowly
a motorcycle coming towards you
through its roaring
you can still hear
a single
crack
the sea smells of fish
the sunset rolls in
very softly
the fish hall has
many kinds of fish
they are all very kind
to your palate
MW July 2015
STRALSUND
das meer riecht nach fisch.
der sonnenuntergang rollt
ganz ganz leise.
im fischgeschäft gibt es
viele verschiedene fische.
nicht vergebens verschieden!
alle sind köstlich.
sounds of bombs
falling
from the west
along
the fields
still without crops
coming
to the city
a tiny tremble
very tiny
no-one feels it
except
a baby
who cannot sleep
I n-need t-to b-b-break out
f-f-from y-y-your s-sp-pout-ting s-song
b-break o-out o-of y-your h-house
m-m-my sh-shoot-t-ting t-t-tongue
m-m-mach-chine g-g-gunn f-fire
it feels so good
i-in m-m-my s-st-tut-t-ter-ring l-life
the-there a-are n-no g-ghosts
ju-just l-llook at-t m-my f-face
I d-d-don’t c-care!
1991
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《结结巴巴》 ST-STO-TO-TT-TERN
m-mein st-sto-to-tt-ternd-der m-mund
b-b-behind-dderter schschlund
b-b-bei-sst- s-ich wund
an m-meinem r-rasenden hirn
und m-meine b-beine –
euer t-trief-fend-der,
schschimmliger schschleim
m-meine l-lunge
i-ist m-müd’ und hin
i-ich w-will r-r-aus
aus eurem g-gross-a-artiggen rh-rhythmus
a-aus eurem h-haus
m-m-meine
sch-schp-prache
m-masch-schinengewehr-s-salven
es tut so gut
in m-meinem st-stott-ttoterndem r-reim
auf m-mein l-leben g-gibt es k-keine l-leich-chen
s-s-seht m-mich a-an
m-m-mir i-ist all-les g-gleich!
1991
Übersetzt von MW im April 2013
<結結巴巴>
結結巴巴我的嘴
二二二等殘廢
咬不住我狂狂狂奔的思維
還有我的腿
你們四處流流流淌的口水
散著霉味
我我我的肺
多麼勞累
我要突突突圍
你們莫莫莫名其妙
的節奏
急待突圍
我我我的
我的機槍點點點射般
的語言
充滿快慰
結結巴巴我的命
我的命裡沒沒沒有鬼
你們瞧瞧瞧我
一臉無所謂
1991
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《精神病患者》 GEISTESKRANKE
theoretisch
weiß ich nicht
wie es sich äußert
wenn eine geisteskrankheit ausbricht
ich hab nur gesehen
in diesem land
in dieser stadt
wenn ein geisteskranker loslegt
streckt er den arm hoch und bricht aus
in parolen
der revolution
theoretically
I don’t know
how it should be
when a mental patient
suffers an outbreak
but what I have seen
in this country
in this city –
a mental patient suffers an outbreak:
up goes his arm
out come the slogans of revolution
1994
Tr. MW, 2013-2014
Photos and videos by Beate Maria Wörz
Yi Sha 《我想杀人》 ICH MÖCHTE JEMANDEN UMBRINGEN
ich fühle mich etwas komisch
ich will jemanden töten
oh! das war letztes jahr
herbst kroch über das laub
zwanzig todeskandidaten
am flussufer nördlich der stadt
“peng! peng!”
einer wurde aufgeschnitten
in der folgenden operation
erhielten WIR eine niere
I am feeling a little strange
– I want to kill someone
Oh! It was last year
autumn crept over the leaves
twenty death candidates lined up
at the river north of the city
„Peng! peng!“
One of them was cut open
and in the following operation
We got a kidney
1994
Tr. MW, 2015
Yi Sha 《9/11心理报告》 9/11 AUF DER COUCH
erste sekunde mund offen scheunentor
zweite sekunde stumm wie ein holzhuhn
dritte sekunde das ist nicht wahr
vierte sekunde kein zweifel mehr da
fünfte sekunde das brennt nicht schlecht
sechste sekunde geschieht ihnen recht
siebte sekunde das ist die rache
achte sekunde sie verstehen ihre sache
neunte sekunde die sind sehr fromm
zehnte sekunde bis ich drauf komm
meine schwester
wohnt in new york
wo ist das telefon
bitte ein ferngespräch
komme nicht durch
spring zum computer
bitte ins internet
email ans mädl
zitternde finger
wo sind die tasten
mädl, schwester!
lebst du noch?
in sorge, dein bruder!
2001
Übersetzt 2013 von Martin Winter
Yi Sha 9.11 REPORT FROM THE COUCH
Ist second: mouth barn-door open
2nd second: wooden-chicken stiff
3rd second: couldn’t believe it
4th second: it must be true
5th second: what a great fire
6th second: well they deserve it
7th second: this is retribution
8th second: these buggers have guts
9th second: must be their religion
10th second: before I realize
my own little sister
lives in new york
I need a telephone
long distance call!
can’t get a connection!
I go storming for a computer
where is the internet
typing out characters
writing an email
shaky fingers
“sister, sister!
are you alive?
your elder brother is worried sick!”
a screw drops to the floor
in this night of overtime
going straight down, there’s a small sound
nobody notices
just like before
on a night like this
when a person fell down
2014-01-09
Tr. MW, November 2014
Xu Lizhi EINE SCHRAUBE FÄLLT HINUNTER
eine schraube fällt hinunter
in dieser nacht in überstunden
fällt gerade zu boden, ein leiser klang
niemand achtet darauf
genau wie davor
in einer nacht wie dieser
da fiel ein mensch hinunter
Die Nummer 62 des Literaturmagazins “Wienzeile” ist gedruckt! Mit Texten von Hsia Yü 夏宇, Yan Jun 顏峻, Hung Hung 鴻鴻, Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊, Yu Jian 于堅, Ma Lan 馬蘭, Qi Ge 七格, Wu Yinning 吳音寧, Lin Weifu 林維甫, Tong Yali 彤雅立, Pang Pei 厖培, Liao Yiwu 廖亦武 und vielen anderen. Dazu gibt es Grafik und Bilder von Yang Jinsong 楊勁松, Chen Xi 陳熹, Emy Ya 葉宛玲, Ursula Wolte und anderen mehr.
Wu Yinning 吳音寧, Hsia Yü 夏宇, Hung Hung 鴻鴻 und mehrere andere SchriftstellerInnen und KünstlerInnen in dieser Nummer sind aus Taiwan. Gedichte von Wu Yining gibt es auch hier. Zwei der sieben Gedichte, die ich von ihr übersetzt habe, zitieren taiwanische Rockmusik. Eines ist über einen Kanalarbeiter. Die lokalen Details in Verbindung mit Wu Yinnings starkem sozialen Engagement machen die Faszination aller ihrer Texte aus. Sie war z.B. 2001 in Chiapas in Mexico und berichtete von der zapatistischen Revolte.
Wir haben Texte über Wahlen und Demokratie, 1979 – zur Zeit der Demokratiemauer – und heute. Helmut Opletal, langjähriger Rundfunk- und Fernsehkorrespondent, berichtet von den politischen Verhältnissen im Peking der Demokratiemauer und zieht Vergleiche mit aktuellen Ereignissen. Wir haben Han Hans 韓寒 Essay über Demokratie, übersetzt von Ingrid Fischer-Schreiber. Das ist einer von drei Texten – über Revolution, Demokratie und über Freiheit- die Ende Dezember 2011 herauskamen, gerade als wieder einige Dissidenten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Han Hans Texte wurden weltweit heftig diskutiert, unter anderem im Zusammenhang mit 100 Jahre Chinesische Revolution/ Abdankung des letzten Kaisers 1911/1912, auch bei einer großen Konferenz an der Universität Wien Anfang dieses Jahres. Wir haben einen Text des Computer- und Internetexperten Hu Yong 胡泳, ebenfalls übersetzt von Ingrid Fischer-Schreiber 殷歌麗, Kuratorin der Ars Electronica in Linz, Übersetzerin zahlreicher chinesischer Artikel und Bücher aus politisch-sozialen und wissenschaftlich-technischen Bereichen. Nicht zuletzt enthält diese Sonderausgabe einen Vergleich zweier hochbrisanter politischer Texte, der Charta 77 aus der damaligen Tschechoslowakei und der chinesischen Charta 08, erstellt von einer Politologin und Sinologin aus Tschechien.
Das Cover ist von Linda Bilda, einer Künstlerin aus Wien. Innerhalb der Redaktion war es von Anfang an umstritten. Aber eine wichtige chinesische Schriftstellerin, die in dieser Ausgabe vertreten ist, findet es gut, gerade auch wegen der Gewalt. Heutiges China, sagt sie.
Ein weiterer Punkt, der zuletzt heftig diskutiert wurde, war die Inkludierung von Texten von und über Wanderarbeiterinnen in China. Im September letzten Jahres war hier in Wien eine große Konferenz über Arbeitskonflikte in China. Vorträge und Berichte gibt es online auf den Konferenzwebseiten und bei Transform! . Eine der Vortragenden war Astrid Lipinsky vom Ostasieninstitut der Univ. Wien, die schon 2008 in der Zeitschrift Frauensolidarität über Arbeitsmigrantinnen, ihre Sprache und ihr Schreiben berichtet hat. In der Wienzeile haben wir den ersten Teil eines langen Gedichtes von Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊. Sie ist Arbeitsmigrantin in Dongguan 東莞 und hat neben ihrer Fabrikarbeit seit ungefähr 10 Jahren viele literarische Texte veröffentlicht, die nicht nur auf dem chinesischen Festland, sondern auch in Taiwan und darüber hinaus bekannt und geschätzt sind. Für Hung Hung 鴻鴻, Regisseur und Schriftsteller in Taipeh, erinnern manche Gedichte von Zheng Xiaoqiong an “Akte 0” von Yu Jian 于堅, einem der renommiertesten chinesischen Dichter, der ebenfalls in dieser “Wienzeile” vertreten ist.
Mit dem Kopf durch die Chinesische Mauer – 橫穿長城的頭顱。Der chinesische Titel stammt von Liu Jixin 劉紀新 aus Peking. Liu Jixin unterrichtet klassisches und modernes Chinesisch am Ostasieninstitut der Universität Wien. Im jetzigen gesprochenen und geschriebenen Chinesisch sind klassische Wendungen durchaus häufig, und auch heute sind Bildung, Erziehung und Sprache in vielen Aspekten brisante Themen. Liu Jixin hat einen kleinen, recht subjektiven Artikel über Schulen in Wien und in Peking geschrieben. Die in Peking tätige Architektin Chen Ing-tse 陳穎澤 aus Taiwan schreibt über Lang- und Kurzzeichen in der chinesischen Schrift. Sie hat eine sehr prononcierte Meinung. 100 Jahre nach den ersten Ansätzen der Sprachreform, die eine enorme Kluft zwischen gesprochener und geschriebener allgemeiner Verkehrssprache und eine hohe Schriftunkundigen-Rate beseitigen wollte, gibt es auch auf dem Gebiet der Sprachen und Schriften im chinesischen Sprachraum viele aktuelle Konflikte.
Josef Goldberger interviewt eine chinesische Absolventin eines Studiums in Wien.
Wer erinnert sich noch an 1990? “Keine Mauern mehr” hieß der österreichische Beitrag zum Eurovisions-Songcontest. Leider begannen noch im selben Jahr die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre, die 1999 auch China berührten, mit dem NATO-Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad. Diese “Wienzeile” enthält eine Erzählung von Tamara Kesic, die 1990 in Kroatien spielt. Außerdem haben wir weitere literarische Beiträge von deutschsprachigen Autoren, etwa Gedichte von Isa Breier und einen Text von Thomas Losch.
Die Wienzeile 62 wird am 17. Mai im Venster 99 in Wien mit einer Multimedia-Lesung präsentiert (siehe Plakat). Der Dichter und Musiker Yan Jun 顏峻 tritt live auf. Die Zeitschrift ist bei der Redaktion, im Sekretariat der Abteilung Sinologie des Ostasieninstituts an der Univ. Wien und auch bei mir (Martin Winter) erhältlich.
Wienzeile, a literature magazine coming out in Vienna, Austria, with entries in Chinese, English and German. Lots of new literature by Hsia Yü 夏宇、Yan Jun 顏峻、Hung Hung 鴻鴻、Zheng Xiaoqiong 鄭小瓊、Yu Jian 于堅、Ma Lan 馬蘭、Qi Ge 七格、Wu Yinning 吳音寧、Lin Weifu 林維甫、Tong Yali 彤雅立、 Pang Pei 龐培、Liao Yiwu 廖亦武 and many others.
Art work and photos by Linda Bilda, Yang Jinsong 楊勁松, Chen Xi 陳熹, Emy Ya 葉宛玲 and others.
Articles by Han Han 韓寒 and Hu Yong 胡泳. And an article comparing Charter 08 to Charter 77, written by Helena Nejedla, Czech Republic. If you get hungry while reading, we have a recipe for 四川鍋盔.