Lushan is loaded
with history.
Is love allowed?
Is Buddha allowed?
Is praying allowed?
Is crossing borders
encouraged
or not?
The theatre is full.
Is it just something
in the itinerary?
Are they all getting
the hope,
China will be alright,
people will be free
and so on?
People should have unclear ideas.
And should admit it.
If you have a clear idea
are you going to be happy
are you going to admit it
are you going to be satisfied?
I really don’t know.
When you love someone
you have no idea.
MW October 2023 on Lushan
九江宾馆
九江宾馆真豪华
九江宾馆真繁荣
目前它的真面目
昼夜都在工地中
2023.10.17
LI BAI’S WATERFALL
Once in a while
the loudspeaker stops.
Then you can hear
three thousand feet
the milky way
from the ninth heaven
whatever thing.
Art is not
either or.
Either good or bad,
east or west,
north or south.
Art is
having something else
than either or.
A space to breathe,
to spread wings,
to reflect.
Sometimes to forget.
To air out your spirit.
Like a walk in the mountains.
You need time,
to make an effort.
To be able to grasp
the life in a place,
in a situation.
Something will come.
Art is
to take care.
MW October 2023
A POEM
A poem
opens you
Maybe
leaves you open
to feel the wind
Maybe
you close up
there’s a draft
And you have a cold
Maybe it gets dark
Maybe getting cold
Maybe getting hot
Maybe you’re alone
you don’t feel safe
Maybe
you need it quiet
Maybe you can
open up
later
MW October 2023
一首诗
一首诗
打开你
也许
让你开着
感觉到风
也许
你关上
太凉
你已经感冒
也许快要天黑
也许会冷
也许会热
也许你一个人
感觉不安全
也许
需要安静
也许可以
以后
再打开
2023.10
EIN GEDICHT
Ein Gedicht
macht dich auf.
Ein Gedicht lässt dich vielleicht
auch offen stehen.
Du spürst den Wind.
Vielleicht machst du zu
weil es zieht.
Du bist schon verkühlt.
Vielleicht wird es dunkel.
Vielleicht wird es kalt.
Vielleicht wird es heiß.
Vielleicht bist du allein,
fühlst dich nicht sicher.
Ein Steinmetz sitzt vor einem Stein
und arbeitet einen Buddha heraus.
Nach einem halben Monat
ist ein barmherziger Buddha geboren.
Der Steinmetz, er oder sie, schaut die Figur an,
schaut selber noch nicht entspannt aus.
Sagt vor sich hin,
hätt man ihn nicht lange zu Tode geschnitten,
wie wär er sonst barmherzig geworden.
Shang Zhen KATHOLISCHE KIRCHE, SCHUTZ VOR REGEN (2)
Wir stehen in einem engen Tor
und sehen drüben eine Moschee.
Dort ist auch ein enges Tor,
dort stellt sich auch jemand unter.
Der Regen hört nicht auf,
sieht nach einer Überschwemmung aus.
Manche Straßen sind schon unter Wasser.
Hinter uns an der Wand
stehen die Worte
“Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.”
Auf der Wand der Moschee
wird wohl Ähnliches stehen.
Die Leute, die dort Schutz gesucht haben,
werden es lesen.
One in the living room.
One in my studio.
Two in the bedroom.
Under their gaze,
I have to be careful
about my behavior.
For example,
not running naked.
No smoking or drinking
in front of the camera.
My CCTV
has no recording.
It’s just a wise pair of eyes.
They call it Thangka.
Um den übermannshohen Baum
hängt eine Person bunte Lampen auf,
die andere geht mit einer dicken Lampenschnur
dahinter herum.
Zusammen machen sie
lauter Umrundungen.
Dieses fromme Ehepaar
kommt mir vor wie die Pilger,
die mit Gebetsmühlen
den Jokhang Tempel in Lhasa
unzählige Male umkreisen.
Eine alte Frau
kniet vor der Guanyin und weint,
und heult laut auf,
das erschreckt eine Frau daneben,
die freiwillig sauber macht.
“Heute ist eine Boddhisattva-Feier,
alle freuen sich, seien Sie leise!
Oben in der Halle rezitieren die Mönche.”
Die alte Frau sagt, ich wein um meine Eltern,
kann nicht rezitieren, nur weinen,
was gehts dich an?
Ein verletzter Steinadler
ist in unserem Hof gelandet,
mit Blut auf den Flügeln.
Zuerst haben wir nicht gewusst, was es war.
Mutter nannte ihn Großer Vogel.
Großer Vogel war groß,
er stand größer als ich.
Sein Schnabel war ein großer Haken.
Mutter hat mich nicht zu ihm gelassen,
er könnte mich verletzen.
Er hat nichts gefressen,
nur ein bisschen Wasser aus der Schale getrunken.
In der Nacht hat er sich in den Hühnerkäfig
aus Maiskolben verkrochen.
Mutter hat die Tür zugemacht
und hat ihm jeden Tag Wasser gegeben.
Alle im Dorf sind schauen gekommen.
Jemand hat gesagt, das ist ein Adler,
ein anderer sagt, das ist ein Habicht,
noch jemand sagt, das ist ein Geier.
Die ganze Kommune war aufgeregt.
Jemand wie ein Kader
ist zu uns gekommen,
hat ein Buch mitgebracht und nachgeschaut.
Hat gesagt, das ist ein Steinadler,
eine national geschützte Art.
Morgen werde er ihn abtransportieren.
Mutter ist in der Nacht hinaufgestiegen,
hat Räucherstäbchen angezündet.
In der Früh
hat sie die Käfigtür aufgemacht
und den Großen Vogel heraus gelassen.
Mutter hat ihre Arme
auf und ab ausgebreitet,
hat ihm gezeigt,
flieg!
Er ist gehüpft und gehüpft,
bis auf die Hofmauer geflattert.
Er hat zurückgeschaut.
Ich hab seine großen Augen gesehen,
goldene Augen.
Drinnen hat ein tiefes Schwarz geblitzt,
als wollt er mich einsaugen.
“Gu … gua…”
Er hat die Flügel ausgestreckt,
sinken lassen,
hat die Flügel geschlagen.
Ein Wind ist gekommen,
ein großes schwarzes Kreuz
ist übers Dach
in den Himmel geschossen.
Ich hab Mutter am Arm gehalten,
bin dagestanden
zum Abschied
von einem Gott.
Jeden Morgen
wenn die Sonne aufgeht,
ist sie vor dem Tor
unter zinnoberroten Säulen
eingerollt, ein goldener Ball.
Von weitem auch wie eine große
pelzige Bodhi-Blüte.
Die Mönche in ihren Roben,
die ein und aus eilen,
entspannen ihre Schritte.
Die Affen auf dem Berg
merken, dass sie alleine wohnt
und stehlen immer geopfertes Obst.
Früher war da ein Schäferhund,
der war wie ein Wächtermönch.
Leider ist er am Fuß des Berges
von Hundejägern erschlagen worden.
Sie hat das erzählt,
sie hat niemand verflucht.
Ich schieb mich im Rollstuhl
zum Jokhang Tempel,
ringsum werfen sich Gläubige in den Staub.
Ich beuge die Taille,
lass den Kopf hängen,
die rechte Hand steuert im Schneckentempo,
die linke fingert Gebetsperlen,
ich murmle
Om Mani Padme Hum –
Plötzlich kann ich einem Schlagloch nicht ausweichen,
der Rollstuhl wackelt,
es macht einen Krach.
Ich flieg aus dem Rollstuhl,
lieg flach auf der Erde.
Handflächen auf dem Boden,
dann auch die Knie,
mein ganzer Körper.
Ich schlag mit der Stirn auf und mit den Händen
und kriech wie die anderen
die Straße entlang.
Den Berg Lu hinauf neben der Lotushöhle
Sieben, acht Mönche kommen vorbei
Vielleicht Spaziergang nach dem Mittagessen
Sie reden beim Gehen
Ukraine
Russland
Kaiser
Militärischer Angriff
Raketen
solche Wörter
hab ich ungefähr
von ihnen gehört
Im großen Tempel im Dorf
liegt ein langer Buddha.
Eine Hand ist verschwunden.
Die andere grüßt vor der Brust,
da stecken Kinder Blumen hinein.
Buddha sagt nichts,
Buddha bleibt still.
Unter den milden Kurven der Brauen
hängen die Ohren bis auf die Schultern.
Mit Obstkernen drin, damit spielen die Kinder.
Sie hören
die Glocke.
In den Seitengebäuden
haben sie Unterricht,
lernen
schreiben,
nehmen Kultur auf.
Unterm Zwetschkenbaum
im Tempel Gaofeng sitzt mein Sohn.
Er bückt sich,
nimmt ein paar abgefallene Blüten
und ruft:
“Schneeflocken sind tot!”
Ich deute ihm,
er soll leiser sein.
Der kleine Kerl steht vom Boden auf,
reißt die Maske runter
hängt sich an meinen Hals
und flüstert:
“Hast Du Angst,
dass der Berggeist
hört, wenn ich zornig bin?
Und diese Leute,
die immer knien,
warum können sie nicht
einmal heulen und klagen?”
Ich nehm am Einheitsfronttreffen teil,
einer neben mir fragt:
“Von welcher Religion kommen Sie?”
“Konfuzianismus.”
“Was ist die Adresse?”
“Konfuziustempel.”
“Welche heiligen Schriften?”
“NPC: Neues Buch der Lieder.”
Dein Name
ist unter Norwegern der häufigste Name,
aber für mich ist es der einzige Name.
Wir werden uns sehen,
das ist vorbestimmt,
wir werden getrennt sein, das auch.
Wenn es einen Gott gibt,
dann soll er mich strafen.
Bevor Gott dazu kommt,
trifft mich schon meine eigene Strafe.
Wenn ich mich selbst nicht mehr liebe,
dann wächst das Gras dort an der Wand
gleich wie lauter Kreuze heraus.
Ich steh vor dem zaundürren
angeheirateten Onkel
und mich schauderts unwillkürlich.
Ich weiß,
das ist ein Zittern
tief in den Knochen.
Vor ein paar Jahren
ist Vater gestorben,
da hab ich einige Male
gezittert.
Der kalte Schauder,
das kommt nicht aus dem Leben,
sondern vielleicht
aus einer anderen Welt.
Heuer schneit es sehr spät.
Heut früh ist die ganze Stadt weiß.
Ich geh mit Mama zum Morgengebet,
in der Kirche sind nur ein paar alte Frauen,
die murmeln mit gesenkten Köpfen.
Eine Alte steht da
mit großen Augen und weißen Haaren.
Sie schaut mich an, stumm.
Dann sagt sie, ich seh wie ihr Sohn aus.
Sie sagt, ihr Sohn sei vor ein paar Tagen gestorben.
Sie sei hier, um zu beten.
Sie wolle mir ein Geheimnis anvertrauen.
Sie macht ein geheimnisvolles Gesicht.
Ich beug mich zu ihr.
“Heute ist ein Weißes Begräbnis!”
Sie schaut sich um
und schließt die Augen.
Mir kommt es so vor, als wollte sie sagen,
“Gott ist gestorben.”
You think
you have to say what’s right.
So you write
sodden poetry.
No one has to say what’s true or not.
If you have a feeling
you can write how the war is absurd,
how people suffer.
You can write what you feel.
You cannot write
what people should think.
Yesterday I told a friend
a story from the year 2000.
I was in Xinjiang,
spent the night in Kashgar.
In the lobby at the hotel,
someone screamed:
Wanna fight?
In several languages,
including Chinese.
Huge guy,
not a bad fighter.
Some people tried,
couldn’t get past him.
I said something,
don’t remember exactly,
maybe let’s sit down,
have a drink.
He calmed down a little,
sat down with me, told me his story.
He was from Kazakhstan,
going back and forth
buying and selling,
had been on the road for many years.
He spoke Russian at home.
At that time Putin had just come to power.
He really liked Putin,
Putin would reinstate the Soviet Union.
We were sitting and talking,
sometimes he would get up
to see if anyone
would want to fight him.
Calming down
was a process.
I remember feeling
he was very direct,
I could respect him.
At the same time
I was hoping no one would get hurt.
I respect him,
like every ordinary person.
He is a person,
his Putin is a fantasy.
A rather funny fantasy at the time.
You are an ordinary person,
you tell me your fantasy,
I don’t get mad at you.
You think a poet
has to tell you what’s true.
On the contrary,
you can say what you feel,
what’s in your heart.
Some say it well,
it gets very moving.
If you take your fantasy
to tell people
what you think is right,
I’d rather have that guy
who wanted to fight.
du glaubst
du musst sagen was richtig sei
deshalb schreibst du
schlechte gedichte
niemand muss sagen was stimmt oder nicht
wenn du das gefühl hast
kannst du schreiben wie absurd der krieg sei
wie hilflos die leute
du kannst schreiben was du spürst
du kannst nicht schreiben
was irgendwer denken soll
gestern hab ich einem freund
eine geschichte erzählt
im jahr 2000, vor über 20 jahren
war ich in xinjiang unterwegs,
nicht weit von pakistan
hab in kashgar übernachtet
im hotel in der lobby
hat auf einmal einer geschrien
wer will mit mir raufen?
in mehreren sprachen
auch auf chinesisch
ein grosser kerl,
wahrscheinlich betrunken
nicht schlecht im raufen,
ein paar habens versucht
ich hab mit ihm geredet,
vielleicht hab ich gesagt,
trinken wir was zusammen
er hat sich hingesetzt und erzählt,
er sei ein händler aus kasachstan,
er lebe schon viele jahre auf reisen,
kaufen und verkaufen
in seiner familie spreche er russisch
putin war damals erst grad an der macht
der raufende händler
war sehr für putin
putin werde die sowjetunion wiederherstellen
wir sind gesessen und haben geredet
manchmal ist er noch aufgestanden
er hat sehen wollen
ob noch wer bereit war zu raufen
es hat länger gedauert
es war ein prozess
ich hab das gefühl
er war sehr direkt
ich kann ihn respektieren
gleichzeitig hoff ich
dass niemand verletzt war
ich respektier ihn
ich respektier alle gewöhnlichen leute
hoffentlich
er ist ein mensch
sein putin ist seine vorstellung
damals eine eher lustige vorstellung
du bist ein gewöhnlicher mensch
du erzählst mir was du dir vorstellst
ich reg mich nicht auf
du glaubst ein dichter
muss sagen was richtig sei
ich mein im gegenteil
du kannst von deinen gefühlen erzählen
was du auf dem herzen hast
manche können das sehr bewegend
wenn du deine vorstellung nimmst
und allen sagst was stimmt oder nicht
dann hab ich noch lieber
den raufenden händler
MW auf Chinesisch am 5. April,
auf Deutsch am 6. April 2022
A very long table.
One lone guy
sits at one end.
He’s dead.
Maybe this is the last thing recorded.
Maybe all other records are lost.
Hard to say
who is going to watch it.
MW 30/3/22
AUFZEICHNUNG
Ein sehr langer Tisch.
Ein einsamer Kerl
sitzt an einem Ende.
Er ist tot.
Vielleicht ist das die letzte Aufzeichnung.
Vielleicht sind alle anderen verloren gegangen.
Schwer zu sagen
wer sie anschauen wird.
MW Chinesisch 29. März 2022, deutsche Fassung 5. April 2022
GEDICHTE SCHREIBEN
Gedichte schreiben ist keine Schule,
es ist ein Spiel für zwischendrin.
Schreiben ist nicht etwas begründen,
Gedichte sind grundlos.
Manche haben Regeln,
Regeln des Klanges,
eine Stimmung für die Musik.
Klang und Bedeutung sind nicht zu trennen.
Im Kern des Gedichts steckt dein Gefühl.
Dein Gefühl, wenn dus schreibst,
dein Gefühl, wenn dus liest.
Dein heimlicher Spaß außer der Schule,
deine diebische Freiheit.
MW Chinesisch März 2022, deutsche Fassung 5. April 2022
Gestern hier in der Klasse
hat jemand gesagt,
Gedichte Schreiben sei grundlos.
Heute werden wir diskutieren
warum diese Annahme
völlig grundlos ist.
Werfen wir einen Blick
auf das Buch der Lieder,
aufgezeichnet um 500 vor unserer Zeitrechnung.
Darin sieht man ganz deutlich
den Stand der Gesellschaft,
die Situation der Zentralebene.
Schauen wir noch
auf andere Kulturen,
zum Beispiel sumerische
oder ägyptische alte Gedichte,
die sind von Gesellschaft und Religion
überhaupt nicht zu trennen!
Ich glaub hier in der Klasse
hat noch jemand gesagt,
durch dreitausend Jahre
seien im Buch der Lieder
die Liebesgeschichten
immer am beliebtesten gewesen!
Das sei ähnlich wie mit dem Hohelied
in der hebräischen Bibel!
Liebesgeschichten
als Liebesgeschichten
sind völlig grundlos!
Gut, Schluss für heute,
morgen schreiben wir Prüfung,
ihr müsst euch gut vorbereiten!
MW Chinesisch März 2022, deutsche Fassung 7. April 2022
Hoffentlich hat jeder gern keinen Krieg,
hoffentlich hat jeder gern keinen Streit.
Ich muss nicht unbedingt sehr viel schreiben.
Deutsch zwei Gedichte, Englisch zwei Texte,
noch ein paar Chinesisch ist schon genug.
Manche Wut muss ich nicht wieder herzeigen.
what did we have ten years ago?
what did not have ten years ago?
we had everything
we must have lacked something
where did we screw up?
where did we succeed?
some things I know
some things I don’t know
it was yesterday
it was long ago
world day of snot
world day of coughing
world day of short breath
world day of exhaustion
world day of pain
world day of forgetting
world day
of spring
or fall
Obwohl ich nichts höre,
möcht ich manchmal
in stiller Nacht
weil ich allein bin
und auch weil
ich fürchte, dass Gott
mich vergisst
in der leeren Wohnung
ein paar Geräusche
machen.
Zum Beispiel Stampfen und Trippeln,
zum Beispiel erfundenes Summen im Ohr,
Geräusche von Knochen, von Eisen mit Funken,
von Körpern, die sich reiben im Bett.
Du Sishang AM DRITTEN NEUJAHRSTAG REZITIERT MEINE MUTTER DIE ZEHN GEBOTE
Viele Jahre war der zweite Tag im Mondjahr der fröhliche Tag im Haus vom Onkel. Heute ist von der Generation nur meine Mutter noch da. Die Jüngeren sind auch vom Leben enttäuscht. Dieses Jahr am dritten Tag kommen der jüngere Cousin vom Onkel her und der ältere von der Tante her zu meiner Mutter. Wir spielen und trinken wie früher, reden von Politik und Gesellschaft im Land in Sorgen, im Streit. Die 89jährige Mutter sagt plötzlich auswendig die Zehn Gebote aus der Bibel. An der Tafel wirds ganz still. In der kalten sinkenden Sonne spür ich auf einmal ein anderes Licht.
Meihua Yi EINSIEDLER AUFGESUCHT, NICHT ANGETROFFEN
Wir gehen in die Berge, Hundertjährigen-Suche.
Ein alter Mann sitzt vor der Tür
beim Körbeflechten.
Wir fragen ihn nach seinem Alter.
Der alte Mann sagt, 97.
Als er erfährt, warum wir kommen,
sagt er, ihr seid ein bisschen zu spät.
Seit ein paar Tagen gibts keinen mehr.
Kommt in drei Jahren,
vielleicht könnt ihr dann einen sehen.
Der alte Mönch
trägt seine Schale
kommt heraus
stellt den Reis
vor einen streunenden Hund
beugt sich hinunter
hebt ein Blatt auf
nimmt den Hundekot mit
und geht.
2021-12-28, Shanghai
Übersetzt von MW im Januar 2022
Li Yan BIN BIS HEUTE KEIN MÖNCH UND HABS NICHT BEREUT
Als ich 36 war,
wollte meine Mutter, dass ich ein Mönch werde.
Ich hab Frau und Kind nicht verlassen können
und hab der Alten den Wunsch nicht erfüllt.
Ich hab auch gar keinen Antrieb gehabt.
Für Mutter wär es das Höchste gewesen.
Sie war damals 58
und grad vom Qigong des Dorfes der Schwebenden Kraniche
zum Buddhismus gekommen.
Den ganzen Tag hat sie die Hühner aufgescheucht
und erklärt,
sie wird gehen und Nonne werden.
Offering to our ancestors, killing a chicken –
mother is a vegetarian,
doesn’t want to take life.
Father picks up the kitchen knife with his right hand,
he knows how to bleed out an animal.
His left hand never leaves his pocket.
“My left hand has turned prayer beads all my life,
can’t stand to see blood.”
Kinder möchten sich kümmern, dann ist niemand mehr da, heißt es bei Konfuzius.
Mama, nach so vielen Jahren,
können wir uns endlich versöhnen,
einander lieb haben.
Mit 40 Mutterliebe genießen ist auch nicht zu spät.
Draußen kracht es, schon wieder Neujahr.
Lass uns aus dem Haus gehen,
lass uns umherstreifen,
umherstreifen und nah beisammen bleiben,
verbunden in Leben und Tod.
Mama, ich hab schon Angst, Du gehst fort, eines Tages.
Du bist der einzige Mensch auf der Welt,
der weiß, wie ich empfangen worden,
wie ich auf die Welt gekommen bin,
die ersten schlimmen Sachen überlebt hab.
Heute, Mama,
seh ich in der Früh, wie Du aufwachst,
am Abend ess ich was du kochst, obwohls nicht gut schmeckt.
Du stellst meine Unterhosen aus am Balkon,
die sammle ich sonst die ganze Woche
und wasch sie am Sonntag.
Aber Du findest sie immer früher
in einem Eck von meinem Bett.
Dann wäscht Du sie mit der schmutzigen Jacke,
die ich ein paar Monate angehabt hab.
Ich kauf Dir einen Buddha mit dickem Bauch,
er bringt Dir vielleicht ein friedliches Herz.
Ich kauf Dir Mittel für Herz und Kopf,
dann kannst Du besser schlafen als früher.
Ich kauf Dir mit Melanzani gefülltes Huhn,
und zwei lebende Hasen, um die kannst Du Dich sorgen.
Ich kauf Dir einen kleinen modischen Spiegel,
Du entdeckst mit ihm drei kleine Wimmerl am Mund.
Sehr oft keifst Du noch unerbittlich,
aber Mama, ich bin schon zufrieden.
Weil Du jetzt froh sein kannst,
zauber ich auf einmal drei Weihrauchschalen herbei,
für die Guanyin mit tausend Augen und Armen,
die einzige Göttin, die Du gut kennst.
Ich will, dass Deine Wünsche weit aufsteigen können.
Ich will, dass Du merkst,
Glück ist, wenn Leute zusammenhalten
ohne Fremdheit dazwischen.
Ich bring Dich ins Gasthaus, ins Restaurant,
Du kriegst jeden Tee, isst nur, was Dich freut.
Mama, wir haben die dreifache Sichuan-Suppe gelöffelt,
was kann uns noch fehlen?
5 years ago
the world was different.
The sky was open
in front of our windows.
All these houses had not been built.
You could look east
and see the sun rise
right from the railways.
Actually I don’t mind the houses,
I don’t mind the bridge,
I don’t mind the garbage disposal,
although I liked the trees and the weeds
and the wild roses that were there before.
Our house is new, too.
There are still rabbits or even hares
behind and between.
The world has moved on
in terrible ways.
For us in Vienna
here in this house,
here in this quarter,
we can feel privileged.
First of four Sundays
before Christmas.
So today we light the first candle.
People do it for Chanukah, too.
It’s Thanksgiving weekend.
Take care now, y’all.
Ein paar hundert Fische, vom Markt
zum Qingshui geführt, freigelassen.
Aber davor müssen sie sich eine halbe Stunde lang Sutras anhören.
Aus Plastiksäcken (mit Wasser und Sauerstoff),
in den Fluss gekippt,
da sind die Fische noch etwas betäubt.
Viele wollen nicht gleich in die Mitte,
verstecken sich am Rand in den Algen,
werden im Netz an der Stange gefangen.
Dieser Fischer der freigelassenen Fische,
ich glaub, den nennen sie Schwarzkind.
Schwarzkind, wenn der sonst einen Fisch fängt,
grinst er den halben tag lang vor Freude.
Jetzt hat grad vier, fünf gefangen,
nur sein Gesicht bleibt unbewegt.
Von flussabwärts läuft eine Frau,
bleibt stehen und sagt, er sei genial!
wie könne er wissen,
wohin genau die Fische schwimmen?
Er steht da und hält den Mund,
sein Gesicht bleibt unbewegt.
Ein Vogel fliegt dem Großen Buddha
vorm Gesicht hin und her,
stellt sich sogar auf Sein großes Ohr,
auf die Schultern und auf den Kopf.
Der Große Buddha lächelt,
er glaubt nicht, dass er von Vogelkot
überall auf den Wangen
an Gesicht verliert.
Ein Brautpaar,
die Trauung ist vorbei,
das Bankett beginnt.
Gedämpfter Fisch, gebackene Schenkel,
Freilufthähnchen, Feuertopf-Fleischstreifen, Schinken mit Pinienblüten…
Ich nehm ein Stück Fisch,
stopfs in den Mund,
schmeckt nicht schlecht, nur nicht wie Fisch.
Schenkel, auch nicht wie Schweineschenkel.
Mein Nachbar sieht meinen Gesichtsausdruck,
er sagt mir, die ganze Tafel
ist vegetarisch.
Oh, der Bräutigam
kommt aus einer religiösen Familie.
Aber ich nicht,
wir alle hier nicht.
Also warum
sollen wir vegetarisch essen?
und wenn schon
warum wird es so zubereitet
dass es Fleisch oder Fisch ist?
Wenn ich es esse,
denk ich da nicht mit jedem Bissen
an getöte Tiere?
Mönche in blauen Kutten,
einer hebt seine Kutte an
und geht sehr schnell.
Hab noch nie so eilige Mönche gesehen,
deshalb starr ich ihn an.
Er spürt meinen Blick,
grüßt mich,
sagt, kommen Sie.
Ich schau mich weiter um,
in einer grossen Halle dann
schlägt dieser Mönch einen Gong.
Ich knie auf den Polster, leg meinen Rucksack ab,
er sagt, Tasche vorn im Auge behalten,
damit’s keiner wegnimmt.
Ein Mensch fragt,
“Existiert Buddha?”
Der Meister sagt, “Ja!”
Ein anderer fragt, “exisiert Buddha?”
Meister Zongxian: “Nein!”
Der dritte fragt,
“Existiert Buddha?”
Meister Zongxian
bleibt stumm wie ein Fisch.
Der erste, der fragt
ist ein Buddhist.
Der zweite
ist ein Atheist.
Der dritte
ist natürlich Beamter.
Er möchte, dass Buddha
seinen Hut mitbeschützt.
Auf einmal wisch ich auf eine Nachricht: Laos!
“am 29. 08. in Luang Prabang,
vier neue einheimische Infizierte. ”
Das sind Untertitel, im Bild: ein Mönch
legt Feuerholz nach. Der Sender der Nachricht
kommentiert auf Chinesisch:
“In den Tempeln werden nicht nur
mehr Verstorbene eingeäschert,
die Mönche und Nonnen kümmern sich um Waisenkinder,
sie helfen den Laien bei allen möglichen Sorgen.”
Ich erinnere mich an ein anderes Bild,
das hab ich in Luang Prabang
vor drei Jahren und acht Monaten selbst aufgenommen.
Es hat sich auch in mein Gedächtnis eingebrannt,
als etwas Heilsames:
Sechs junge Brüder in roten Roben,
ein schwarzer Hund, ein fremdes Mädchen in Dunkelblau
scharen sich um ein tanzendes Feuer.
Außerhalb dieses Rahmens sind noch im Bild dabei
ein Haufen Chinesen, das sind wir Dichter von NPC,
wir bringen Poesie. Heuer im Frühling aus China
sind Ärzte gekommen, mit Medikamenten, Masken und Impfungen.
1. September 2021
Übersetzt von MW am 3. Oktober 2021
Beim Wenchuan-Erdbeben 2008
wurde die Frauen- und Geburtsklinik von Shifang gefährlich beschädigt.
Die vielen Frauen hat man nebenan in den Tempel der Arhats gebracht,
108 Kinder kamen sicher zur Welt.
Meister Suquan ließ zwei Altäre aneinanderstellen,
als Operationstisch und Krankenbett.
Im Tempel wurden sogar Hühner geschlachtet,
für schwangere Frauen.
Nach den Regeln
waren Frauen verboten,
Blut war verboten,
Fleisch war verboten.
Ich sitz in der Sonne,
beim Lesen im Diamant-Sutra.
Eine Fliege kommt geflogen,
landet auf einem Sessel,
nach einer Weile
fliegt sie mir auf die Schulter,
am Ende springt sie
auf das funkelnde
Buch.
Zhagana im Juni ganz in der Früh
6 Grad plus.
Ich zittre leicht
im Sommerkleid,
betrete den Tempel.
Die Lamas sind beim Morgenprogramm,
leiser Gesang im kalten Dunst.
Ein fünfjähriger Lama zieht die ganze Zeit die Nase auf.
Ich setz mich hin,
fang mit meinem heutigen Herzsutra an:
“Nicht so kalt!
nicht so kalt!
nicht so kalt!”
Fenstertag,
heute war Schule,
jedenfalls in Leos Schule.
Nächstes Schuljahr
gibt’s nicht mehr,
die Bildungsdirektion
der Stadt Wien,
der Stadtschulrat,
sagt, es gibt kein Geld
vom Ministerium,
um denen, die es brauchen,
noch Schule zu geben.
Das betrifft uns.
Und noch ein paar Eltern
und Kinder, Jugendliche.
Und Friederike Mayröcker
ist gestorben.
Und heute ist 4. Juni,
Gedenktag für 1989 in China,
nur nicht offiziell halt.
Offiziell hat der junge Oberdissident
von Belarus
alles zugegeben,
im Fernsehen.
Meine Uroma
hat sechs Kinder geboren.
Bei jedem hat sie im Tempel
100 Teigtaschen geopfert,
für die Kinder gebetet,
langes Leben, Gesundheit.
Uroma war Pächterin,
Getreide war knapp,
die Teigtaschen waren
in Daumengröße.
Den Gottheiten waren
die Teigtaschen vielleicht zu klein.
Von den Kindern
ist eines 18 geworden,
das kleinste nur 6,
sie sind alle gestorben,
nur eines von ihnen
ist alt geworden,
meine Oma.
Every time I wash myself, I always pick up the comb and face the mirror, wanting to comb – all this hair I shaved off completely, working at home, cleaned off three hundred or thirty strains of pain, as the Buddha says.
He really doesn’t know anymore how to say it, the comb cannot abandon the head,
or the other way round.
Frau, Anfang 40, kriegt Krebs und stirbt. „Sie war wirklich ein guter Mensch, macht Sauerkraut für die ganze Anlage. Sogar der alte Wächter am Tor hat geweint.“ Nachbarn seufzen, „Gute Menschen haben kein langes Leben.“ Jemand, der eigentlich nicht religiös ist, sagt etwas gewunden, gute Menschen, die kommen zuerst ins Paradies des Buddha im Westen und habens dort besser.
Die koreanische Kirche
lässt einen nicht rauchen,
lässt einen nicht trinken.
Am Samstag kommt aus China
ein gut geeichter Herr.
Ich hab ihn bewirtet.
Am nächsten Tag zu Mittag
gehts in die Kirche zum Gottesdienst.
Ich komm rein, sing mit dem Chor,
der Lobpreis klingt wie Trauermusik,
ich fang an zu schnarchen.
Die Leute in meiner Bank
rütteln mich hin und her,
kriegen mich nicht wach.
Es geht nicht anders,
der Pfarrer kommt selbst vom Altar
bis an meine Seite
und schreit,
Herr Hong,
Station Paradies!
Ich blinzle ein bisschen,
frag den Herrn Pfarrer,
wieso seh ich dann Jesus nicht,
leg meinen Kopf auf die Schulter
der schönen Christin rechts neben mir
und schnarch weiter.
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
NPC stands for New Poetry Canon, or New Century Poetry Canon 新世纪诗典, presented by Yi Sha 伊沙 in Chinese social media each day since spring 2011. NPC outside of poetry is National People’s Congress, China’s parliament that convenes in the Great Hall of the People in Beijing for two weeks each March. Yi Sha’s NPC poem of the day on Sina Weibo 新浪微博, Tencent WeChat 微信 and other platforms gets clicked, forwarded, commented 10,000 times or more, each day. Each year a book comes out, about every week there are events in Xi’an, Beijing and many, many places all over China and beyond. All produced independently from among the people 民间, not by any state organizations. This book contains poems by 81 poets listed below. This is the first volume (A-J) in a series of four books. Compiled and edited by Juliane Adler and Martin Winter, translated by Martin Winter.
NPC steht für New Poetry Canon, eigentlich New Century Poetry Canon, 新世纪诗典. Abgekürzt als NPC. NPC steht sonst für National People’s Congress, also der Nationale Volkskongress, Chinas Parlament, das allerdings nur einmal im Jahr im März zwei Wochen lang zusammentritt. Seit 2011 wird von Yi Sha 伊沙 im NPC-新世纪诗典 jeden Tag ein Gedicht vorgestellt, in mehreren chinesischen sozialen Medien zugleich. Oft wird ein einziges Gedicht schon in den ersten zwei Tagen zehntausende Male angeklickt, kommentiert und weitergeleitet. Ein nationaler Poesiekongress und eine umfangreiche Studie der heutigen Gesellschaft. Band 1 präsentiert 81 Autorinnen und Autoren. Wird fortgesetzt.
Cover/Umschlag etc: Neue Arche von Kuang Biao 邝飚 und 3 Grafiken von: An Qi 安琪
Autorinnen und Autoren:
A Ti 阿嚏, A Wen 阿文, A Wu 阿吾, A Yu 阿煜, AAA (3A) 三个A, Ai Hao 艾蒿, Ai Mi 艾米, An Qi 安琪, Ao Yuntao 敖运涛, Bai Diu 摆丢, Bai Li 白立, Bei Dao 北岛, Bei Lang 北浪, Benben S. K. 笨笨. S. K, Cai Xiyin 蔡喜印, Caiwong Namjack 才旺南杰, Caomu Xin 草木心, Cha Wenjin 查文瑾, Chang Yuchun 常遇春, Chao Hui 朝晖, Che Qianzi 车前子, Chen Moshi 陈默实, Chen Yanqiang 陈衍强, Chen Yulun 陈玉伦, Chen Yunfeng 陈云峰, Cheng Bei 成倍, Cheng Tao 程涛, Chun Sue 春树, Cong Rong 从容, Da Duo 大朵, Da You 大友, Dai Guanglei 代光磊, Dechen Pakme 德乾恒美, Denis Mair 梅丹理, Di Guanglong 第广龙, Dong Yue 东岳, Du Qin 独禽, Du Sishang 杜思尚, Du Zhongmin 杜中民, Duo Er 朵儿, Eryue Lan 二月蓝, Ezher 艾孜哈尔, Fa Xing 发星, Fei Qin 秦菲, Feng Xuan 冯谖, Gang Jumu 冈居木, Gao Ge 高歌, Geng Zhankun 耿占坤, Gong Zhijian 龚志坚, Gongzi Qin 公子琹, Gu Juxiu 谷驹休, Guangtou 光头, Gui Shi 鬼石, Hai An 海岸, Hai Jing 海菁, Hai Qing 海青, Han Dong 韩东, Han Jingyuan 韩敬源, Han Yongheng 韩永恒, Hong Junzhi 洪君植, Hou Ma 侯马,Houhou Jing 后后井, Hu Bo 胡泊, Hu Zanhui 胡赞辉, Huang Hai 黄海, Huang Kaibing 黄开兵, Huang Lihai 黃禮孩, Huang Xiang 黄翔, Hung Hung 鴻鴻, Huzi 虎子, Ji Yanfeng 纪彦峰, Jian Tianping 簡天平, Jiang Caiyun 蒋彩云, Jiang Erman 姜二嫚, Jiang Rui 江睿, Jiang Tao 蔣濤, Jiang Xinhe 姜馨贺, Jiang Xuefeng 蔣雪峰, Jianghu Hai 江湖海, Jin Shan 金山, Jun Er 君儿
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
Die chinesischen Gedichte sind hauptsächlich erschienen in:
NPC 新世纪诗典 1-6,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), Zhejiang People‘s Publishing 浙江人民出版社, Bände 1-6, herausgegeben von Yi Sha. Hangzhou 2012-2018
NPC 新世纪诗典 7,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), China Youth Publishing 中国青年出版社, Band 7, herausgegeben von Yi Sha. Beijing 2018
NPC 新世纪诗典 8,伊沙 编选 著,磨铁图书 (Xiron), China Friendship Publishing 中国友谊出版公司, Band 8, herausgegeben von Yi Sha. Beijing 2020
Die restlichen Texte stammen aus Internetquellen (Soziale Medien: Sina Weibo, Tencent Weixin etc.) mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren. Die Texte aus 2019 und 2020-2021 werden in den Büchern NPC 9 und 10 erscheinen.
BRETT VOLLER NÄGEL 布满钉子的木板 NPC-Anthologie 新世纪诗典 Band 1: A–J
In einer Idee ein Held, in einer Idee ein Verräter.
In einer Idee lebt der Vater, die Mutter gestorben, in einer Idee.
In einer Idee, das leere Blau.
In einer Idee, der Himmel ist nicht leer.
In einer Idee kommt der Mond, die Sonne sinkt in einer Idee.
In einer Idee die Ehefrau, in einer Idee die Geliebte.
Der Tempel in einer Idee.
Der Massagesalon.
So bevorzugt von oben,
was kann da noch werden?
[In einem Kreis aus weißen Blüten in grauer Asche auf der Straße steht eine kleine Metalltonne. Darin werden Zettel verbrannt. Eine Menschenmenge sitzt auf der Straße und skandiert.]
Nieder mit der Militärdiktatur!
Protest! Protest!
Streik! Streik!
Revolution!
Die Revolution wird siegen!
Gerechtigkeit und Freiheit müssen gewinnen,
in unserem Land, in unserer Nation.
Wir sehen, wie sie unsere Nationalhymne auf die Guillotine zerren.
Ihre Ansage, die Zeit der Sandalen sei zu Ende,
kommt in die Öffentlichkeit
wie ein gebrauchtes Kondom aus einem Bordell.
Wütend wie das Feuer der Hölle,
schreit der Oger Alawaka Drohungen
und zeigt seine schrecklichen Krallen!
Aber er wird auf seiner Brust liegen,
zu Füßen von Dharma und Sila.
Das ist der Weg der Wahrheit.
Weil sie ihre Würde als Menschen
nicht gegen eine Mundvoll Reis eintauschen,
haben sie Widerstand geleistet, haben ausgehalten,
sind zusammengefallen und umgefallen.
Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen!
Die neue Nationalhymne kommt als Death-Metal-Version heraus. Kondomfirmen nehmen keine Kundenanrufe mehr entgegen.
Möge ich verlieren, möge die Wahrheit siegen!
Möge ich verlieren, möge die Wahrheit siegen!
Möge ich verlieren, möge die Wahrheit siegen!
Wenn die Bastarde verlieren und um Gnade flehen,
indem sie unsere Eier umfassen,
werden wir ihnen ins Gesicht pissen.
Wir schlagen nicht auf Töpfe und Pfannen,
weil es lustig ist.
Wir haben keine Waffen.
Wir haben höchstens Töpfe und Pfannen.
Wir haben keine Macht.
Wir haben nur Töpfe und Pfannen.
Haut auf die Töpfe! Schlagt die Pfannen!
Haut drauf! Haut drauf! Das ist unsere Revolution!
Haut drauf! Haut drauf! Das ist der Weg zu unserem Ziel!
Haut drauf! Haut drauf!
Haut drauf! Haut drauf!
Eines Tages werde ich Sternen-Bumen streuen, auf das Grab meiner kleinen Schwester.
Diesen Sommer können wir die Hunde nicht wieder tollwütig werden lassen.
Diesen Sommer wird jede Blume knospen und wundervoll aufgehen.
Diesen Sommer werden die Fahnen des Volkes im Wind flattern und triumphieren.
In meiner Jugend gab es nur einen Min Ko Naing.
Jetzt ist jeder junge Mensch Min Ko Naing.
Schützt alle Min Ko Naings!
Schart euch um alle Min Ko Naings!
Jedesmal, wenn ein schlechter Samen auf einer Bühne aufgeht,
versinkt die ganze Welt im Chaos.
Sie wird krank, ihr Körper brennt vor Hass.
Ich bin krank und nehme eine zehn Jahre alte bittere Medizin.
Aber ich bleibe krank. Im Leben in dieser Welt werden wir alle krank.
Wir können uns nur selbst kurieren, haben keine Zeit, angefressen zu sein. Wenn wir am Esstisch Platz nehmen, schwärmen die Heuschrecken wieder herein.
Wie kannst du arbeiten gehen, wenn alle protestieren?
Wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?
Wirst du ok sein, wenn sie auf deine Familie spucken?
Kannst du glücklich sein, wenn deine Kinder die Stiefel von Min Aung Hlaing lecken, während seine eigenen Kinder stinken vor Geld?
Kannst du sagen, “gut gemacht”, wenn deine Enkel kaum überleben, während Min Aung Hlaings Enkelin im Ausland studiert?
Kannst du in Frieden zur Arbeit gehen, wenn dich die Unterdrücker mit ihren Gewehren wie eine Kuh behandeln?
Kannst du froh ins Büro gehen?
Kannst du froh ins Büro gehen?
Jeden Morgen, wenn Papa und Mama zur Arbeit gehen,
schämen wir uns, meine Schwester und ich.
Wir möchten nicht für unsere Zukunft fürchten.
Papa, bleib daheim. Mama, geh nicht ins Büro.
Bleibt zuhause für unser Land und für uns.
Lasst uns euch danken, dass ihr uns aufgezogen habt, indem wir uns den Protesten anschließen.
Lasst uns den Garten unserer Zukunft bestellen.
Zu viele Blätter sind zu früh abgefallen!
Wir werden eure Barbarei im Namen der Wahrheit zerstreuen!
Die Blumen des Winters werden auf euch losgehen,
die Wasser des Monsuns werden euch ertränken.
Für eine gerechte Sache opfern wir unser Blut!
Wir lassen niemanden unseren Frühling wegnehmen, nicht einen Fingerbreit.
Ich war eingeladen zum UNESCO-Poesiefestival,
sollte online rezitieren, zur Feier des Welttags der Poesie.
Ich habe abgesagt.
Ich habe geschrieben,
Russland ist doch euer größer Sponsor, nicht wahr?
Meine Antwort auf eure Anfrage
entspricht den Gefühlen der Menschen in Myanmar.
Also scheint es so zu sein,
dass ich an der Revolution des Frühlings teilnehme,
nicht indem ich Gedichte lese,
sondern indem ich ablehne, zu lesen.
Seltsame Sache!
Mögen allen Arbeitsscheuen
ihre Verdienste vermehrt werden,
mögen ihre Gebete in Erfüllung gehen!
Mögen alle, die streiken,
reinen Herzens sein und von allen geliebt werden.
Mögen alle, die daheim bleiben,
von Geistern und Menschen gesegnet werden,
mögen alle, die diesen Boykott mittragen,
die Kraft finden, weiterzumachen!
Der Klang des Marsches unserer Herzen fließt bis in unsere Fingerspitzen!
Der Golf-Taifun ist weder hineingekommen noch weggegangen.
Ihr sollt wissen, wir sind Geister.
Wir sind schon gestorben.
Wenn wir heute wieder sterben,
werden wir euch für immer heimsuchen.
Wir sind Geister, wir sind schon tot!
Heute suche ich den ganzen Tag im Fernseher
und bekomme keine Sender herein.
Wegen der Störgeräusche
klopfen die Nachbarn an meine Tür.
Bratet das Schwein in seinem eigenen Fett!
Bratet die Tür darin!
Der Schweinekerl, den du gesehen hast,
versteckt sich vor der Guillotine!
Du magst davon gehört haben oder nicht,
aber das ist keine akzeptable Entschuldigung.
Weil wir nicht zurück können in die Vergangenheit,
haben die Kinder, die wir nicht bekommen haben,
Waffen ergriffen zu einer Zeit, in der wir nicht leben.
Sie sind gegen Befehle von oben aufgestanden.
Sie haben ihren Sklavengeist
in einen Salzsack gesteckt
und im Fluss ausgelassen.
Gedankenfetzen von Millionen
vereinen sich in einem zitternden
und doch festen Faden.
Ich bin Ma Seint Htet, der vom Berg herunterfällt.
Ich bin U Ko Ni, der am Flughafen steht,
der vergebliche Besuch von Ibrahim Gambari.
Ein EPC-Elektriker hängt tot von einem Strommast.
Und ein Wanderarbeiter …
Die Räder der Hirne in den Bäumen
drehen sich zusammen
in den Ohren in den Schwertern
in den Wänden.
Die Knöchel eines alten Gewandes
werden terrorisiert
und jeden Tag heimgesucht,
übertrieben, als Strategie.
Die Erde auf meinem Gesicht
ist ein Haufen zerbrochener Knochen.
Fünfzig Jahre in einer Kassette aufbewahrt,
ohne Tonband.
Ein trauriges Lied,
das wir sofort nicht mehr singen dürfen.
Niemand wird uns wieder auseinanderbringen!
Wir sind ein einziger Blutkreislauf geworden!
Mach deine Maske zu deiner Fahne,
mach deinen Facebook-Eintrag
zu deinem Ultimatum!
Wo immer du bist,
dort mach deinen Protest!
Heute halten die Mütter ihre Kinder nicht zurück,
wenn sie hinausgehen und Gerechtigkeit verlangen.
Sie reißen ein Stück von ihrem Longyi ab
und binden es um den Arm jedes Kindes,
damit es geschützt sei vor Kugeln und Patronen
Auf den Straßen der Revolution.
Bewegen sich Heldinnen und Helden
in einem roten Schwall.
Wolken türmen sich auf
und darunter zerfällt der Morgen
in eine Revolution.
Das Heulen eines riesigen Tintenfisches,
der durch die Straße bricht,
hallt noch im Himmel über der Stadt.
Auch wenn ihr unsere Handgelenke durchschneidet,
wie ihr nur wollt,
unsere Fäuste werden nicht aufgeben.
(12 Männer zusammen skandieren) :
Der dämonische Enkel, frisch vom Mönchstum, zischt:
Ein Riss im herausgebackenen Teig, ein Sohn, der das Land zerstört!
Der dämonische Enkel, frisch vom Mönchstum, zischt:
Ein Riss im herausgebackenen Teig, ein Sohn, der das Land zerstört!
Zum Gedenken an den Dichter K Za Win, der gegen den Militärputsch protestierte und am 3. März in Monywa in einer friedlichen Demonstration von Soldaten getötet wurde. Möge er in Frieden ruhen. Dichterinnen und Dichter werden überall in Myanmar verhaftet.
Es folgen die Namen von 32 Dichtern und Dichterinnen in der Reihenfolge ihres Auftretens in dem Video.
Am Abend
beim Terminal für Touristen am Hafen:
Die Fischer, die untertags
aufs Meer gefahren sind,
hören Dhāraṇī-Meditationsmusik
und tanzen wie sonst auf Plätzen die Frauen.
I introduce five children, six to fifteen years old,
to essential oils, each of them
draws a portrait of God
from their imagination.
I say, whatever you think of,
what is God’s aroma?
Put a drop of that oil
on the picture.
A tall skinny kid drips sandalwood fragrance.
He says God is like papa: big and reliable.
A little fat kid drips
raw ginger, fennel, black pepper …
He says God is like a stewed dish.
A sparkling little girl smells
roses, pelargonium, chamomile …
“God is a flower garden, nice scents …
A spectacled boy
drips thyme, tea tree, mānuka honey.
“Just like this, God
smells of leather shoes.”
A child suffering from mild depression
wrinkles her brows, sniffs
at oregano, sometimes called Hitler’s oil.
She whispers in my ear:
“In my dreams I often smell
a corpse, very similar.”
She picks it up without hesitation
to put a drop on her portrait of God.
Eine alte Tibeterin
und ein junges Paar.
auch Tibeter,
im schummrigem Straßenlicht
auf dem Gehsteig,
bücken sich, suchen etwas.
Jemand hebt etwas auf,
gibt es in den Grünstreifen,
So geht das noch drei Mal.
Ich trete näher und sehe,
es sind Raupen, kleine Insekten,
der Regen hat sie von den Pappeln
herunter gespült.
Es wird dunkel,
Kraut zieht in der Schüssel,
die Küche ist still.
Licht kommt auf die Erde, still.
Ein Prophet auf langem Weg, still.
Er sagt mir,
nach dieser Tasse Tee
soll ich Nachtmahl kochen.
At the end of their time, nobody dares to tell a lie.
Good and bad in your body,
going through pain, shouting and crying, tears…
one after the other, passing.
I can be like stones, piled in the dephts of memory,
waiting for true believers to judge me.
Please don’t be too harsh,
I am a person who will be gone.
Translated by MW, November 2020
Mi Zhiping, born in Liaoning in 1985, lives in Norway. She has published a book of essays. Her poems have been published in October, a major literature magazine in China. 《新诗典》小档案:米芷萍:生于1985年,辽宁人。现居北欧挪威。曾出版散文集《与你相逢,总梦繁花一树明》。有诗作发表于《十月》。
Alexander van der Bellen – first speech as president-elect of Austria Photo: Michaela Brucklberger
PLEASE PRAY FOR BIDEN!
Pray for us in Austria,
I wrote in 2016
when it was very close
in our presidential election.
Today the US
have a similar situation.
That guy Hofer was leading
without early voting,
without mail-in ballots.
Van der Bellen will win,
the Greens are winning,
you’ll see, you were sure.
I hardly dared to hope you were right,
that kind of voting was still very new.
I was ashamed
for my country,
and when it was finally clear
I was crazy with joy.
Almost 56%,
that seemed very much.
The nation was divided,
everyone said,
and would stay that way.
How is it today?
There is still a clear majority
for harboring refugees.
Drive out the heartless!
War on the palaces,
peace to the hovels!
Like Georg Büchner said.
Actually in Austria
we have the largest palace
in the city center
and a very friendly guy
residing inside.
Biden is also very friendly
at least,
at least.
MW November 2020
BETET FÜR BIDEN!
Betet für uns in Österreich
hab ich 2016 geschrieben
als es sehr knapp wahr
bei der Präsidentenwahl.
Heute haben die USA
eine sehr ähnliche Situation.
Hofer ist vorne gelegen,
ohne die Wahlkarten,
ohne Briefwahl.
Van der Bellen gewinnt,
die Grünen gewinnen,
wirst sehen, hast du gesagt.
Ich hab es kaum zu hoffen gewagt,
Wahlkarten waren noch relativ neu.
Ich hab mich geschämt
als Österreicher
und als es endlich klar war
hab ich gejubelt,
fast 56 % für van der Bellen.
Das Land sei gespalten,
haben alle gesagt,
das werde so bleiben.
Wie ist es heute?
Eine deutliche Mehrheit
ist weiterhin dafür,
Flüchtlingen zu helfen.
Verjagt die Herzlosen!
Friede den Hütten,
Krieg den Palästen!
Naja, in Österreich
haben wir halt die größten Paläste
im Stadtzentrum
und einen sehr freundlichen Mann
in der Hofburg.
Biden ist
auch sehr, sehr freundlich.
Immerhin.
Immerhin.
A big truck, on the front no Om Mani Padme Hum, instead a painted head of Che Guevara. I lift my phone to take a picture, he pulls Che Guevara down the road like crazy, in a second they have disappeared.
Die Mayflower hat keine
Freiheit des Glaubens gebracht.
Plündern und Totschießen
und der Erfolg war eine Nation.
Ich feiere in diesem Land
in diesem blühendsten
von Grund auf gottlosen
New York
die zehnte Christnacht.
Rockefeller Square,
unter dem weltgrößten Christbaum,
unzählige rote Weihnachtsmützen
treiben und schweben
wie wandelnde Seelen.
Übersetzt von Martin Winter im Oktober 2020
Hong Junzhi, geb. in den 1960er Jahren. Dichter und Übersetzer aus dem Chinesischen ins Koreanische, Verleger, Redakteur in New York. 《新诗典》小档案:洪君植,60后,汉韩双语诗人、翻译家、出版人,居纽约。有著作50余部,现美国《HPW国际诗坛》杂志主编,纽约新世纪出版社社长。
Mutter ist vor einem Jahr dorthin gegangen. In wessen Hof fällt die Blüte, wer weiß. Ich weiß noch, Opa hat wahrsagen können. Er hat gemeint, Mutter hat Glück. Na dann fällt sie sicher zu guten Menschen.
12. August 2020 Übersetzt von MW im September 2020
Frei und befreit ist fast unmöglich unter den Menschen. Frei und befreit, der Friedhof dort, das ist eine Stadt, die ist schön ruhig. Frei und befreit, wenn ich das höre, kommt mir oft vor, es kommt von dort.
Overcast afternoon hot & clingy no wind a poet comes out of the subway gets on his bicycle bag on his back with waterflask right on time appears in the bookstore in the outskirts sits down with a band of readers around a table a female student from a media college does the mc women and children young men smiles on their faces one after the other reads from a yearbook of colloquial poetry other customers passing will probably think a religious circle
So can he be called a missionary don’t be too optimistic to propagate poetry these years is actually harder than spreading the gospel
Ein Regentropfen fällt auf den Scheitel des Daches, fällt auf die Zweige dann zusammen mit anderen in die Erde.
Wasserdampf aus der Arktis und aus dem Pazifik fließt heute nacht in meinen Traum, ins Schnarchen der Eltern, in jeden Traum von reicher Ernte.
Alter Herr im Himmel, Gott, Allah, oder der Drachenkönig schickt rechtzeitig Regen, der wird zu Tränen, vielleicht für über dreihunderttausend Seelen, die heute nacht zum Himmel aufsteigen.
Dieses Seidenraupental wählt eine Seidenfrau. Die Erwählte egal ob sie Fee oder Göttin genannt wird war immer schon nicht sehr weltlich. Sie ist ein schönes und sanftes Mädchen, bekommt gut zu essen und gut zu trinken, aber sie darf nichts mit Burschen haben, sie darf nicht heiraten. Bis sie den Kriterien nicht mehr entspricht, oder bis sie stirbt. Dann wählt man eine andere.
Im Dorf wenn man zurückkommt von einem Grab oder einem Begräbnis muss man vor seinem Hoftor ein Feuer aufschichten, übers Feuer springen und so hineingehen. Alte Leute sagen, so bringt man die Geister nicht zu sich ins Haus. Nach vielen Tagen Quarantäne Komm ich zum ersten Mal von draußen zurück, nehm Schmierpapier vom Kalligraphie-Üben und zünd es beim Haustor an. Meine Frau fragt, was ich mach. Ich sag, der Virusteufel scheut das Feuer. Sie kommt sofort heraus und springt übers Feuer vor und zurück.
Early morning in the horseshoe-shaped forest, finally the flock flies in again. They are in high spirits, talking excitedly. Walking quietly up to the tree, Moses, where is he? They tell me, Moses has waded through the Red Sea, left Egypt already. Tears flow to the tip of my nose.
3/23/20 Translated by MW, June 2020 Hu Bo MOSES
In der Früh im hufeisenförmigen Wald kommt der Schwarm endlich geflogen. Sie reden aufgeregt und diskutieren. Leise geh ich bis vor den Baum. Moses, was ist mit ihm? Sie sagen mir Moses ist schon durchs Rote Meer, hat Ägypten verlassen. Tränen auf meiner Nasenspitze.
23. März 2020 Übersetzt von MW, Juni 2020
Hu Bo, geboren am 19. Juni 1961 in Dalian, aufgewachsen in Tianjin. Lebt in Taida. Volksschüler im Fach Alltagssprache-Poesie seit Mai 1999. 《新诗典》小档案:胡泊, 1961年6月19日生于大连, 天津长大。有诗入选《新诗典》感谢伊沙, 感谢所有帮助我的诗人. 现居泰达, 我是口语诗中小学生从1999年5月开启
Make America dim Make America diminished Make America diminished capacity Make America diminished credibility Make America diminished trust Make America diminished opportunity Make America diminished equality Make America diminished Make America dim Go on
MW 6/3/20
Picture by Wang @oa___aob
ALL SORTS
all sorts of factors and factories all sorts of tractors all sorts of actors all sorts of dorks all kinds of assorted windshield wipers all sorts of snipers maybe some kind ones kind to their weapons and also to people something in all sorts of people when you listen to water, to wind when you feel the sun in the woods when you find something to share bare for the joy when we walk anywhere in paths and trees in cemeteries, in streets and fields sharing ourselves with the light and the night within and around each other amen
MW Pentecost, May 31st, 2020
RUNNING OUT
I am running out of days everyone runs out in the end but don’t worry it’s not that bad world doesn’t stop for everyone at the same time it’s the end of the month the 31st and I promised to finish a book months ago years ago I guess this is the poem I wrote the night before not last night in my head before I went to sleep and then I forgot it
MW Pentecost, May 31st, 2020
RAIN
It is raining the wind is cold last day of May first day of June Pentecost Mostly end of the virus for Austria and around hopefully wish I could be with you wherever you are hope to see you soon take care
Attachment is hard, you want to break free and you can’t. Laughter, then crying, crying, then laughs. Is laughing better? Not as high as the mountain or small as the moon. You are still attached, you want to forget and you can’t. Would be good if you could, good and gone. Gone but not gone? Be good, leave it unfinished? Attachment is ever unfinished. Because you want too much, and receive not enough, you have trouble. Black hair can be cut, trouble cannot. Attachment is understood but not gone, because you don`t want it or cause you don’t dare? You can`t give it up, or don`t get what you want? You have one hundred thousand great peaks, I only want a temple so small you don’t know it is there. You have the ends of the world, I only want ten steps of green grass.
Translated by MW, May 2020
Hong Zhu, orig. name Wang Jun, born in May 1967 in Nanjing, died 3/18/20 in Nanjing. Chief editor of China Federation Literature press. Famous high school poet, many awards.《新诗典》小档案:洪烛(1967年~2020年3月18日),原名王军,生于南京,1979年进入南京梅园中学,1985年保送武汉大学,1989年分配到北京,全国文学少年明星诗人,原中国文联出版社文学编辑室主任。洪烛曾出版有诗集《南方音乐》《你是一张旧照片》《我的西域》《仓央嘉措心史》《仓央嘉措情史》等[2]。洪烛是上世纪八十年代的全国文学少年明星,当时还在读中学的他就在《语文报》、《星星》、《鸭绿江》、《诗刊》、《儿童文学》、《少年文艺》等一系列报刊发表大量诗歌散文,十几次获得《文学报》等全国性征文奖,在全国中学校园赢得一定的知名度。洪烛因病于2020年3月18日在南京去世。
If a river cost only one yuan, if a river was cheaper than one piece of cabbage, think about it, that would be exciting.
Think a little more, maybe no, thank you. Because if there could be such a deal, it would have to mean one of these things: The river can‘t carry any more water, I am the only person on earth, I rule the world, I am God.
Tofu, konjac, cauliflower Whatever edible thing from the fridge chuck it all in into a hotpot, tonight we are making sour soup fish, every meal like it’s our last supper.
Andy Warhol needs beauties Edie needs the drug of love I need to rip alive an old yellow onion peel skinned, separated alive from the next onion peel no-one escapes separation as we love one another through screens wearing masks
Tonight the cat bites off a prayer bead. Master Chin Kung’s “Amitabha“ and Namie’s meows ring together in this apartment, as if to say, this cat must stumble, this cat becomes Buddha.
Jesus, Petrus, Johannes, Magda, Maria und so weiter und so weiter waren Juden. Jeder weiss, was Juden passiert ist. Nicht vor 2000 Jahren. Jeder weiss es. Da gibts nichts zu glauben, oder? Andererseits Gottesdienst feiern beten und singen ist besser als nur Nachrichten hoeren, ob dus glaubst oder nicht. Aber wieder andererseits im Standard steht auf derstandard.at Frau Koestinger will Oesterreich aufmachen. Fuer deutsche Urlauber. Vor einer Woche hat sie noch oeffentliche Gaerten in Wien fest verschlossen gehalten, also bis nach Ostern. Diesselbe Frau. Oh Gott.
gott ist gefoltert und hingerichtet worden und deshalb lebt er
MW Ostern 2020
GLAUBE
Maia fragt Was bedeutet dir dein Glaube Mami sagt Schau nach oben Ein großer Kirschbaum Im Arsenal Unter anderen Bäumen
MW Ostern 2020
WIRKLICHKEIT
In Wirklichkeit ist es immer wie jetzt. Halt nicht auf einmal, doch in der Schwebe, ein bisschen versetzt. In Wirklichkeit ist dein Leben nicht fest, sicher ist gar nichts, egal was wer sagt. In Wirklichkeit bist du Tanz und Musik. Wir sind was sich dreht oder steht und jemanden sucht solang es noch geht.
MW 1. April 2020
HEUTE
Heute ist der wärmste Tag des Jahres bis jetzt. Gestern war Seder, Vollmond. Heute ist Gründonnerstag. In Tschechien haben sie grünes Bier. Heuer auch, irgendwo. Irgendwie tröstlich.
MW April 2020
KARFREITAG
Karfreitag Ka Freitag Überhaupt ka Freitag Sogt die liebe Regierung – die vorige derselbe Chef – Überhaupt ka Freier Tag außer du nimmst Urlaub, oder wie wor des, wennst noch an Job hast.
MW 10. April 2020
GOTT
Gott ist das schönste schwarze Loch für alle Macht des Imperiums
MW Ostern 2020
PALMSONNTAG
Heute ist es sehr schön Heute ist es sehr schön Heute ist es sehr schön Groß ist Gott. Ja.
Heute ist es sehr schön Heute ist es sehr schön Heute ist es sehr schön Groß ist Gott. Ja.
MW April 2020
JEDER TAG
jeder tag ist ein gedicht wenn du zeit hast im moment haben viele leute viel mehr zeit als sonst, wenn auch nicht unbedingt ruhe. haben sie einen moment? ist eine häufige frage im moment haben viele viele millionen in vielen erdteilen etwas gemeinsam. natürlich ist das auch sonst der fall aber normalerweise sagt niemand von dieser situation betroffene aller länder, lasst uns einander helfen, so gut wir nur können, oder was glaubst du?
MW März 2020
ACHTSAMKEIT
Achtsamkeit hat sehr viel mit Neunsamkeit zu tun, das sagen alle großen Neunsamkeitslehrer. Aber die großen Samenbanken, die fangen frühestens ab Zehnsamkeit an, mit Ihnen zu reden.
MW März 2020
AUF DEN WIESEN “Wir sind die Menschen auf den Wiesen” – Ernst Jandl
Jeder Mensch auf der Wiese ist noch am Leben. Alle nur drinnen bleiben ist nur zum Speiben. Masken, ok. Abstand, bitte! Also Bundesgärten aufsperren in Wien, damits Platz gibt. Und bitte keine Leute, die allen sagen, dass picken sollen in ihren Wohnungen.
MW 2. April 2020
NACKT
Nackt in der Straßenbahn ohne Ticket, Kontrollorinnen kommen. Peinlich, keine gute Bedeutung. Aber kein Corona, niemand achtet auf Abstand. Also ein schöner Traum, aber ich wach gleich wieder auf und kann lang nicht schlafen.
MW April 2020
JESUS LEBT
Vor 2000 Jahren ist einer gestorben und war wieder lebendig, zumindest für Freunde. Naja, bei uns sind auch gestern welche gestorben und im Nahen Osten wahrscheinlich auch ein paar. Aber er war ein Sündenbock. Das heißt er ist für sehr viele gestorben und viele tröstet das. Ich bin nicht sicher, er hat nichts verhindert, obwohl er Jude war, oder eher recht wenig verhindert, zumindest. Aber der Mond kommt jedes Jahr wieder. Die Eier, der Frühling. Und Jesus lebt.
This is what I do. Writing. Reading. Translating. Poetry. As much as possible. Stories. Don’t know how much I can make this year, maybe very little, I could run out of money. Anyway. I am privileged. We are privileged, our family. No-one is sick, until now. At least I hope, spoke to my mum yesterday. They are fine, I hope, my sister lives across the street, two or three houses down and across, very close. They are all fine, I hope, the whole extended family. My mother’s brother, they have a little garden, they stay there in summer, maybe they are there now, it’s a warm day, and it’s not far, in Vienna. My cousins, they are at home, in Vienna, my cousin’s daughters, all grown up, like my nephews, my sister’s kids. One’s a doctor, the oldest, not finished yet, but he volunteered, he is helping, at the doors of one hospital, screening people. Overall Austria has been very lucky. Less than 200 dead
in early April,
about one tenth of the rate in Germany, they have been lucky too, until now. We can go out, if we’re careful. Wearing masks in the stores. Leo and I, we ride our bicycles up the hill every day. Maia rides her bike, Jackie stays at home, goes out in the evening. We are goddamn lucky. Easter is coming, I should watch my language. Austria is goddamn lucky. There I go again, sorry. We should share our fair burden with the EU. Not sure we are doing that. Anyway, we are careful, we help each other, hopefully. Some people don’t have enough space in the city, not everyone has an open park right downstairs like we do. Some parks are closed, some should be open, this has been the biggest fight in this little country. That and that province, down in the alps. Up in the alps, I mean. People got infected there in early March, till the middle of March some hotels weren’t closed. Skilifts were running. So we don’t have a good reputation, People got infected in Austria. And the provincial governor refused to speak to foreign media. But we are lucky, people have other problems. Jobs. Parents. Grandparents. Kids. This is what I do, writing. Up on our roof, in the sun. Meeting neighbours, talking. Quite enough room. Singing downstairs, in the corridor outside, with next-door neighbours. Godawful lucky.
In Wirklichkeit ist es immer wie jetzt. Halt nicht auf einmal, doch in der Schwebe, ein bisschen versetzt. In Wirklichkeit ist dein Leben nicht fest, sicher ist gar nichts, egal was wer sagt. In Wirklichkeit bist du Tanz und Musik. Wir sind was sich dreht oder steht und jemanden sucht solang es noch geht.
MW 1. April 2020
CORONA
Actually it’s always like this for many people. You live from one day to the next. Only now it’s a big deal for the whole world for a while.
One poem per day takes nothing away, I want to say. But everything takes time, every drug, every mask, every care. So one poem per day could take away whatever else you would have had. But then you could hear it again, whatever you do, if it was good.
MW March 2020
GRINDING
The world is grinding to a halt. So are we all madly in love? Or have we come to our senses about the climate between each other? About working together? We don’t have a choice. And we don’t have a choice in hoping it will soon be over. And we still let them set our clocks.
MW March 29, 2020
ACHTSAMKEIT
Achtsamkeit hat sehr viel mit Neunsamkeit zu tun, das sagen alle großen Neunsamkeitslehrer. Aber die großen Samenbanken, die fangen frühestens ab Zehnsamkeit an, mit Ihnen zu reden.
In der Früh wenn du noch den Frost spürst und schon die Wärme ist die beste Zeit um das Leben zu spüren.
MW 19. März 2020
JEDER TAG
jeder tag ist ein gedicht wenn du zeit hast im moment haben viele leute viel mehr zeit als sonst, wenn auch nicht unbedingt ruhe. haben sie einen moment? ist eine häufige frage im moment haben viele viele millionen in vielen erdteilen etwas gemeinsam. natürlich ist das auch sonst der fall aber normalerweise sagt niemand von dieser situation betroffene aller länder, lasst uns einander helfen, so gut wir nur können, oder was glaubst du?
every day is a poem if you have time at the moment there are many people who have more time although you still might not have peace and quiet enough. do you have a moment? is an everyday question. at the moment many many millions in many parts of the earth have something in common. actually that was the case long before, but nobody said affected people of all nations, let’s help each other as best as we can or did they? or did we?
vorige woche ist noch einer durchgeturnt so wie wir vorher fast jeden tag durch den motorikpark bevor sie ihn abgesperrt haben ich hab ihn gesehen vielleicht genau vor einer woche am sonntag in der früh heute gibt es wieder virtuellen gottesdienst nehm ich an vielleicht mach ich eh mit wir machen jeden tag ein gedicht im literadio mach mit wenn du willst
MW 22. März 2020
VÖGEL
vögel singen wie früher wieder ein strahlender märztag im vogelleben kommt glaub ich unsere seuche nicht vor vögel haben keine versicherung vogelfrei was hat das bedeutet menschenfrei manche straßen ein paar wochen lang in wien noch nicht wirklich glaub ich menschenfrei wien war judenfrei haben sie verkündet als der himmel frei für die bomben war und vögel singen wie früher und österreich ist frei nicht wahr
MW 23. März 2020
„Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. … Jeder ist in seinen Käfig eingesperrt, jeder an seinem Fenster, bei Nennung seines Namens antwortend und zeigend, worum man ihn fragt – das ist die große Parade der Lebenden und der Toten. … Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen. Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor: kraft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt – bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht. Gegen die Pest, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung. Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten und anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt. Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. Hier geht es nicht um Masken, die man anlegt oder fallen lässt, sondern um den »wahren« Namen, den »wahren” Platz, den »wahren« Körper und die »wahre« Krankheit, die man einem jeden zuweist. Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den »Ansteckungen«, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“
Han Jingyuan I PRAY FOR PEOPLE WHO DIED FROM DISEASE
Whose life is in the cricket I hear? Whose soul is in the cicada who calls from that twig? I walk on the path where you may have walked, I rest on the bed where you may have lain.
August 2013 Translated by MW, March 2020
Han Jingyuan ICH BETE FÜR DIE WEGEN KRANKHEIT VERSTORBENEN
Wessen Leben ist in der zirpenden Grille? Wessen Seele ist in der Zikade dort auf dem Zweig? Auf dem Weg wo ich gehe seid ihr vielleicht gegangen, Auf dem Bett wo ich ruhe seid ihr vielleicht gelegen.
Der Bus fährt durch Beichuan,
durch das von Gipfeln umzingelte Land.
Zu beiden Seiten der Straße
stehen große Steine,
die vor elf Jahren beim großen Erdbeben
herunter gerollt sind.
Mir schaudert.
All die unschuldigen Seelen von damals,
vielleicht sind manche wiedergeboren
als lauter Steine,
die dort für immer wachen.
Aber vielleicht sind auch manche
wiedergeboren
als Leute wie wir,
als Dichter die kommen und schauen
und vorkommen auf NPC.
SALUTIERT DEN VERDÄCHTIGEN!
向那些涉嫌犯罪的人致敬
Aus dem kommenden Buch „Der Jordan fließt durch Chengdu“
選自《約旦河穿過成都》
Von Liao Yiwu
Übersetzt von Martin Winter
Meinem Freund Wang Yi wurde in der Vorweihnachtszeit im Geheimen der Prozess gemacht, dann wurde er vom Mittleren Volksgerichtshof von Chengdu zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Die Behandlung entspricht der für meinen 2017 in der Haft verstorbenen Freund, den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Deshalb veröffentliche ich hier als Protest dagegen einen Ausschnitt aus dem neuen Buch, an dem ich gerade schreibe: „Der Jordan fließt durch Chengdu“.
Erst viele Jahre später, nachdem er sie mir gegeben hat, habe ich endlich Wang Yis Gedichte gelesen. Erst als er und seine Frau Jiang Rong schon verhaftet und der „Anstiftung zum Umsturz“ angeklagt waren. Ich habe selbst in der Nacht des Massakers von 1989 das lange Gedicht „Massaker“ geschrieben und auf Tonband gesprochen. Deswegen war ich vier Jahre im Gefängnis, und als ich herauskam, hatte ich einen Abscheu gegen Dichter in den Knochen. Abgesehen von Höflichkeitsgesten habe ich deshalb nie mehr ernsthaft Werke von Leuten aus meiner Generation gelesen. Wang Yi, der jünger ist als ich, hat mir unzählige Male Gedichte und sogar Gedichtbände geschickt. Manchmal hat er sogar etwas gesagt: „Alter Liao, bitte gib mir doch einen kleinen Kommentar, auch wenn es dir nicht gefällt, streich nur an und verbessere es einfach.“ Ich habe immer den Kopf geschüttelt: „Ich bin nur Musikant, kein Dichter.“ Wang Yi war peinlich berührt, er hat mich angeschaut, und nach einer Weile erst hat er gesagt: „Na dann nicht.“
Im Buddhismus sagt man, was du schuldest, zahlst du irgendwann doch zurück. Wang Yi war jahrelang mein bester Freund, abgesehen von Familie war er mir am nächsten. Wir haben oft geplaudert und sind am Stadtrand spazieren gegangen. Er hat mich gerne eingeladen und war nie geizig. Wenn irgend etwas los war, hat er sofort für mich sein Wort eingelegt, abgesehen von dem Zuspruch, den er mir immer gegeben hat. Aber ich hab das völlig unbewegt einfach als selbstverständlich empfunden – ich hatte ja „Massaker“ geschrieben und war über Nacht zum Helden geworden, obwohl das schon eine Weile her war und mir die Leute mittlerweile auf dem Gehsteig ausgewichen sind wie einem Haufen Hundescheiße. Meine innere Verfassung war auch verändert; wenn ich allein war, hab ich an die Folter und die Erniedrigungen im Gefängnis gedacht und geweint, ich hab mir sogar an die Brust geschlagen. Ich hab mir vorgesagt, du darfst nie wieder verhaftet werden. Ein geprügelter Hund mit gebrochenem Rückgrat. Das Einzige, das mir meine Selbstachtung erhalten hat, war das Schreiben nicht aufzugeben. Ich hatte Angst vor dem Vergessen, also hab ich alles aufgezeichnet über die Menschen, denen ich begegnet war. Aber Wang Yi und auch Yu Jie, die haben mir am meisten geholfen, und ich habe sie fast nie erwähnt.
Außerdem hat Wang Yi wirklich ein großes Talent als Dichter!
In dieser Zeit schreib unbedingt ein verdächtiges Gedicht!
Eine Zeile Chinesisch stürzt eine Regierung.
Ein Sonett mit vierzehn Zeilen stürzt 14 Regierungen.
Auf dem Maskenball lass dich erkennen
von denen, die dich kennen. Die anderen lass dich ja nicht erkennen.
In dieser Zeit schreib ein Gedicht, das dem Führer Angst macht!
Eine Metapher ist eine Atombombe.
Die Sängerin weiß nichts, absurdes Papier, Tränen ums verlorene Land.
In den schlimmsten Tagen kommen die höchsten Wellen.
Der Tod, als Gefangener, festgehalten vom Wasser.
Wer ist kein Angehöriger politischer Gefangener?
Wer ist kein Hinterbliebener wandernder Seelen?
In dieser Zeit sag ein Gedicht auf, das sind zwei, drei Verbrechen.
Wenn du nichts aufsagst, wirst du aufgesagt.
In dieser Zeit führen Blinde Selbstgespräche,
heilig, heilig, heilig. Blinde fragen Taube, hast dus gesehen?
In dieser Zeit schreib ein verdächtiges Gedicht!
Salutiert den Verdächtigen!
Das ist von 2015. Jiang Rong und er waren schon lange getauft, und waren schon alte Bekannte auf Wachstuben und im Polizeikommissariat. Weit entfernt vom Dicken Wang, der mit mir im Drei-Eins-Buchladen auf der Zhazi-Straße herumgesessen und Tee getrunken hat. Das ist ein Heldengedicht, das auf einmal herausspringt aus der anhaltenden allgemeinen Gemeinheit nach dem Massaker vom 4. Juni 1989. Es lässt mich an Filme denken wie Braveheart oder Der letzte Mohikaner. Am Ende von Braveheart wird der Held von den königlichen Soldaten gefesselt aufs Schafott geführt. Ein Priester kommt und fragt ihn, ob er bereut. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, alles ist still, und er brüllt mit letzter Kraft: „Freiheit!“
Der Henker lässt die Axt niedersausen. Wang Yi hat dieser Film sehr gefallen, aber er hat auch vorausgeahnt, dass er selbst um seinen Kopf fürchten muss. Er war zwar Pastor, aber er war eben nicht mehr irgendein Stammgast im Drei-Eins-Buchladen, der sowohl in den Alltag als auch in die Bibliothek und in Gelehrsamkeit eintauchen konnte. Sein guter Freund aus Studentenzeiten, der Schriftsteller Lei Ligang, erinnert sich:
„Damals waren sie ziemlich arm. Einmal waren wir zusammen im Carrefour, und Wang Yis Frau Jiang Rong hat vor den vollen Regalen geseufzt: „Wenn wir nur eines Tages einfach kaufen könnten, was wir gerne essen!“ Das hat mich traurig gemacht, wir haben alle zu den Schwachen gehört, die beim Lebensmittel-Einkaufen genau auf den Preis achten müssen.Damals waren wir vier, also Jiang Rong und Wang Yi und Yuhuan und ich, wir waren jeden zweiten Tag beisammmen, wir haben gegessen und Karten gespielt. Yuhuan und ich, wir waren vom Temperament her die Stärkeren, Wang Yi und Jiang Rong waren viel sanfter und nachgiebiger. Jedesmal haben Yuhuan und ich ausdiskutiert, was und wie gespielt wird; wenn wir uns dann einig waren, haben die anderen gleich zugestimmt. Aber in Wirklichkeit haben die zwei viel schärfer gesehen, was in dieser Welt los ist, das haben sie in den Knochen. Wenn das jemand hat, und dann noch im Leben so sanft sein kann, das muss ich einfach bewundern. Gerade weil ich es selbst nicht kann, habe ich davor immer noch Achtung. Wang Yi ist im selben Jahr geboren wie ich, aber ich habe ihn jahrelang immer wieder als einen viel Älteren empfunden, für den ich Respekt haben muss.
Auch wenn es ihm bestimmt sein mag, aber was hat er durchgemacht, das aus dem sanften Wang Yi, den Lei Ligang beschrieben hat, ein solcher Don Quichotte geworden ist? Was geht da innerlich in ihm vor? Dazu hat er nicht lange nach dem oben zitierten Heldengedicht auch einen wichtigen Text geschrieben:
Wang Yi
GIB MIR EIN PAAR MINUTEN UM TRAURIG ZU SEIN
Gib mir ein paar Minuten, um traurig zu sein.
Soviel ist passiert, das lässt einen ersticken.
Lass mich ein bisschen schwach sein,
im dunklen, abgeschlossenen Zimmer,
wie meine Freunde, die sie abgeführt haben,
in der Nacht abgeführt haben wie Jesus,
durch die Stadt, die böse geworden ist.
Gib mir ein paar Minuten, um traurig zu sein,
ich erwarte die Freude, überraschende Freude.
Unterbrich mich nicht durch Hüsteln,
sag mir nichts weiter, nur ein paar Minuten
lass mein Handy stumm sein, kein Kurier soll an die Tür klopfen.
Ich muss allein sein mit meiner erstickenden Seele,
auch wenn die Welt gerade jetzt einstürzt,
wenn ein wichtiger Mensch gerade jetzt stirbt,
das ist für mich alles als wär nichts geschehen.
Denn ich bin traurig
wie eine Frau mit zerrauften Haaren.
Gib mir ein paar Minuten, um traurig zu sein.
Ich will mich nicht waschen, will mich nicht kämmen,
will nicht herauskommen, will dich nicht sehen.
Dafür, dass der Tränen-Damm bricht
wegen einer unglaublichen Nachricht
gib mir ein paar Minuten, um traurig zu sein.
Damit das Licht noch mehr sticht,
damit ich hunderttausendmal üb
für den Augenblick wenn du zur Tür hereinkommst.
2015-07-11, Rüsttag
Lieber Dicker Wang, ich hab es endlich gelesen, ich hab es angeschaut und werde dafür sorgen, dass es noch mehr Leute lesen und sehen. Du bist im Gefängnis, und ich muss dir einfach ein paar Minuten geben, oder ein paar Jahre, oder noch länger. Ich werde nicht schreien wie früher, und auch nicht einfach verschwinden, wie damals, als ich aus China geflohen bin. Vielleicht muss ich auch einmal richtig bereuen, haha, du weißt, das war nicht ernst gemeint, einen lahmen Hund hebt man nicht auf die Mauer. Lei Ligang kennt dich besser als ich, aber er hat noch viel weniger aufgemuckt […]
All sorts of bands
and flowers and strands
and lines and motifs
lie intertwined
beneath the old church
of Santa Eufemia.
Take a close look,
they are dancing,
the lines and so on.
A big Roman house
with courtyards and tiles
all over the floors.
A dance of the seasons.
They say Summer is missing,
or maybe it’s Spring,
holding Winter’s hand,
like Autumn does
on the other side.
Winter is wrapped in blue,
around the head too.
Crooked lines come out
above the head.
Is it a fool?
They say it’s grass,
maybe reeds.
And there is a shepherd,
the second big mosaic,
also with a pan-flute.
Two storeys above
is the old city.
This city below was the western capital
of the Byzantine empire
among other things.
Then there is Dante,
buried in a mound
overgrown with green leaves
all-year round
in 1944 and 1945,
German hell-hounds were loose.
Maybe one year
his bones were in there,
the shape of the mound
reminded me of an old poetess
in China in Xi’an, formerly Chang’an,
the old capital.
Cai Wenji was her name.
Her mound is much bigger,
and very well kept,
much in contrast to all the graves
of famous male poets.
She was politically very important.
Back in Ravenna
in winter
wrapped against the cold
we move on
to our next monument.
MW December 30, 2019
NEON
Neon reigned in 452.
No, this was the year
they built the mosaics
the wonderful dome
under bishop Neon.
It’s the Orthodox baptistery.
Much more elaborate
than the Arian one
across the old city.
Each apostle is named.
Most have a beard.
Simon looks like a woman.
The Arian dome
has only one throne
and here there are four,
they are all empty too
but there are also four books
in between, the four gospels.
Blessed are those whose iniquities
and sins are remitted,
says one inscription.
MW December 30, 2019
IVORY THRONE
The ivory throne
was for Bishop Maximian,
550 or something.
Joseph and his brothers.
Jesus feeds 5000 people.
The annunciation,
the water test
for Mary’s virginity.
What was that exactly?
Carved panels in different sizes
all around the back and on the sides.
Blank parts in between,
maybe panels are missing.
Ebony covered with ivory.
Somewhere in the museum
with Saint Andrew’s chapel,
wonderful mosaics.
Then in the afternoon
Saint Apollinaire in Classe.
Classe was the harbour
of the Roman fleet
and the main port
until the ninth century.
The church is huge,
and there were more,
there is a museum
in the sugar factory,
closed in 1982.
The sea isn’t far.
MW December 30, 2019
SAN VITALE IN RAVENNA
You know right away
you are in a place of worship.
In this way it’s like the Alhambra.
At least I hope the Alhambra retains it,
haven’t been there for 38 years.
A sense of awe
and exultation,
no matter how many people,
how many tourists.
Very big, very grand, spacious.
Filigree columns, needlework stone.
Very very high, many arches.
Mosaics.
Some of the best ones
in this splendid city.
A sacred place.
Stay.
The whole city is sacred.
Drink,
try to retain
some of this beauty.
The heartbreaking thing
about Star Wars
is when the rebels
have won
and survived
or at least most of them
or some of them
or at least some that you like
and you’re all happy
and you go home
and it really was a good ending
and you go to bed
and the next day
there is your life.
Has the universe changed
since the 1970s of our era?
Or since Jesus Christ
turned bread into fish?
Come on, give the Baby a break,
it is Christmas.
There will be life
and there will be movies.
There’ll be things to fight for,
and evil overlords.
And something beyond.
And some new toy
maybe made out of trash
will ask a companion
how am I alive –
and will hear –
I don’t know.
Gott ist groß. Größer als alles. Größer als wir. Als unser Jahrhundert. Größer als unser Leben. Größer als alles Leben. Größer als aller Streit. Als alle Welten. Alle Steine. Größer als alles in und um uns und alles andere. Gott gibt uns Raum. Gott ist der Flügelschlag. Gott ist wo wir versagen. Wo du nicht hinkommst. Gott ist im Herzen. Gott ist was wir haben. Was wir uns gönnen. Was wir tun. Was wir schreiben, was nicht. Gott ist das Gericht des Tages. Des Lichts. Der Nacht.
Gott, lass uns offen sein. Amen.
Hauptsache der Himmel ist offen.
Hauptsache du kannst hinausgehen
und den Himmel offen sehen.
Hauptsache du kannst hineingehen
und überleben
und dann hinausgehen
und den Himmel offen sehen.
Hauptsache der Himmel ist offen
und gleichzeitig etwas auf Erden.
der mond ist ganz weit weg und allein
der mond liegt ganz weit weg und allein
der mond geht ganz weit weg und allein
in seinem hof
der mond wandert ganz weit weg und allein mit seinem hof
der mond steht ganz weit weg und allein
der mond liegt ganz weit weg und allein in seinem unheimlichen hof
der mond ist ganz weit weg und allein in seinem unheimlich prächtigen hof
MW Dezember 2019
DEIN KIND SCHREIT
dein kind schreit
sie ist 15
hat als kind viel geschrien
sie schreit dich an
schimpft
wüst
wochenlang
einen monat
du bist auf dem dach
der mond erscheint
weiß und blass
unbestimmt
hinter wolken
der sonnenuntergang
rundherum
über den dächern
das licht in den fenstern
es wird nacht
das licht versinkt
das licht in den fenstern
die lichter in den fenstern erscheinen
—
wochenlang
du wachst auf in der nacht
als sie klein war
sie ist 15
du wachst auf vor 5 in der früh
schreibst ein gedicht
in deinem kopf
sie ist dein liebes kind
schreit
jeden tag mehrere male
beschimpft dich
neun mal in 10 sagst du nichts
es wird immer schlimmer
wenn du freundlich bleibst
du warst sehr viel mit ihr als sie klein war
auf dem dach
in beijing
2003 oder 2004
in den straßen
lange spaziergänge
an der hand auf den schultern
sie hat lange geschichten gesungen
erfunden
aus märchen erfunden
jedesmal anders
auf chinesisch
oder auf deutsch
englisch hat sie auch viel gesprochen
die geschichten
hast du auf deutsch und chinesisch im ohr
—
sie schreit dich an
einfach so
wochenlang
die flugzeuge steigen
alle zwei bis fünf minuten
aus dem sonnenuntergang
und fliegen nach hinten
nach schwechat
zum flughafen
heute ist es wärmer
gestern war mehr sonne
aber der wind war schwer zu ertragen
heute ist allerseelen
manchmal sind die flugzeuge laut
einmal in zehnmal
höchstens
hab ich zurückgeschimpft
oder geschrien
vor eineinhalb jahren
jetzt ist sie 17
insgesamt geht es uns gut
wir haben zwei kinder
ihr bruder ist 2005
in beijing geboren
ein flugzeug verschwindet
ein anderes steigt auf
jetzt ist es dunkel
MW 2. November 2019
THE CROSS
– For Pauluskirche in Vienna
At first I thought it hangs in the middle
Two neon tubes bright as new
There was a cross before I remember
Behind the altar just not as bright
But it was big
It’s a protestand church
Lutheran not stand-alone tucked in a house
But big inside
The cross is inside
Inside the wall behind the altar
They made it new it’s kind of nice
We came here in 2008
11 years ago
People welcomed us
We didn’t know anyone in the neighborhood
Now we love in a different place with a different church
But this here is home every time
We come back
MW November 30, 2019
IM GEDENKEN
im stillen gedenken
im kaffee kochen gedenken
im kaffee trinken gedenken
im marmeladebrot streichen gedenken
im marmeladebrot kauen gedenken
im brausen gedenken
im anziehen gedenken
im gehen gedenken
im stillen gedenken
im windel wechseln gedenken
im gedenkpostkarte schreiben gedenken
im weinen gedenken
MW Dezember 2019
DEIN ZIMMER STEHT OFFEN
dein zimmer steht offen wie eine wunde
ich weiß nicht ob irgendwer das verdient
ich weiß nicht wie lange du das geplant hast
du hast nichts gesagt
so viel aggression
es hat angefangen vor eineinhalb jahren
oder vorher was immer
alles anschreien ist schlecht
alles beleidigen
also es tut mir leid
dein zimmer steht offen wie eine wunde
niemand darf in dein zimmer
naja ab und zu
wenn dus brauchst
so wars seit du klein warst
vor eineinhalb jahren so viel aggression
du hast mich angeschrien
jeden tag mehrmals vier wochen lang
immer mehr immer lauter immer aggressiver
meistens hab ich nichts gesagt
ich: hier ist dein frühstück
du: du arschloch!
ich: hier ist dein abendessen.
du: du arschloch!
ich: hier ist dein frühstück
du: du arschloch wie kannst du so falsch freundlich sein nach unserem streit gestern!
und so weiter
immer schlimmer
vier wochen lang
wie gesagt
alles anschreien ist schlecht
alles beleidigen
auch zurückschreien
es tut mir leid
dein zimmer ist offen wie eine wunde
nach vier wochen
nach vier wochen wie gerade beschrieben
vor eineinhalb jahren
gehst du zum jugendamt
sagst ich sei aggressiv und gefährlich
die meiste zeit nachher
eineinhalb jahre
warst du weiter bei uns
dein zimmer dein bruder
dein frühstück dein abendessen
ein paar wochen bei großeltern
ferien skikurs
sonst immer bei uns
insgesamt friedlich
relativ friedlich
wie gesagt
alles anschreien ist schlecht
alles beleidigen
auch zurückschreien
es tut mir leid
dein zimmer ist offen wie eine wunde
MW Dezember 2019-12-07
EINFACH DEN MUND HALTEN
in österreich gibt es eine sendung
einfach den mund halten
in der früh wenn du aufstehst
stimmt überhaupt nicht
eigentlich sind es nur fünf minuten
in der früh wenn du aufstehst
es ist recht schön mit ein bisschen musik
so um sechs in der früh
oder vielleicht ein bisschen später
einfach zum nachbeten
stimmt überhaupt nicht
die sendung gibt es seit fünfzig jahren
oder so ähnlich
oder noch länger
jemand sagt etwas aus seinem leben
einfach zum nachbeten
stimmt überhaupt nicht
warum fällt dir das alles ein
manchmal ist es eine sehr schöne stimme
eine frau sagt etwas
du musst nicht zuhören
nur fünf minuten
dann ein bisschen musik
die passt überhaupt nicht
manchmal ist es doch wirklich schön
nur bis zu den nachrichten
manchmal willst du zuhören
einfach zum nachdenken
MW Dezember 2019
EINFACH DEN MUND HALTEN
einfach den mund halten und lügen
vielleicht lassen sie dich dann in ruhe
einfach sagen du liebst die partei
einfach sagen es war deine schuld
einfach sagen du siehst es ein
du hast falsch gehandelt
egal was sie sagen
einfach den mund halten und lügen
vielleicht ist es besser für deine familie
vielleicht gibt es ruhe für deine familie
Er hat eine Münze geworfen
um zu entscheiden
ob er an Gott glaubt
oder an Sakyamuni.
Als in Zhejiang
viele Kirchen zerstreut werden
sagt er: Amithaba!
Mein Glaube war richtig.
Und als Notre-Dame in Paris
zerstört wird in Flammen
denkt er fast im Gebet: Lieber Gott,
mein Glaube war wirklich richtig.
Und als das Wort „Gott“ aus den Grundschulbüchern
auf dem ganzen Festland gestrichen wird
sagt sein ernstes Gesicht: Oh Gott!
Mein Glaube war ganz sicher richtig.
Letzte Fassung August 2019
Übersetzt von MW im November 2019
weisst du wenn du kommst bin ich richtig gluecklich
egal ob es gut fuer mich war oder nicht
und ganz egal ob du das jetzt glaubst
aber nicht weitersagen
MW Oktober 2019
VERHEIRATET SEIN
In der Früh hab ich stundenlang
meine Hand an Deinem Gesicht
und Du schläfst einfach weiter
das Wochenende durch
MW Oktober 2019
GEDICHT
Was ist ein Gedicht?
Ein Geheimnis
Ein Geständnis
Ein Witz
Ein Bericht
Ein Musikstück
in Sprache
in Gedanken Worten und Werken
durch meine Schuld
durch meine Schuld
durch meine große Schuld
darum bitte ich die selige Jungfrau
und Gottesmutter Maria
und alle Engeln und Heiligen
meine Gedichte zu lesen
bei Gott unserm Herrn
MW Oktober 2019
JEDENFALLS
Jedenfalls das Leben geht weiter
egal was du schreibst oder nicht
solang du halt lebst
und auch nachher bild dir nix ein
solang das Leben halt weitergeht.
MW Oktober 2019
PREIS
Den Tod eines Juden
verkünden wir
und seine Auferstehung preisen wir
bis Er kommt
in Herrlichkeit
MW 6. Oktober Erntedank 2019
TAG
Die Fahrer sind die schönsten Wolken
Die Flieger schweben langsam und majestätisch
Die Sonne vergoldet die neuen Gebäude
Der Kran ganz hinten ist ein Schiff in den Lüften
Die Fassade ist fast ein Strand
Is the sky a work of art?
Is the sky a piece of work?
I guess the sky
is the biggest
artwork on earth,
the most democratic.
For most people it’s free,
always open
except when it’s closed
but even then.
It’s very distinctive.
No-one else can do it.
Except maybe on some other planet
but for us in our lifetime
for every thing or being we know
if they are on earth
we have this sky
and for most of us
it is free.
Of course it’s not harmless.
No-one can say he or she made the sky
unless you are talking to God
or your lover,
your child.
It’s the most precious thing
we know.
Take care.
Wir betreten die Große Moschee
in der Huajue-Gasse in Xi’an,
da bemerk ich erst, Frau G ist Muslima.
Sie erzählt vom Begräbnis ihres Vaters.
Ihr Mann Yi Sha und männliche Verwandte
haben ihren Vater mit sauberem Wasser gewaschen,
in ein 12 Meter langes Leintuch gewickelt und begraben.
Aber für sich wählt sie das nicht, sie will mit Yi Sha,
ihrem Han-chinesischen Mann, beisammen sein.
I have something as old as the earth,
as old as the stars.
you feel it when you feel god,
or when you miss
him or her.
some time or other
someone called it poetry.
take two in the morning,
whenever you have one.
Ich komm nach Hause
und merk meine brasilianische Schildkröte die ich ein Jahr gehabt hab ist tot.
Ihre Leiche schwimmt
mit lauter Schaffleischstücken im Becken –
das war vor ein paar Stunden ihr Mittagessen.
Das lässt mich daran denken, wie viele Dichter gestorben sind.
Diese kränkliche Schildkröte,
nach einem Jahr
voller Leiden
hat sie gelernt zu denken wie ein dekadenter Poet.
Sie wehrt sich nicht mehr,
frisst noch einmal wie ein Taotie-Monster
und streckt in der Juli-Sonne die Glieder,
schlendert in Milch und Honig
am Strand von Kanaan.
On a path in the thick grass
a naked plastic mannequin
missing half an arm. Lying there
with a firm expression
as if only at night
she can walk into the main hall
put on clothes
and take a rest.
Mindestens dreimal abgelehnt,
aber meine Ex bringt eine Torte
und gratuliert mir zum Geburtstag.
Auf der Torte
steckt ein Paar Flügel.
Soll ich senkrecht aufsteigen bis in den Himmel
oder auch wenn ich Flügel hätt komm ich nicht weg?
Ich blas die Kerzen aus,
beiß die Zähne zusammen
wünsch mir und bete
dass ich die wahre Liebe noch finde
und wieder heirate bevor ich 40 bin.
Meine Ex fragt
was ich mir gewünscht hab
ich sag
der Himmel beschütze China
bewahr uns vor Schritten wo wir wieder kippen
in die Kulturrevolution.
the danube flows
in the evening people sit in the sun
on the southwestern side
in the summer months
there are concerts on the main square
and in the cafés
the views are great from the castle
and from the liberation monument
and cemetery further up
some of the soldiers buried are women
in the summer months
the synagogue is open
as a museum
they have a nice garden
it is a functioning synagogue
all year round
the only one left
they had bigger ones
even after the war
after the holocaust
now this is the only one left
they built a freeway
interstate quality
right through the old city
it’s a functioning freeway
it’s a beautiful city
shabby in places, but proud
somehow still healing
the danube flows
vor 73 jahren hat japan kapituliert
73 jahre später ist mein sohn weggefahren nach peking zum arbeiten
meine frau sitzt im bus zum büro ich bleib allein
was koch ich mir zum mittagessen
ich komm drauf der reiskocher ist neu
kein einheimischer, ein japanischer
eigentlich ist der moderne vertauscht worden
mit einem rückständigen
ich versteh gleich im ersten moment
meine frau hat den alten unserem sohn
mitgegeben nach peking
und für uns den neuen hingestellt
eine altmodische japanische ware
soll ich sie heute an diesem tag
verwenden oder nicht?
wenn ich den kocher deshalb nicht verwende,
war ich 30 jahre für nix alltagssprachedichter
(alltagssprache: gegen symbole, chiffren, anspielungen)
also mach ich mir einen duftenden
reis mit wurst
in einem nicht demokratischen staat
ist patriotismus nichts als ein -ismus
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《点射》
在非民主国家
爱国只是主义
Yi Sha SORGE
in den ferien
geh ich mit meinem sohn
ein paarmal seinen opa besuchen
in der u-bahn haben wir unter anderem
sorge um unser land. wir glauben beide,
unsere landsleute wollen nicht genug kinder,
das wird das größte problem.
und vielleicht wehen dann auf der welt
überall grüne fahnen.
Zuo You wird Abgeordneter zur Konsultativkonferenz.
Alle beim Essen heben die Becher und prosten ihm zu.
Tang Xin sagt: “Gratulation dem neuen
Parlamentsabgeordneten!”
Zuo You lächelt nur und hebt sein Glas,
er hört nicht was die anderen sagen.
Deshalb dieses Gedicht!
ich zeig meinem sohn wu yulun
wie shaanxi-nudeln mit paprika geht.
“im ausland im supermarkt
kriegst du keine chinesischen nudeln
aber du kriegst italienische pasta
du hast italienische nudeln gern
die sind für dich schwerer zu kochen
als chinesische nudeln
aber du kannst sie genauso verwenden
ich hab in wien
für martin nudeln gemacht
er hat sie begeistert verschlungen …”
aus japan zurück
denk ich an die erfahrungen
von reisen in zwanzig ländern und so
in sechzehn jahren
jetzt will ich sagen mein heimatland
sei deppert, riesig, finster, grob, schmutzig, chaotisch, mangelhaft
aber sehr herzlich und sprühend vor leben
war das jetzt ein fehler
ist das ein verbrechen?
bin wieder kind
wir spielen verstecken
zum augenverbinden
gibts ein rotes halstuch
es ist rote seide
man sieht noch durch
die ganze welt ist rot
aber die roten leute
sind nicht gut versteckt
wir tun alle so
und spielen das spiel zu ende
egal wie oft
du sagst es stimmt nicht
es ist die wahrheit
ein grosser dichter
ist ein einfacher mensch
lebt ein einfaches leben
wie ich
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《铁打的真相》
这种真相
被搞反一亿遍
它也假不了
真大师
都像普遍人
过着平凡的生活
譬如我
2018/8
Photo by Li Haiquan
Yi Sha IM FERNGLAS
über die nachbarn
im haus gegenüber
hab ich schon geschrieben
liebe leserin, lieber leser
erinnerst du dich
die haben ein weißes kreuz
familienkirche hab ich gesagt
grad jetzt
hab ich drüben bewegung gesehen
also heb ich ein fernglas
und schau genau hin
zwei kinder springen herum
das weiße kreuz
ist eine vogelscheuche
mit gips
und weißen tüchern umwickelt
Ich wohn im Motel,
wie in Amerika.
Neben mir wohnt ein Geist, eine Frau,
singt und tanzt wie verrückt jede Nacht,
untertags ist sie ein Mann.
August 2018
Übersetzt von MW im August 2018
《梦(1332)》
我住在一家
美式汽车旅馆里
隔壁住着一个女鬼
夜夜狂歌劲舞
白天化身为男人
2018/8
Yi Sha HERBSTANKÜNDIGUNG
Wenn die Leute in Shaanxi
im Bauernkalender
hoffen auf “Herbstankündigung”
also Anfang August
auf guten Regen;
wenn der herunter ist
kommt gleich der Herbsttiger
aber beißt niemanden tot.
August 2017
Übersetzt von MW im August 2018
《立秋》
秦人指望在农历
立秋
那就真的立秋了
好雨初降
就算有秋老虎断后
也咬不死人了
(2017)
Yi Sha GESCHMACK DER MELONE
vor dem tag herbstankündigung
ess ich endlich eine
gute wassermelone
aus ningxia
als ich klein war
war eine wassermelone
ein großer luxus. einmal nur essen
soviel man wollte. ein bonus von
der arbeitseinheit der eltern.
je nach familie haben sie die melonen
im luftschutzkeller gelagert
die kühlschränke der mao-zedong-zeit
da gibt es viele geschichten
die bewegendste geschichte
als ich melonen gestohlen und dort unten
ein pärchen überrascht hab
das hab ich in einen roman eingebaut
der geburtstag von meinem vater
den ich überhaupt nicht vergessen kann
das war am 5.8. 1990
mein vater war 55
ich war in den ferien nach Beijing gefahren
zu xu jiang, sangke und anderen von unserem jahrgang
wir haben ein studentenheimzimmer besetzt
an unserer pädagogischen hochschule
ein dichtertreffen zwei wochen lang
dann bin ich zum vatergeburtstag zurück
damals war meine frau nur meine freundin
meine mutter war noch gesund
was sie gekocht hat war das allerbeste
was ich jemals gegessen hab
während des essens hat sie mich so angeschaut
als ob die ganze welt mich verwöhnen will
so wie meine frau jetzt unsern sohn
Hung Hung FLÜCHTIGE VERBRECHER
– Demonstration in Hongkong am 12. 6. 2019 gegen Auslieferung nach China
Zehntausende, wie können Gassen leer bleiben.
Die Gassen sind auch gedrängt voll.
Eine Million auf der Straße,
eine Million Wohnungen bleiben allein,
Schreie von draußen hallen darin,
wirbeln ein bisschen Staub auf.
Betten, die Nacht um Nacht müde Körper stützen
Aufgeschlagene, plötzlich verlassene Bücher
Im Eck noch einzelne, verlorene Socken
Regenschirme, von Stürmen zerbeult
Fragen sich
wo sind ihre Herren und Frauen geblieben?
Wo treiben sie sich herum?
Sind sie geflohen?
Aus der Kulturrevolution nach 1989 geflohen
Vom großen Platz auf die einsame Insel
Von einem WeChat-Konto zu einem Gesicht
Dann ist nur noch das Meer.
Wohin willst du fliehen?
Eine Million Menschen,
sind sie alle Verbrecher?
Abgesehen von ihnen, noch eine Million und noch eine Million
sind sie alle Verbrecher?
Die ihre Geschäfte, ihre Unis und Schulen, ihren Flugplatz verlassen,
und jene, die mit Gewehren und Schilden einer Million gegenüberstehen,
sind sie alle Verbrecher?
Wer hält sie mit Gewehren auf?
Jesus auf der Flucht
Allah auf der Flucht
Propheten schaffen die Flucht nicht
und werden zurück geschickt in die Kerker
Gläubige schaffen die Flucht nicht
und werden zerschnipselt im Operationssaal
Und dann noch die Vorsichtigen, die sich in ihrer Arbeit vergraben,
wie lange können sie fliehen?
Wer hat die Macht, sie zu begnadigen
für welche Verbrechen?
Wer gibt ihnen ihre Zimmer mit ein bisschen aufgewirbeltem Staub,
wer gibt ihnen ihre offenen Bücher zurück?
Und das Bett, das noch schaukelt?
Hung Hung DIE WELT IST NICHT EINGESTÜRZT – ZUR ERINNERUNG AN DIE ERSTE “GENOSS*INNEN”-EHE IN TAIWAN AM 24.5.2019
Als ein Motorrad sich in ein Elektrofahrrad verliebt hat
Als ein Riesenrad sich verliebt hat in ein Ringelspiel
Als ein Neonlicht sich verliebt hat in einen Regenbogen
Da ist die Welt nicht eingestürzt. Sondern schöner geworden.
Wenn deine Einsamkeit meine Einsamkeit tröstet
Wenn deine Zufriedenheit meine perfekt macht
Und deine Punktezahl mit meiner zusammen ergibt eine Hochzeitsreise zum Mars
Dann stürzt die Welt nicht ein. Sondern wird schöner.
Umarmt euch weiter, verachtet die Welt
Steigt gemeinsam und versinkt zusammen
Nehmt verlassene Kinder auf. Wir waren auch welche.
Wenn du eine Mandarine schälst, hat sie viele Spalten.
Aber ich will auf jeden Fall deine andere Hälfte sein.
Und die Welt stürzt nicht ein. Sondern wird schöner.
IM BILD – 江湖海 Jianghu Hai
10月 3, 2021Jianghu Hai
IM BILD
Auf einmal wisch ich auf eine Nachricht: Laos!
“am 29. 08. in Luang Prabang,
vier neue einheimische Infizierte. ”
Das sind Untertitel, im Bild: ein Mönch
legt Feuerholz nach. Der Sender der Nachricht
kommentiert auf Chinesisch:
“In den Tempeln werden nicht nur
mehr Verstorbene eingeäschert,
die Mönche und Nonnen kümmern sich um Waisenkinder,
sie helfen den Laien bei allen möglichen Sorgen.”
Ich erinnere mich an ein anderes Bild,
das hab ich in Luang Prabang
vor drei Jahren und acht Monaten selbst aufgenommen.
Es hat sich auch in mein Gedächtnis eingebrannt,
als etwas Heilsames:
Sechs junge Brüder in roten Roben,
ein schwarzer Hund, ein fremdes Mädchen in Dunkelblau
scharen sich um ein tanzendes Feuer.
Außerhalb dieses Rahmens sind noch im Bild dabei
ein Haufen Chinesen, das sind wir Dichter von NPC,
wir bringen Poesie. Heuer im Frühling aus China
sind Ärzte gekommen, mit Medikamenten, Masken und Impfungen.
1. September 2021
Übersetzt von MW am 3. Oktober 2021
《新诗典》小档案:江湖海,60后,湖南人,居广东。中国作协会员,新诗典诗人。1979年起发表诗歌、小说、散文、评论1000多首(篇)。出版个人专著20余部。作品入选100余种选本,被译为英、德、俄、法、日、韩等多种文字。获NPC李白诗歌奖金奖、亚洲诗人奖、深圳第一朗读者最佳诗人、广东有为文学奖诗歌奖、井秋峰诗歌奖年度大奖等多个奖项。
新世纪诗典11,NPC10月4日,3836首,1209人。第29个江湖海(广东)日
伊沙推荐:
整合之诗:将《新诗典》文化与当前疫年文化巧妙有效地整合在一起,令人感慨万千,疫情尚未完全控制,地球的未来莫测,我希望在未来我们想起这些出国的经历时不会说:那是《新诗典》的黄金时代。
况禹点评《新诗典》江湖海《画面》:三四年间,天地翻覆,无论是驴友,还是诗人,还是其他的人群,几乎关于生活的所有,人们都在从头适应,从头学起。剧变固然令人惆怅,但滔天疫情下,诗歌又何尝不是心灵之药呢。
黄开兵:那幅照片,我还有印象,画面很令人深刻!和平温暖,诗人诗歌;疫情死亡,医生药品……画面重叠间呈现出悲悯情怀。
Calligraphy by Huang Kaibing
黎雪梅读《新世纪诗典》之江湖海《画面》:但凡你去过某个地方,在那里留下了自己的脚印,无形中那个地方就与你有着千丝万缕的联系,那里的荣辱兴衰也会牵动着你的喜怒哀乐。诗人眼前视频中呈现的悲惨凄凉的疫情景象,与多年前狂欢美好的回忆形成鲜明的反差,令人油然而生淡淡的忧伤,两种画面的叠映中交织的是跨国之谊和诗人之情,还有隐隐作痛的担忧。巧妙的构思,情感的把控,以及文字产生的张力,都彰显出诗人卓越的诗写功力。诗的最后“今年开春之后/前往的是中国医生/他们带去药,口罩和疫苗”,我们看到的不仅是文化的输出,更有中国医生救死扶伤的人间大爱和国际主义精神,让人温暖又心安。
晏非跟读《新世纪诗典》|2021.10.3诗人江湖海《画面》
直到此刻,老挝的新冠疫情仍在持续蔓延,但总体上并不算严重。截止10月1日,老挝境外输入病例27例、本土病例437例;累计确诊病例24310例,死亡19例。这在相当程度上得益于诗人提到的中国医生,提到的药、口罩和疫苗。这首诗从现实的画面切入记忆的画面,从疫情时不时的提醒强行返回三年多前此地一派祥和的情景。这种对比是抖动的,剧烈的,也是丰富的,能看出这样一个崇尚佛教的国家对待生死的态度,以及对待人的态度。“火焰”一词既灼心,又照亮了整首诗。灾难下的火焰,一个重要使命就是超度亡灵火化遗体,因而是死亡之火、祈祷之火;记忆里的火焰,则是六个红袍少僧、一只黑狗、一个少女围簇一起舞蹈的薪火,因而是希望之火、生命之火。给诗人造成强烈视觉冲击,难以释怀的可能还有一点,那就是两种不同意义的火焰竟在同一座城市点燃!资料显示,2018年2月初,新诗典诗人专门组织过西双版纳-老挝行,其中新世纪诗典第50场,正值新诗典2500首诗之夜,就是在琅勃拉邦举行的。诗中写到的琅勃拉邦,算是老挝比较繁华的城市了。短短几年,今非昔比,物是人非,几多悲欢,令人感叹。所幸这一切,有新诗典诗人见证,这位名字里每个字都蓄满水的诗人把两个画面定格,把诗人和医生定格,显得意味深长。事实上,对于任何一个苦难中的国度,诗人和医生,天然承担着“疗愈”之职,二者皆深怀仁爱之心,二者皆有大造于世,我想,老挝的天空一定会铭记他(她)们吧。
Calligraphy by Huang Kaibing
马金山|读江湖海的诗《画面》的十一条:
1、简洁语言本身的韧性,或者说弹跳力,给诗意注入了新鲜活力的同时,更增添了它的无穷活力与独特魅力;
2、文本是诗人生命的骨头,生活的血肉,呼吸与声音,还是迷人的身材与心跳;
3、江湖海,60后,湖南人。中国作家协会会员。1979年起发表诗歌、小说、散文、评论1000多首(篇)。出版个人专著20余部。作品入选100余种选本,被译为英、德、俄、法、日、韩等多种文字。获NPC李白诗歌奖金奖、亚洲诗人奖、深圳第一朗读者最佳诗人、广东有为文学奖诗歌奖、井秋峰诗歌奖年度大奖等多个奖项。现居广东;
4、江湖海其人,充满了血性的色彩,这是2015年长安诗歌节第163场(深圳专场)的诗会上,我读了一首《两个小孔》,而受到非口语诗人极度的排斥与讥讽,却受到其仗义执言好诗时我感受到的,与此同时,通过对其日常的关注,能够感受到其对待工作就像对待诗歌一样,充满了期待与热情;
5、江湖海的诗,首先凸显出来的是高产,其次就是对个体生活与经历的呈现,既直击现场,又触动人心,并给人带来巨大惊喜的同时,还给人以强烈的力量感;
6、回到本诗,先由看到网络上的国外事物,再回到记忆里曾经所经历过的种种情景,融合于一体,构成了一幅幅色彩斑斓的世界,一切都在同一个时代,却有着不同的变换莫测的人生故事;
7、诗中从几个角度描述,以细腻的笔触呈现出独特的异域风情,并由此带来了不同的文化元素,还能够深刻感受到字里行间流露出来的善念,这不仅仅是诗的魅力,更应该是文化的胜利;
8、此诗的诗维虽然复杂,却层次分明,犹如一幅画面上的不同色块,既相互兼容,而又相对独立,这也正是本诗在诗维逻辑上,最值得珍视的部分;
9、就诗的内容而言,生动鲜活的画面,何尝不是一首诗呢,更何况带着现实的残酷与大爱和温暖;
10、本诗给予诗人的启示:“我们所经历的这个时代的一切,正在一步步成为史诗”;
11、当代之诗,情景之诗,融合之诗。
Calligraphy by Huang Kaibing
伊沙主持 | 新世纪诗典11一周联展(2021.9.26——10.2)
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